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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

„Ich fuhr an einer Stadt vorbei,
Ein Mann im Garten Früchte brach –
Und abermals nach fünfhundert Jahren
Kam ich wieder des Weges gefahren,
Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug,
Ein Schiffer warf die Netze frei – –“

„Fünfhundert Jahre?“ rief der Schiffer, „nein, nur zwanzig. Alle fünfzig Jahre kehren die großen Sturmfluthen wieder. Vor dreißig Jahren war die letzte Sturmfluth. Oland hat noch zwanzig Jahre auf der Erde zu leben.“

Da erfolgte ein Ruck, dann noch ein Stoß. Der Nautilus saß fest auf dem Meeresboden. „Jetzt geht’s ans Reiten,“ rief Petersen, und sprang in’s Wasser, welches ihm fast bis an die Hüften reichte. Auf seinen Schultern trug er uns an’s Land. Dann zogen wir, da es keinen Pfahl und keinen Baum zum Anbinden des Schooners gab, denselben vermittelst eines langen Taues mit vereinten Kräften auf’s Land.

Wir standen auf festem Boden und nahmen unsern Weg über die Wiesen nach dem Wurtdorfe. Ueberall zogen sich schmale Canäle durch die Wiesen hin, sich vielfach verzweigend. Oft waren sie so schmal, daß wir sie überspringen konnten; die breitern Canäle überschritten wir auf darüber hingelegten Baumstämmen, welche an der obern Fläche platt behauen waren. Die Friesen nennen diese Canäle „Schlote“. Sie hatten schroff abfallende Ufer, welche, völlig parallel laufend, bei ihrem Ursprunge sich in einer ganz schmalen Spitze im Grase verloren. In diese Spitze mündete dann ein anderer Schlot wiederum mit seiner Spitze, und in dieser Gestalt verbreiteten sich die Schlote über sämmtliche Wiesen, wie die Zweige eines Flußsystems. Die Schlote sind die Kinder der Ebbe und der Fluth. Zur Fluthzeit sind sie bis oben an den Rand voll Wasser; während der Ebbe laufen sie stellenweise ganz aus. Jede neue Fluth erweitert sie, und drückt die Risse nach und nach tiefer in den Boden hinein. So setzt das Meer sein Zerstörungswerk gegen die Halligen unaufhörlich von zwei Seiten fort. Während die Wellen die Ufer von außen benagen, und sie stückweis abbröckeln, höhlt es auch von unten den Boden fortwährend aus, ihn mit Hunderten von Schlotarmen umfassend. Heute wehte auf diesen Wiesen, welche der fortwährenden Zerstörung geweiht sind, eine warme Sommerluft. Aber im Herbst und Winter streichen beständig die Meeresstürme darüber hin, und täglich bedeckt sie zweimal die salzige Woge. Und doch lieben die armen Halligbewohner ihr trauriges, ödes Vaterland, wie der schweizerische Hirt seine schimmernden Schneefelder und seine eisstarrenden Gletscher, wie der Araber seine sandige Wüste und wie der Kirgise seine öde Steppe. In den Meeren Westindiens, an den Goldküsten von Guinea, an den Inseln des atlantischen Oceans, dessen Wellen er auf englischen und Hamburger Schiffen als Matrose oder als Steuermann durchfährt, überall, in den Palmenwäldern und in den Lorbeerhainen, im Duft der Lotosblumen des Ganges und an den orangengeschmückten Gestaden des mittelländischen Meeres fühlt sein Herz die schmerzliche Sehnsucht des Heimwehs; und das Heimweh führt ihn nach Jahren zurück nach seinem vom salzigen Seewasser triefenden Wohnsitz, um wieder in seinem ärmlichen Wurtdorfe zu wohnen und von Neuem den Kampf mit den mitleidslosen Wogen zu beginnen, bis eine neue, wilde Sturmnacht ihn in sein nasses Grab hinunterreißt. Was ist der Grund dieses eigenthümlichen Heimwehs? Niemand hat es bis jetzt ergründet. Es ist eins von den Geheimnissen des Menschenherzens, eins jener Räthsel, welche kein Psychologe jemals lösen wird. Auch der Zigeuner sehnt sich aus den goldgeschmückten Gemächern des Palastes nach seiner ärmlichen Hütte auf der windumrauschten Haide. Ich war nie im Stande, über den Grönländer zu lachen, der, als er in Kopenhagen am Strande stand und traurig auf das Meer blickte, wie die Wellen einen Seehund an’s Land spülten, über den Leichnam des Thieres herstürzte, es umarmte und in Thränen ausbrechend die Worte rief: „O, mein theures Vaterland!“

Die Halligmänner und Halligfrauen von Oland waren mit dem Einbringen des Heus auf einer nahe am Wurtdorf belegenen Wiese vollauf beschäftigt. Es ging dabei ganz still und ruhig zu, geschäftig rannten sie, die Heubündel in große weiße Laken gepackt auf den Köpfen, nach dem Wurtdorfe hinauf, um eiligen Laufes zurückzukommen und das Geschäft zu wiederholen. Wir hörten kein Gelächter, kein Singen, kein Gespräch; schweigend wurde die Sache abgemacht. Nur die eilig nach dem Dorfe und rückwärts trippelnden Füße zeigten an, wie wichtig hier die Zeit sei. Es schien ein warmer Tag zu werden, und im Westen thürmten sich einige verdächtige Wolkenberge auf, ein Zeichen, daß es heute noch eine Springfluth geben und das Meer über seine Ufer steigen könne. Deshalb waren die Halligbewohner so eilig in der Arbeit. Eine einzige Springfluth konnte sie um die Ernte eines Jahres bringen. „Der blanke Hans“, wie man hier das Meer nennt, ist ebenso listig, wie gewaltthätig. Deshalb besitzt man in jedem Hause eine Fluthtabelle, auf der für jeden Tag des Jahres die Stunde der Fluth und der Ebbe, sowie die außergewöhnlichen Springfluthen bezeichnet sind. Fluth und Ebbe, Wetter und Springfluthen sind hier die bewegenden Kräfte, um die Jahr aus Jahr ein sich die Beschäftigung und die Eintheilung der Zeit der Halligbewohner dreht. Oft kommt die Springfluth um Mitternacht; dann steigen sie eilig aus ihren Betten, stürzen aus den Häusern halbbekleidet auf die Wiesen und entreißen das Heu den heranstürmenden Wogen; oft schleicht sie während der Predigt heran; dann steigt ein Halligmann leise auf die Kanzeltreppe, zupft den Pfarrer am Priesterrock und flüstert: „Herr Pastor, das Wasser kommt.“ Dann hört der Pfarrer mitten in der Predigt auf und eilt an der Spitze seiner Gemeinde auf die Wiese, um das Heu zu bergen, welches eine Stunde später der Raub des Wassers gewesen sein würde. Das Heu ist ja der Haupterwerb dieser Armen, welche außerdem nur von der Wolle ihrer Schafe, von dem Verkauf ihrer Lämmer und der Butter und dem Käse leben, den ihre wenigen Kühe liefern. Und deshalb waren sie auch heute so eilig, so still und so geschäftig. Wir gingen mitten durch ihre Reihen. Sie sahen frisch und gesund aus. Die Seeluft und der Seewind auf den Halligen conserviren vortrefflich. Ich habe Frauen auf den Halligen gesehen, denen ich höchstens ein Alter von vierzig Jahren gegeben hätte, obschon sie über die Mitte der Fünfzig hinaus waren. Pferde haben sie nicht, um das Heu einzufahren; deshalb müssen sie es selbst in ihre Häuser tragen. Mancher Halligbewohner hat niemals ein Pferd gesehen, wie die Einwohner von Venedig. Auf den größern Halligen werden während der Heuernte einige Pferde vom Festlande eingeführt, welche dann nach Beendigung derselben zurückgebracht werden.

(Schluß folgt.)




Die Zukunfts-Medicin.

Wer heilt? Arznei oder Natur?

Menschheit! willst Du denn wirklich niemals klug werden und Dich nie aus den Fesseln des Aberglaubens, nämlich in Bezug auf Dein Gesund- und Kranksein, erlösen lassen? Willst Du denn wirklich Deinen Verstand, der sich doch sonst nicht gar so schwach und erbärmlich zeigt, in dieser Beziehung niemals richtig gebrauchen lernen?

Du fragst ganz ernsthaft in Deiner Kindischheit: „aber warum hat denn der liebe Gott die Arzneimittel erschaffen, wenn sie nicht gebraucht werden sollten?“ Kannst Du Dir denn wirklich nicht selbst darauf antworten: der Mensch hat ja erst jene große Menge theils pflanzlicher und thierischer, theils unorganischer (salziger, metallischer, steiniger, erdiger, gasförmiger) Schöpfungsproducte zu Arzneimitteln gestempelt und künstlich zugerichtet. Und daß sich dies wirklich so verhält, das geht recht deutlich daraus hervor, daß die Anzahl derselben tagtäglich in Folge der Entdeckungssucht mittelsüchtiger Heilkünstler und geldsüchtiger Charlatane fortwährend so wächst, daß bald kein einziger Gegenstand in irgend einem Welttheile mehr von der Heilverpflichtung verschont bleiben wird.

Oder meinst Du wirklich, daß der liebe Gott Stoffe zum Heilen von Krankheiten erschaffen hat, wie: gebrannte Schuhsohlen, pulverisirte Edelsteine und Mumien, Pfauendreck und weißen Hundekoth, gedörrte Bienen, Kröten und Schlangen, getrocknete Regenwürmer, geraspeltn Menschenhirnschädel und Rhinoceroshorn, Eselsklaue und Wildschweinszahn, Hechtszähne und Aalraupen-Rückgräten;


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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_151.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)