verschiedene: Die Gartenlaube (1862) | |
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No. 11. | 1862. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Dies Alles hatte ein plötzliches Ende. An meinem vierzehnten
Geburtstag kündigte mein Vater mir an, daß ich die nächsten
drei Jahre bis nach meiner Einsegnung, die dort erfolgen solle, bei
der Tante in einer großen Stadt sein würde. – Und so geschah
es. Ich war wieder, wie in den ersten Jahren meiner Kindheit,
auf den Raum einiger Zimmer beschränkt, ohne Wald, ohne Garten,
ohne ein Plätzchen, wo ich meine Träume spinnen konnte.
Ich sollte Alles lernen, was ich bisher nicht gelernt hatte, ich
wurde dressirt von innen und außen, und die Tante, unter deren
Augen ich jetzt mein ganzes Leben führte, war eine strenge Frau,
die von den gesetzlichen Formen kein Titelchen herunterließ. Der
Einzige, der etwas über sie vermochte, war vielleicht der kleine
Rudolph, dessen allzu leidenschaftliche Anhänglichkeit mich gegenwärtig
zu beunruhigen beginnt. Mit ihm vereint, gelang es mitunter,
uns zu einer gemeinschaftlichen Wanderung in die Anlagen
vor der Stadt los zu bitten. – Der Aufenthalt wurde mir erst
erträglicher, als der Musikunterricht mir größere Theilnahme abgewann
und als ich durch Vermittelung meines Lehrers die Erlaubniß
erhielt, einem Gesangverein beizutreten. Dann und wann
kam ein kurzer förmlicher Brief meines Vaters, der mich ermahnte,
in Allem der Tante Folge zu leisten, oder ein längerer des Oheims,
der kaum etwas Anderes enthielt, als das Gegentheil, bisweilen
freilich auch einen Bericht über Schloß und Garten, der mich mit
Heimweh nach diesen einsamen Orten erfüllte. – Endlich war der
dreijährige Zeitraum verflossen; Tante Ursula und mein Vater
kamen um mich nach Hause zu holen, und Rudolph’s Mutter übergab
mich ihnen als ein nicht ganz mißlungenes Werk ihrer Erziehung.
Auch mein Bruder Kuno hatte die Reise mitgemacht, er
war gewachsen, aber er sah blaß und leidend aus, und es schnitt
mir in’s Herz, als bei der Ankunft eine kleine Krücke mit ihm
vom Wagen gehoben wurde. Wir waren bald vertraute Freunde;
auf dem Heimwege saß er zwischen mir und der Tante und ließ
meine Hand nicht aus der seinen.
An einem klaren April-Nachmittage langten wir zu Hause an. Schon als wir über die Brücke in den Hof einfuhren, sah ich den Oheim neben dem Thurme in der Thür stehen. Er war barhäuptig, wie gewöhnlich; sein volles graues Haar schien in der Zwischenzeit nicht bleicher geworden. „Nun, da bist Du ja!“ sagte er trocken und reichte mir die Hand. Als wir hier im Wohnzimmer waren und ich mich aus meinen Umhüllungen herausgeschält hatte, ließ er einen mißtrauischen Blick über meine modische Kleidung gleiten. „Wie willst Du denn mit den Fahnen in die Bel-Etage Deines Gartenschlosses hinaufkommen?“ sagte er, indem er den Saum meiner weiten Aermel mit dem Fingerspitzen faßte, „Und ich hab’ es eben expreß für Dich putzen lassen.“
Aber seine Besorgniß war überflüssig; das Wesen, das in den Kleidern mit Volants und Spitzen steckte, war dem Kerne nach kein anderes, als das in den knappen Kinderkleidern. Es ließ mir keine Ruhe; mit Entzücken lief ich in den Garten, wo eben das junge Grün an den Buchenhecken hervorsprang, durch das Hinterpförtchen in den Tannenwald und von dort wieder zurück in’s Haus. Ich flog die breite Treppe hinauf; es kam mir Alles so groß und luftig vor. Dann begrüßte ich die altfränkischen Herren und Damen im Rittersaal; aber ich trat unwillkürlich leiser auf, es war mir doch fast unheimlich, daß sie nach so langer Zeit noch ebenso wie sonst mit ihren grellen Augen in den Saal hinein schauten. Droben über der Thür neben den kleinen Grafenkindern stand noch immer der Knabe mit dem Sperling; aber mein Herz blieb ruhig. Ich ging achtlos, und ohne seinen trotzigen Blick zu erwidern, unter dem Bilde durch in das Zimmer des Oheims. Da saß er wieder wie sonst in seinem alten Lehnstuhl unter seinen Büchern und seinem lebenden und todten Gethier; Don Pedro, der lahme Staarmatz, krächzte noch ganz in alter Weise, als ich den Finger durch die Stangen seines Käfigs steckte, und auch draußen vor dem Fenster saß wieder ein Käuzchen in einem großen hölzernen Bauer und schaute träumend in den Tag. Der Oheim hatte seine Bücher fortgelegt, und während ich die bekannten Dinge eines nach dem andern wieder begrüßte, fühlte ich bald, wie seine grauen Augen mit der alten Innigkeit auf mich gerichtet waren.
Als ich nach einer Weile in die Wohnstube hinabkam, saß Tante Ursula schon wieder strickend in ihrer Fensternische, und nebenan in seinem Zimmer sah ich durch die offene Thür meinen Vater, über seine Correspondenzen und Zeitungen gebückt. So war denn Alles noch beim Alten; nur eine Vermehrung unserer Hausgenossenschaft stand bevor, da noch am selben Abend ein junger Mann erwartet wurde, der von meinem Vater auf die Empfehlung eines Gymnasial-Directors als Lehrer für den kleinen Kuno engagirt war. Er hatte Philologie und Geschichte studirt und sich nach einem längern Aufenthalt in Italien dem akademischen Lehrfach widmen wollen, war aber durch äußere Umstände zu einer vorläufigen Annahme dieser Privatstellung genöthigt worden. Außer seinen sonstigen Kenntnissen sollte er, was besonders mich interessiren mußte, ein durchgebildeter Klavierspieler sein.
Ich sah ihn zuerst am folgenden Tage, da er unten an der Mittagstafel neben seinem Zögling saß. Das blasse Gesicht mit den raschblickenden Augen kam mir bekannt vor; aber ich sann
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_161.jpg&oldid=- (Version vom 18.1.2021)