Seite:Die Gartenlaube (1862) 164.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

„Und das mein Kind,“ sprach er weiter, indem er jedes seiner Worte einzeln betonte, „ist die Regel der Natur. – – Liebe ist nichts, als die Angst des sterblichen Menschen vor dem Alleinsein.“

Ich antwortete nicht, mir war plötzlich, als wäre der Boden unter meinen Füßen fortgezogen worden. Der Ausdruck meines Gesichts mochte das verrathen haben; denn auch mein Oheim schien über die Wirkung seiner Worte bestürzt zu werden. „Nun, nun,“ sagte er, indem er mich sanft in seinen Arm nahm, „es mag vielleicht so sein; nur etwas anders doch, als es dort in Deinem Buche steht.“ – –

Aber die Worte wühlten in mir fort; mein Herz hatte in der Einsamkeit so oft nach Liebe geschrieen, während ich in den weiten Gemächern des Hauses umherstrich, wo nie die Hand einer Mutter nach der meinen langte. Um die Mittagszeit sah ich die Leute von der Feldarbeit zurückkehren. Mir war, als müsse der Ausdruck der Trostlosigkeit auf allen Gesichtern zu lesen sein; aber sie schlenderten wie gewöhnlich gleichgültig und lachend über den Hof.

Am Nachmittage, als müßte ich ihn zwingen weiter zu reden, trieb es mich wieder nach dem Zimmer des Oheims. Die Thür stand offen, aber er selbst war nicht dort. – Mitten auf der Diele lag eine schwarze Katze, eine gefangene Maus zwischen den Krallen, die sich in der Nachmittagsstille hervorgewagt haben mochte. Ich blieb auf der Schwelle stehen und schaute grübelnd zu. Die Katze begann ihr Spiel zu treiben; sie zog die Krallen ein, und die Maus rannte hurtig über den Estrich und an den Wänden entlang. Aber die grünen glimmenden Augen hatten sie nicht losgelassen; ein heimliches Spannen der Muskeln, ein Satz-, und wieder lag das Raubthier da, mit dem glänzenden Schwanz den Boden fegend, die gefangene Maus vorsichtig mit den scharfen Zähnen fassend. Sie war noch nicht aufgelegt, ein Ende zu machen; das Spiel begann von Neuem. Manchmal, wenn sie die kleine entrinnende Creatur immer wieder mit der zierlich gekrümmten Pfote an sich riß, wollte mich fast das Mitleid überwältigen; aber ein Gefühl, halb Trotz, halb Neugier, hielt mich jedesmal zurück.

Während ich so vor mir hinbrütend dastand, hörte ich die gegenüberliegende Thür gehen, indeß die Katze mit ihrem noch lebenden Opfer davon sprang. „Sie, gnädiges Fräulein!“ sagte eine jugendliche Stimme; und als ich aufblickte, sah ich Arnold vor mir stehen, der seit einiger Zeit mit dein O«heim viel verkehrte. Da ich ihm nichts erwiderte, so machte er eine Bewegung, als wolle er sich entfernen; plötzlich aber, als habe er auf meinem Antlitz die Hülflosigkeit meines Innern gelesen, zögerte er wieder und sagte fast demüthig: „Kann ich Ihnen in irgend etwas dienen, Fräulein Anna?“

Es war ein Ausdruck in seinen Augen, der mich reden machte. Ich trat an den Tisch und zeigte ihm das Spannbret des Oheims, auf welchem noch der schwarze Käfer steckte. „Befreien Sie mich von dem,“ sagte ich, „und – von der schwarzen Katze!“ Und als er mich zweifelnd ansah, erzählte ich ihm, was mir am Vormittage hier geschehen und was soeben vor meinen Augen vorgegangen war.

Er hörte mich ruhig an. „Und nun?“ fragte er, als ich zu Ende war.

„Ich habe bisher noch immer den Finger des lieben Gottes in meiner Hand gehalten,“ sagte ich schüchtern.

Seine Augen ruhten eine Weile wie prüfend auf mir. Dann sagte er leise: „Es giebt noch einen andern Gott.“

„Aber der ist unbegreiflich?“

Ein mildes Lächeln glitt über sein Antlitz. „Das sind noch die Kinderhände, die nach den Sternen langen.“ – Er stand einige Augenblicke in Nachdenken verloren; dann sagte er: „In der Bibel steht ein Wort: So Ihr mich von ganzem Herzen suchet, so will ich mich finden lassen! – Aber sie scheinen es nicht zu verstehen; sie begnügen sich mit dem, was jene vor Jahrtausenden gefunden oder zu finden glaubten.“ – Und nun begann er mit schonender Hand die Trümmer des Kinder-Wunders hinweg zu räumen, das über mir zusammengebrochen war; und indem er bald ein Geheimniß in einen geläufigen Begriff des Alterthums auflöste, bald das höchste Sittengesetz mir in den Schriften desselben vorgezeichnet wies, lenkte er allmählich meinen Blick in die Tiefe. Ich sah den Baum des Menschengeschlechts heraufsteigen, Trieb um Trieb, in naturwüchsiger ruhiger Entfaltung, ohne ein anderes Wunder, als das der ungeheuern Weltschöpfung, in welchem seine Wurzeln lagen.

Die Begeisterung hatte seine Wangen geröthet, seine Augen glänzten, ich horchte regungslos auf diese Worte die wie Thautropfen in meine durstige Seele fielen. Da, als ich zufällig aufblickte, sah ich meinen Oheim an dem gegenüberliegenden Fenster stehen, scheinbar an den Käfigen seiner Vögel beschäftigt; als aber jetzt auch Arnold den Kopf zu ihm hinwandte, hob er drohend den Finger. „Wenn das meine brüderliche Excellenz wüßte!“ sagte er. „Steht denn der Unterricht auch in dem allerhöchst genehmigten Stundenplan? – Nun, nun,“ fuhr er lächelnd fort, „ich werde das nicht verrathen!“ Dann trat er an den Tisch, und indem er mit einer gewissen Feierlichkeit seine Hand über die darauf liegenden Werke der neueren Naturforscher hingleiten ließ, sagte er halblaut wie zu sich selber: „Das sind die Männer, die ihn suchen, von denen er sich wird finden lassen; aber der Weg ist lang und mühsam, und führt oftmals in die Irre.“ – – –

Ich gedenke noch, wie dieser Tag sich neigte. – Das Abendroth leuchtete an den Wänden der Wohnstube; mein kleiner Bruder, der an dem Tischchen in der Fensternische saß und über den Hof in den Garten hinausblickte, wollte noch gern einmal in’s Freie, aber ich und der liebe Arnold sollten mit. Da mein Vater auswärts war, so ließ die Tante sich bereden. Nachdem Arnold von seinem Zimmer herabgekommen, packten wir den Knaben in sein Rollstühlchen und ließen es durch den Diener in den Garten bringen. Aber dann durfte wiederum Niemand anfassen, als Arnold und ich, und so schoben wir denn, jeder mit einer Hand, das kleine Gefährte in der breiten Lindenallee auf und ab. Die Tante mit ihrem Filettüchlein um den Kopf ging nebenher und zog mitunter das Mäntelchen dichter um die Füße des Knaben. Aber kaum ein Wort wurde gewechselt; es war still bis in die weiteste Ferne; nur mitunter sank leise ein Blatt aus dem Gezweig zur Erde, und oben über den Wipfeln war das stumme ruhelose Blitzen der Sterne. Das Kind saß zusammengesunken und träumend in seinen weichen Kissen, nur einmal richtete es sich auf und rief: „Arnold, Anna! Da flog ein Goldkäferchen, ganz oben bei den Sternen!“

„Das war eine Sternschnuppe, mein Kind,“ sagte Tante Ursula.

Ich sah, wie Arnold den Kopf zu mir wandte, aber wir sprachen nicht, wir fühlten, glaub’ ich, Beide, daß dieselben Gedanken uns bewegten. Als wir bald darauf mit dem schlafenden Kinde in das Haus zurückgekehrt waren, stand ich noch lange am Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Es war ein Gefühl ruhigen Glückes in mir; ich weiß nicht, war es die neue bescheidenere Gottesverehrung, die jetzt in meinem Herzen Raum erhielt, oder gehörte es mehr der Erde an, die mir, wie lange nicht, so hold erschinen war.

(Schluß folgt.)


Johann Gottlieb Fichte.
Von Von Johannes Scherr..
(Schluß.)

So viel war klar, Fichte hatte nicht die kleinste Ader weder von einem Hofrath noch von Einem, der es werden wollte. Aber zum Ruhme der deutschen Regierungen von damals muß gesagt werden, daß es wenigstens etliche gab, welche bei Berufungen akademischer Lehrer das Vorhandensein der Hofrathsader nicht als conditio sine qua non statuirten. Zu Ausgang des Jahres 1793 erhielt nämlich Fichte einen Ruf nach Jena als Professor der Philosophie „supernumerarius“ an die Stelle des nach Kiel berufenen Reinhold. Daß er den Ruf annahm, erregte in Jena bei Männiglich große Freude, nur nicht beim dortigen professor numerarius pilosophiae. Wie weltbekannt sind, die professores ordinarii pilosophiae wirklich meist sehr ordentliche, d. h. sehr

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_164.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)