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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

den Platz Ludwig’s des Fünfzehnten passirte, um sich nach der im Faubourg St. Germain belegenen Wohnung ihres Sohnes zu begeben, auf dem Platze in großer Anzahl und in aufgeregter Stimmung versammelt.

An einer Stelle, an welcher ihr Wagen halten mußte, weil man in dem Gewühle sein Herankommen nicht beachtet hatte, bog Conradine sich heraus, um zu erfahren, was sich da begeben.

„Was geht hier vor?“ fragte sie den Nächststehenden, einen Mann in guter bürgerlicher Kleidung. Er sah sie verwundert an. „Woher kommen Sie, Madame,“ entgegnete er, „daß Sie nicht wissen, was heute geschehen ist? Sie haben Lafayette, den Verräther, freigesprochen, und es ist Zeit, daß man solchen Freisprechungen ein Ende macht!“

Ulrich war nicht zu Hause, als seine Mutter bei ihm anlangte. Er hatte den Brief nicht erhalten, in welchem sie ihm ihre Absicht, nach Paris zu kommen, mitgetheilt, es war also keine Vorkehrung irgend einer Art für sie getroffen worden. Nur der alte Diener, welcher Ulrich begleitet hatte, seit er zuerst auf Reisen gegangen, empfing seine Herrin; aber er wußte weder zu sagen, wohin sich Ulrich begeben, noch wann er wiederkehren würde. Auf Conradinens Frage, ob der Junker wohl sei, antwortete der Diener bejahend, indeß er fügte achselzuckend hinzu: „So wohl, als Einer es hier bleiben kann, wo Alles drunter und drüber geht. Unser Junker ist auch nicht mehr derselbe. Er hat keine Ruhe mehr. Bald ist er hier, bald dort. In der letzten Woche ist er ein paar Mal mitten in der Nacht noch aufgestanden und fortgegangen, wenn es unruhig in den Straßen war. Heute ist der Junker seit dem frühen Morgen nicht nach Hause gekommen und, gnädige Frau verzeihen, daß ich dies sage, zu ihren gräflichen Gnaden dem Herrn Onkel und der Frau Tante ist er seit Jahr und Tag nicht mehr gegangen! Die gnädige Frau werden auch finden, daß unser Junker nicht mehr seine rothen Backen und seine hellen Augen hat, wie sonst!“

Erst nach Mitternacht kehrte Ulrich heim, und seine Mutter mußte sich überzeugen, daß der alte Diener wahr gesprochen. Ulrich war sehr verändert. Seine Gestalt war noch fester und männlicher, aber sein Antlitz war schwermüthig geworden, seine Wangen waren bleich und in seinen Augen leuchtete eine dunkle Gluth, die sich hier und da unter den schmerzlich und müde herabsinkenden Lidern verbarg. Es war unverkennbar, daß er viel gelitten, und daß ihm neben der Ruhe der Seele auch körperlich die nöthige Ruhe gefehlt hatte.

Sie hatten viel mit einander zu sprechen, die Mutter und der Sohn, und der Morgen dämmerte herauf, als die Freifrau sich ermüdet für eine Stunde auf des Sohnes Lager legte, der in einem Sessel an ihrer Seite ruhte. Er nannte es den ersten erquickenden Schlaf, den er seit lange genossen hatte, als er, von der Helle des Tages erweckt, mit erleichtertem Herzen in das ernste, klare Auge seiner Mutter schaute.

Als Couradine am Arme ihres Sohnes die Straße betrat, um sich zu Fuß nach dem Hotel ihres Bruders zu begeben, fanden sie es auf ihrem Wege ruhig. Die Stadt war stiller als seit langer Zeit. Wie ein Löwe, ehe er sich zu gewaltigem Sprunge entschließt, einen Schritt zurückweicht und, Kraft zum Ansatz sammelnd, schweigend daliegt, so ruhte die Volksmasse von Paris am Morgen des neunten August.

Man wußte, was in der gesetzgebenden Versammlung vorging, man kannte den Bericht im Voraus, welchen der Maire von Paris an dem Tage verlesen lassen würde, denn die Insurrection, vor der er warnen zu wollen schien, war bereits eine beschlossene Sache. Die Minister verlangten in der Versammlung den Schutz derselben für den König, und in dem Club der Cordeliers, in welchem die Marseiller Conföderirten sich befanden, beschuldigte Danton Ludwig den Sechszehnten, daß er eben an diesem Tag und in dieser Nacht die Hauptstadt mit Feuer und Schwert zum Gehorsam und in seine Gewalt zu bringen beabsichtige. Er erinnerte daran, daß die fremden Alliirten in ihren Manifesten geschworen, in Paris keinen Stein auf dem andern zu lassen; und der Vorsatz des Volkes, keinen Stein des Tuilerien-Schlosses auf dem andern zu lassen, war die Folge jener Rede. Jedermann wußte es, Jeder mußte sich es sagen, man stand vor einer schweren Entscheidung, vor dem Beginn des furchtbaren letzten Kampfes, es handelte sich um Erhaltung oder Untergang der Monarchie. Und neben diesem die Welt bewegenden Vorgänge, um welche Gefahr und welche Verluste hatte der Einzelne sich zu sorgen!

Als die Freifrau in dem Hotel des Grafen erschien, fand sie Veronika nicht zu Hause. Ihre Unruhe hatte sie angetrieben, nach dem Schlosse zu fahren, wo die Schweizergarde ihren Dienst that. Die Oberofficiere kamen schon seit Tagen kaum zur Ruhe, denn man hatte eine Abtheilung der Schweizer in die Normandie geschickt und sie nicht zurückberufen, weil die gesetzgebende Versammlung überhaupt die Entfernung der Schweizer gefordert hatte. Es waren ihrer also kaum noch tausend in Paris, der Haß der ganzen Bevölkerung war gegen sie gerichtet, und der Graf war bereits seit mehreren Tagen nicht in seinem Hause gewesen. Die wiederholten Aufläufe hatten ihn in den Tuilerien festgehalten. Jede Stunde konnte einen Kampf bringen, konnte unter den obwaltenden Verhältnissen die letzte für ihn werden, und Veronika’s ganze Seele war darauf gestellt, ihn zu sehen, ihn zu sprechen. Indeß die Posten im äußeren Umkreis des Schlosses waren nicht von den Schweizern, sondern von den Nationalgarden besetzt, und nach allen ihren vergeblichen Versuchen, Einlaß in das Schloß zu erhalten, kehrte die Gräfin, ohne ihren Zweck erreicht zu haben, in ihr Hotel zurück.

Bleich, erschöpft, im Innersten verzagt, so trat sie in ihr Zimmer und mit einem Aufschrei, der das ganze Elend ihres Herzens offenbarte, sank sie, als sie die Freifrau so unerwartet vor sich sah, der Freundin, der Schwester ihres Gatten in die Arme.

Daß Ulrich, der sie so lange gemieden, jetzt wieder in ihr Haus gekommen war, schien ihr nicht aufzufallen. Sie hatte nur einen Gedanken, die Gefahr, welche dem Grafen drohte, nur ein Verlangen – Kunde zu erhalten von dem, was in der Stadt geschah, was für ihn zu fürchten war.

Ulrich ging und kam. Er vergaß sich selbst, vergaß die zornige Abneigung, welche er gegen den Grafen hegte, es war kein Tag, an welchem ein Mann wie er an sich selber denken konnte. Spät am Abende klopfte es an das äußere Thor des Hotels. Veronika sprang empor, es war der Graf, sie kannte seine Art und Weise. Das Aussprechen ihres lang verhaltenen Grames, die vertrauten Unterredungen mit der Freifrau hatten das Herz der Gräfin aufgeregt, die Erinnerung an die Lage des Glückes, welche sie als Braut und als Neuvermählte unter Conradinens Augen verlebt, hatte ihr wieder auf’s Neue das volle Bewußtsein ihrer großen Liebe für den Grafen gegeben, und als ob Nichts sie getrennt hätte alle diese Jahre her, so eilte sie ihm entgegen.

„O, Gott Lob, daß Du da bist, daß Du lebst!“ rief sie aus, da er in die Halle eintrat, und warf sich ihm an die Brust.

Der Graf schloß sie in seine Arme, das war lange nicht geschehen. „Armes Weib!“ sagte er, „Du freust Dich, daß ich lebe, und ich habe Dir doch keine Freuden gebracht!“

Er war erhitzt von raschem Gange, und eine tiefe Schwermuth umhüllte sein Gesicht; aber Veronika bemerkte das kaum. Der Ton der Güte, welcher von seinen Lippen erklang, die Worte, welche er zu ihr sprach, nahmen ihren ganzen Sinn gefangen, und die Hoffnung, daß jener Augenblick der Herzenswandlung gekommen sei, auf den sie sich in den Zeiten ihres bittersten Schmerzes doch noch oft vertröstet hatte, der Gedanke, daß die Stunde der Gefahr ihn in sein Inneres habe blicken lassen, und daß er erkannt habe, was er an der Liebe seiner Gattin besitze, schwellte ihre Seele mit Freude und Zuversicht.

„Komm! komm!“ rief sie, indem sie ihn mit zärtlicher Hast nach dem Saale leitete, in welchem die Freifrau und deren Sohn sich aufhielten, „komm und sieh es selber, wie in guter Stunde uns alles Gute wiederkehrt.“

Die Thüren waren offen geblieben, als Veronika dem Grafen entgegengeeilt war, und mit den nächsten Schritten vorwärts sah der Graf seine Schwester und seinen Neffen vor sich. Seine Wange erbleichte, als er sie gewahrte, er war seiner eigenen Empfindungen nicht sicher, in so raschem Wechsel lösten sie einander ab; indeß er faßte sich gewaltsam, und Beiden, der Freifrau und Ulrich, die Hände reichend, sprach er: „Ihr seid, wie Freunde in der Noth, zu rechter Zeit, gekommen!“

(Fortsetzung folgt.)
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