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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

„ich habe Deine Thränen nicht verdient, und es handelt sich heut’ um Größeres, als um unser Leben und um unsern eigenen Schmerz.“

Mit einer Ruhe, wie er sie lange nicht mehr besessen hatte, sprach er von der Stimmung des Volkes, von der Lage, in welcher der König und mit ihm die Monarchie sich befanden, von den Mitteln der Vertheidigung, welche man besaß, und von der festen Entschlossenheit der Schweizergarden, bei dem Könige auszuharren bis auf den letzten Mann. Die Seinen waren ernst und ergriffen wie er. Die Größe und Bedeutung des Augenblickes hob Jeden über sich selbst empor.

Noch während er sprach, hörte man Trommelwirbel aus der Ferne. Der Graf richtete sich horchend empor; Veronika erbebte, als sie sah, wie er seine Augen nach dem Tische richtete, auf den er Hut und Degen hingelegt. „Ich muß fort!“ sagte er. Veronika trat noch einmal an ihn heran. Mit heißer Bitte beschwor sie ihn, ihr Nachricht von sich zu senden, und er sagte ihr dies zu.

Dann wendete er sich zu Ulrich. „Das Packet, das ich Dir gegeben habe, enthält mein Testament. Falls mir ein Menschliches begegnen sollte, sorge für seine Ausführung und sorge für Veronika!“ – Er nahm ihre Hand, legte sie in Ulrich’s Rechte und wiederholte: „Dir vertraue ich ihre Zukunft an, mache sie glücklicher als ich!“

„Aber woher diese ungewöhnliche Sorge, mein Onkel?“ rief Ulrich sich ermannend, weil er einen Anhalt suchen mußte gegen die widersprechenden Gefühle, die in ihm auf- und niederwogten.

„Woher diese ungewöhnliche Traurigkeit, meine Mutter? Muth, Veronika! Muth, meine Mutter! laßt Euch nicht niederwerfen. Ist’s doch des Onkels Pflicht, vorsorglich alle Möglichkeiten zu erwägen – auch jene Möglichkeit, die hoffentlich nicht eintrifft! Ihr hört’s ja! der Onkel sagt’s Euch, daß seine Truppen, daß die Nationalgarden vom besten Sinne beseelt sind, daß die Anhänger des Königs, Jünglinge, Männer und Greise der alten Adelsgeschlechter sich um den König schaaren, daß im Volke vielfache Meinungsverschiedenheit die Kraft zersplittert. Muth, Veronika! er wird wiederkehren – wer weiß, ob es zu neuem Kampfe kommt!“

Veronika versuchte sich zu beherrschen. Sie hörte den Worten Ulrich’s mit jener Inbrunst zu, die nichts Besseres verlangt, als glauben zu können; auch die Freifrau war ihrer Bewegung Meister geworden. Der Graf stand an dem Seitentische und steckte seinen Degen an, während seine Schwester leise zu ihm sprach.

Inzwischen war es dunkel geworden, die Diener brachten die Lichter in das Zimmer und setzten einen Imbiß auf den Tisch. Veronika forderte den Grafen auf, Etwas zu genießen, er willfahrte ihr. Sie selbst schenkte ihm den Wein ein, Ulrich füllte die andern Gläser, reichte sie der Mutter und Veronika hin, und sein Glas erhebend und es gegen das des Grafen anklingend, sagte er: „Auf viel frohe Mahle in unsern Bergen!“

Der Graf wollte auf den Ton eingehen, den sein Neffe angab. Er stieß mit ihm an und nöthigte die Frauen das Gleiche zu thun. In demselben Momente ertönte der Wirbel der Lärmtrommel lauter und näher als vorher, das erste Sturmläuten von der Isle de Saint Louis schallte in das Faubourg Saint Germain herüber, und sei es, daß der Schrecken Veronika’s Hand zu einem zu heftigen Stoße bewegte, aber der Ton klang schrill, als sie mit dem Grafen anstieß, und sein Glas zerbrach in seiner Hand.

Er setzte es achtlos nieder, es war seines Bleibens nicht mehr. Er umarmte Veronika, umarmte seine Schwester und eilte fort. Ulrich begleitete ihn.

Veronika sank auf ihre Kniee nieder, und während draußen die Kanonen auf dem Straßenpflaster rasselnd vorüber zu fahren begannen, hob ihre Seele sich in heißem Gebet zu Gott empor, Schutz hernieder flehend auf den Mann, dessen ganzes Verschulden gegen sie für ihr Herz getilgt war durch die eben erlebte Stunde.


Der folgende Morgen brachte eines der großen Ereignisse in dem Fortschritt der Revolution. Es war der 10. August, der Tag, an welchem das Volk die Tuilerien belagerte und stürmte, der Tag, an welchem der König sich mit seiner Familie in den Schutz der gesetzgebenden Versammlung begab.

Der leidenschaftlichste Bürgerkrieg war mit Tagesanbruch innerhalb der Hauptstadt entbrannt, rund um die Tuilerien und bald auch in ihnen wüthete der Kampf. Die Schweizer fochten wie die Löwen. Ein Theil von ihnen war dem Könige nach der gesetzgebenden Versammlung gefolgt, die Uebrigen und Graf Joseph an ihrer Spitze waren im Schlosse zurück geblieben, den Angreifern die Stirne zu bieten.

Im Hotel des Grafen hatte man die Nacht in banger Angst hinschwinden sehen und Noth gehabt, die Gräfin im Hause fest zu halten. Endlich, als der Tag schon hell am Himmel stand, hatte sie sich bewegen lassen, eine Stunde der Ruhe zu pflegen. Wider alles Erwarten schien sie fest eingeschlafen zu sein, denn sie blieb lange aus. Man ging nach ihr zu sehen und fand ihr Zimmer leer. Es war kein Zweifel, wohin sie sich gewendet hatte, und Ulrich folgte ihr nach.

Durch die Schaaren der Kämpfenden, zwischen den Kanonen, die, in den Höfen aufgepflanzt, ihr Feuer einzustellen begannen, seit der König das Schloß verlassen, bahnte der Freiherr sich seinen Weg. Es brannte an verschiedenen Stellen im Schlosse, die Verwirrung war grenzenlos. Hier versuchte man es, dem Feuer Einhalt zu thun, dort versuchte man Feuer anzulegen, hier zogen die Nationalgarden, die dem Könige treu geblieben waren, von den Tuilerien ab, da sie die Weisung bekommen, den Kampf gegen das Volk nicht fortzuführen, dort stürmten die Bataillone der Nationalgarde, welche mit den Föderirten und den Pikenmännern gemeinsame Sache gemacht hatten, auf die Abziehenden ein. Hier trug man einen der greisen Royalisten, die sich zur Vertheidigung des Königs um denselben gesammelt hatten, schwer verwundet auf Seitenwegen davon, um ihn der Wuth des Volkes zu entziehen; dort eilten Hofchargen und Adjutanten des Königs, von Steinwürfen verfolgt, von Kugeln bedroht, in das Schloß, um Nachrichten einzuziehen und einander widersprechende Befehle zu überbringen; und mitten in dem unheilvollsten Kampfe, mitten im wüthenden Handgemenge der streitenden Parteien suchten die Augen, suchte das angstvoll schlagende Herz des Freiherrn ein junges, edles Weib, das Weib, das er liebte von seiner Kindheit an, deren Schicksal ihr Gatte, sein nächster Blutsverwandter, in seine Hand gelegt.

Er hatte die Treppe glücklich erreicht, welche nach dem von Ludwig dem Sechszehnten bewohnten Theil des Schlosses führte. Durch den Qualm, der aus dem brennenden Seitenflügel durch alle Räume drang, in seinem Fortschreiten aufgehalten, gelangte er nur auf weiten Umwegen und vielfach irrend an die Stelle, an welcher, wie er erfahren, die Schweizer gefochten. Todte, Verwundete und Sterbende zeigten ihm die Richtung an, welche er einzuschlagen hatte. Oben an: Eingang des Saales, auf den die große Treppe mündet, lagen sie dicht über einander, hingemäht wie die hohen Garben eines reichen Feldes, die Vertheidiger des Königs und des Thrones.

Seitwärts, nur wenig Schritte von dem Leichenhügel der Tapfern, die den Aufgang zur Treppe vertheidigt, saß ein Weib. Ihr Haar hing aufgelöst an ihrem Haupte nieder, ihr Antlitz war blaß wie die Wangen des Mannes, dessen Haupt in ihrem Schooße ruhte. So starr, so schmerzvoll, so vernichtet sah sie aus, daß Niemand es gewagt hatte, sie anzutasten, daß auch der Rohesten keiner sich unterfangen, sich an dem Verwundeten zu versündigen, über welchem so verzweiflungsvolle Liebe Wache hielt.

„Veronika!“ rief Ulrich, da er sie erblickte, Veronika, so finde ich Dich!“

„Komm! komm! er lebt! noch lebt er!“ rief sie ihm entgegen, „hilf mir! noch ist’s Zeit!“

Der Graf schlug matt die Augen auf. „Es ist vorbei!“ sagte er leise. „Führe sie fort! fort von hier!“

„Nein! nein!“ versetzte Ulrich, indem er den Verwundeten mit dem Shawl verhüllte, den er von den Schultern der Gräfin riß, um der Menge den Anblick der Schweizer Uniform zu entziehen; und als wolle das Schicksal ihm beistehen, so fanden sich ein paar Männer, die mitleidig mit dem Elend und dem Jammer der schönen jungen Frau freiwillig Hand anlegten, den Verwundeten aus dem Schlosse zu entfernen.

Es war ein langer, heißer, schwerer Weg. Auf dem Sitze eines zertrümmerten Prachtsopha’s, den man als Bahre benutzte, hatte man den Grafen gebettet, und Hülfe erkaufend, wo sie zu finden war, gelangte man mit dem sterbenden Grafen, denn sterbend war er, über die Seine und in sein Hotel.

Die Freifrau empfing ihn in dem Saale, in welchem sie ihn gestern wiedergesehen. Er war bei voller Geisteskraft und äußerst ruhig. Als er die Schwester sah, wendete er das Haupt nach ihr und reichte ihr die Hand.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_184.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)