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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

für einen billigen Retourpreis nach der Schweiz mitnehmen möge, von wo sie nach Frankreich in ihr Vaterland zurückkehren wolle. Der Wirth in Chiavenna hatte ihm zugeredet, sie nicht abzuweisen, denn er hatte sie wahrscheinlich los zu sein gewünscht, und am ersten Tage der Reise hatte sie ihrem jungen Fuhrmann zu verstehen gegeben, daß sie eine vornehme Dame sei, die durch die Revolution aus Frankreich vertrieben worden, und daß sie jetzt, da der rechtmäßige König wieder von seinem Lande Besitz genommen habe, nach Paris zurückkehre, wo es ihr an Ehre und Reichthum garnicht fehlen könne.

Der Wirth schalt, als er das erzählt hatte, auf seinen Sohn und nannte ihn einen einfältigen Tropf, daß er sich solche Dinge aufbinden lasse, da man doch in der Schweiz seit den Zeiten der französischen Emigration der Leute genug im Lande gehabt habe, welche goldene Berge versprochen und nicht einen gebogenen Heller in der Tasche gehabt hätten. Und die Kranke bei mir im Hause, sagte er, sieht gerade so aus, als gehörte sie auch zu den Emigranten.

Sie waren während des Sprechens nach dem Wirthshaus gekommen, der Wirth ging den Eltern voran, den Flur entlang, an der Küche vorüber in das Nebenhaus. Da machte er die Thüre auf, und in dem großen Bette am oberen Ende der Stube sahen die Eltern beim Schein einer kleinen Oellampe die Fremde, die mit geschlossenen Augen dalag. Weil es aber dunkel in der Stube war, so daß man das Gesicht der Kranken nicht deutlich erkennen konnte, hieß die Mutter ein Licht herbeibringen, und nachdem sie es so hingesetzt hatte, daß sein Schein der Leidenden nicht beschwerlich fiel, schlug sie den Bettvorhang vollends zurück und trat an das Lager heran.

Davon ermunterte sich die Fremde, die wie im Halbschlaf gelegen hatte, schlug die Augen auf und richtete sich jäh auf ihrem Lager in die Höhe; und in der Bewegung, in dem Blick war Etwas, das meine Mutter bis in’s Herz traf. Eine Erinnerung, eine Vermuthung stiegen in ihr auf, die sie einsetzten, sie winkte dem Vater, und eben als der herankam, sagte die Kranke, als bemerke sie die Ueberraschung meiner Eltern: „Ah! Sie wundern sich! Sie glauben nicht, daß ich’s bin, weil Sie mich hier finden! Aber nur Geduld! nur Geduld! noch wenig Tage und –“ – sie lachte, sah mit irrem Blick umher, und sprach dann schnell und leise, als flüstre sie mit einer neben ihr stehenden Person, sodaß es unmöglich war, ihre Rede zu deuten.

Indeß es bedurfte dessen nicht. Das Auge meiner Mutter hatte sie nicht betrogen: die kranke, im Fieber glühende Frau, die verfallene Gestalt, um deren eingesunkene Wangen das bereits ergraute Haar verwirrt umherhing, war die stolze, die einst so strahlende Marquise von Vieillemarin, war die Frau, welche meiner Mutter die Tage ihrer Jugend so schmerzensreich gemacht hatte.

Wie vor einem Gottesgerichte standen die Eltern einen Augenblick sprachlos vor dem Krankenbette; dann aber thaten sie, was Menschenpflicht gebot. Man sendete nach dem Arzte, die Mutter wollte wissen, ob die Marquise in’s Schloß zu uns zu bringen sei, und als der Arzt dies bewilligte, wurde gleich am andern Morgen ihre Uebersiedlung bewerkstelligt. Die Mutter selbst übernahm ihre Pflege, aber sie hatte das schwere Amt, das ihr die alten traurigen Erinnerungen weckte, nicht allzulange zu üben. Noth und Entbehrungen, Verzweiflung und zügellose Hoffnungen hatten an der Unglücklichen ihr Werk gethan, und eine Gehirnentzündung zehrte den Rest ihrer Kräfte in wenig Tagen auf.

Sie hatte keinen hellen Augenblick. Bald schien sie sich in der Nähe der Königin Maria Antoinette zu glauben, bald mußte sie meinen, unter armen Leuten zu sein, deren Hülfe sie in Anspruch nahm. Dazwischen tauchten Bilder aus den Tagen der Schreckenszeit vor ihr auf. Sie sprach vom Temple, von der Guillotine, sie nahm Abschied, und dann wieder drückte sie das Bildniß, das sie an ihrem Halse trug, an ihre Lippen und betheuerte, daß sie in ihrer Treue nie gewankt, daß sie nie ein anderes Bild im Herzen getragen habe, und daß es nun an der Zeit sei, ihre Liebe und Treue zu belohnen. Sie ließ Alles mit sich geschehen, nur als meine Mutter einmal den Versuch machte, das Bild in die Hand zu nehmen, um zu sehen, wen es darstelle, schrie die Marquise auf, bedeckte das Portrait mit beiden Händen, und in dem Augenblicke erkannte sie auch das Antlitz meiner Mutter, denn sie faßte nach ihr, sah ihr starr in die Augen und sagte: „Was wollen Sie hier, Gräfin? Sie gehören nicht hierher, nicht hierher!

Sie waren nicht treu, schöne Gräfin!“ – Darauf lachte sie wieder, wie das oft geschah, und dann rief sie: „Er war treu! mir! mir! – Ich will’s ihm auch vergelten, der Prinz soll’s ihm vergelten, wenn ich nur erst dort bin!“

Die Mutter hat mir einmal diesen letzten Abend der Marquise geschildert. Es war, als müßte sie mit einem Menschen davon sprechen, um die Erinnerung los zu werden. – In der Nacht, welche diesem Abend folgte, ist die Marquise hier drüben, in dem blauen Zimmer verschieden. Niemand als die Mutter ist bei ihrem Tode zugegen gewesen, und wie ich die Mutter kenne, hat sie überhaupt Niemand bei der Kranken lassen mögen, damit kein Anderer es hören sollte, wenn die Marquise etwa von dem Grafen Joseph gesprochen hätte.

Als die Marquise dann gestorben war, sah man, daß das Medaillon an ihrem Halse das Bildniß und eine Locke des Grafen von Artois enthielt. Es mußte einmal eine kostbare Fassung gehabt haben, aber die Steine waren ausgebrochen. Die Noth hatte die Marquise sicherlich gezwungen, sich ihrer zu entäußern. Ich kann Ihnen das Portrait einmal zeigen, wenn Sie es sehen wollen; mein Bruder hat es als ein Andenken, als ein Curiosum aufbewahrt.“

„Und Sie wissen nicht,“ fragte ich, „welches das Schicksal der Marquise in den Jahren von siebzehnhundert zweiundneunzig bis achtzehnhundert vierzehn gewesen ist?“

„Nein,“ versetzte Ursula, „aber wir können es doch annähernd vermuthen. In dem kleinen Koffer, den sie bei sich führte, fanden sich einige Briefe des Grafen von Artois, die in kühlem Ton abschlägige Antworten auf Bittgesuche enthielten und auf bessere Zeiten vertrösteten. Einer war nach Florenz, ein paar nach Neapel und einige andere nach Wien adressirt. Die Marquise wird also wohl an verschiedenen Höfen, an denen sie bourbonistische Sympathien voraussetzen konnte, ihr Heil versucht haben, und ist, wie so viele Andere, endlich nahe am Ziele, im Augenblick der Restauration, die ihr vielleicht auch Hülfe gebracht haben würde, dem Elend erlegen.“

Jungfer Ursula brach hier ab. „Wollen Sie morgen einmal mit mir nach dem Kirchhof gehen,“ sagte sie, „so will ich Ihnen zeigen, wo meine Eltern und wo Graf Joseph begraben sind. Seitwärts, aber noch in unserm Erbbegräbniß, ist das Grab der Marquise.“

„Und die Freifrau?“ fragte ich.

„O!“ versetzte Jungfer Ursula, und ihr ganzes liebes Gesicht hellte sich auf. „Die Großmutter ist auch über das achtzigste Jahr hinaus gekommen, wie die Mutter, und ich kann wohl sagen, sie und meine Eltern sind Alle jung geblieben bis auf ihre letzten Stunden. Ich glaube, es war das gute Gewissen, das ihnen den frohen Muth gegeben hat, nachdem die Jahre des Grams für meine arme Mutter überstanden waren. Es ist dann auch, wie ich Ihnen neulich sagte, darauf gehalten worden, daß Keiner von der Familie mehr im Ausland gedient hat. Sein eigner Herr sein, pflegte der Vater zu sagen, heißt erst ein Mensch sein! und,“ fügte sie hinzu, „ich möchte eigentlich auch nicht einmal eines Menschen wirklicher Herr sein! Es ist freilich wahr, der Adel hat hier aufgehört, zu bestehen, hat hier seine Rechte verloren, aber wenn sie mich in der Familie bisweilen auch darum verlachen, mir, ist wohler seitdem. Ich gönne Jedem das Seine und mag lieber zufriedene Menschen und gute Freunde, als Unzufriedene und Neider um mich haben.“

Sie sprach das, als habe sie diese Empfindung in gewissem Sinne zu entschuldigen, und sie wußte nicht, die gute Seele, wie hell ihr altes schönes Angesicht in seiner herzlichen Menschenliebe mir dabei in die Seele leuchtete.

Nicht das Bild des Grafen von Artois, das man mir zeigte, habe ich zu besitzen gewünscht, aber Jungfer Ursula’s Bild wollte ich gern haben, und ihr Bruder brachte sie auch dazu, es für mich malen zu lassen. Es ist mir, wie die ganze Erinnerung an sie, das Beste und Liebste, was ich von meiner Schweizerreise heimgebracht.



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