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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

„Ich werde!“ sagte er, den Kopf langsam neigend, und als der Gin gebracht war, der Fremde sich auch durch einen langen Schluck die nöthige Fassung verschafft zu haben schien, begann er:

„Wie Sie mich hier sehen, Gentlemen, war ich zu etwas Besserem bestimmt, als ich werden sollte; ich habe als Knabe in London eine gute Schule genossen; die plötzlich veränderten Verhältnisse meiner Eltern aber zwangen mich, zu einem Handwerk zu greifen, und ich wurde, einem poetischen Dränge in mir folgend – Damenschuhmacher. Wissen Sie wohl, Genlemen, welche Poesie in einem Damenschuhe liegt? Die Polen sollen in der Ekstase aus den Schuhen ihrer Schönen trinken; ich weiß es nicht, aber ich kann es völlig verstehen; schon als junger Mensch hatten diese zierlichen, eleganten Fußbehälter einen wunderbaren Reiz für mich; aber erst als ich bei Ausübung meines Geschäfts dazu gelangte, so manchen kleinen weichen Fuß selbst, in welchem ich oft das warme Leben pulsiren fühlte, in meine Hände zu nehmen, lernte ich die Höhe eines Genusses kennen, den nur Wenige ahnen. Ich ward Dichter in der Ausübung meines Handwerks; keiner von allen Arbeitern in dem großen Geschäfte, dem ich angehörte, vermochte diesen Schwung des Gedankens in die Erfindung neuer Schnitte, diese Zartheit und Poesie in die Verzierung und Ausschmückung zu legen. Keiner aber verstand es auch, mit der Delicatesse und dennoch einer gewissen Innigkeit den preisgegebenen Fuß jeder unserer jungen schönen Kundinnen zu behandeln, als ich, und es geschah bei hochstehenden Damen, die unser Etablissement besuchten, oft, daß speciell nach mir verlangt ward. Ich war damals jung, Gentlemen,“ fuhr der Erzähler in wehmüthigem Tone, in sein halbgeleertes Glas blickend, fort, „man nannte mich einen schönen jungen Mann, und meine lockigen blonden Haare, die jetzt grau und struppig sind, erregten viel Bewunderung, aber ich hatte bis jetzt nur eine Leidenschaft für diesen oder jenen Fuß gehegt, ohne mein Herz weiter damit zu beunruhigen; jetzt nun sollte ich das höchste Glück meiner Beschäftigung, aber auch den größten Schmerz derselben kennen lernen.“

Er trank langsam sein Glas aus, blickte einen Augenblick wie in schwärmerischer Erinnerung zur Decke und fuhr dann fort:

„Ich hatte eines Tages eine neue Erscheinung in unserm Etablissement zu bedienen; ich hörte, es sei die Tochter eines Baronets, und die Equipage wie die begleitende Bedienung sprachen ganz dafür – was kümmerte das mich aber? Ich sah nur den zartesten Fuß, der je in meiner Hand geruht, fühlte durch den seidenen Strumpf die weiche feine Modellirung desselben, und kühne Gedanken über das, was ich als würdiges Meisterstück dafür schaffen werde, durchströmten mich; da blickte ich mit einer Frage empor zu ihr und sah zwei Augen unter langen dunkeln Wimpern mit einem Ausdrucke auf mir ruhen, der plötzlich ein Gefühl in mir schuf, wie ich es noch nie gekannt, halb Wonne, halb Schmerz, und als ich meinen Blick wieder verwirrt auf meine Beschäftigung senkte, war dieser Fuß nicht mehr ein für sich bestehender Gegenstand, ein bloßer Vorwurf für meine Kunst, er war plötzlich für mich ein Theil der schlanken Gestalt, die vor mir saß, geworden, und fast elektrisch durchzuckte es mich, als ich eine leise Bewegung desselben in meiner Hand fühlte. Wie ich mein Geschäft zu Ende brachte, weiß ich nicht mehr, ich erinnere mich nur, daß, als sie in ihren Wagen steigen wollte, sie sich noch einmal nach mir umsah und ein Zustand wie Verzückung sich meiner bemächtigte.

Von dieser Zeit an war ich ein anderer Mensch – alle Füße der Welt galten nichts für mich, was ich that, geschah nur gewohnheitsmäßig, und nur bei ihren Besuchen – und sie kam oft – fühlte ich ein neues Feuer in mir erwachen, ein Feuer, das die stille Sprache ihrer Augen jeden Tag mehr anschürte, das bei ihrem verständnißvollen Lächeln, wenn sie das Zittern meiner Hand fühlte, fast meine Besonnenheit zu vernichten drohte und das mich, sobald ich zum klaren Bewußtsein kam, zum Unglücklichsten der Welt machte. Ich sah, daß sie oft wegen der kleinlichsten Dinge, welche durch die Sendung eines ihrer Dienstleute hätten besorgt werden können, selbst vorgefahren kam, sie schien es mir absichllich merken zu lassen, daß sie nur einen Vorwand gesucht, um mit mir in Berührung zu kommen, ihre Mienen sprachen endlich so klar zu mir, als es nur Worte hätten thun können – aber bei alledem, was vermochte ich ihr gegenüber zu thun? Ich wußte nur, daß ich sie bis zur halben Raserei liebte und daß ich mich nächster Tage schweigend todtschießen würde, weil sie eine Baronetstochter und ich – ein Schuhmacher war!

Da, eines Tages – o mein Gott!“ fuhr der Redende fort und faßte nach seinem Glase, das er indessen, sobald er es leer bemerkte, weit von sich schob und dann kopfschüttelnd die Stirn in die Hand stützte.

„Noch ein Glas Gin mit Zucker!“ rief Mader, der mit gespannten Augen an des Erzählers Lippen gehangen, dem Kellner zu.

„Ich danke Ihnen, Gentlemen!“ sagte der Fremde mit matter Stimme, das herbeigebrachte Glas in einem Zuge leerend, „ich kann nicht ohne völlige Nerven-Erschütterung an jene so traurige und doch so schöne Zeit meines Lebens denken! – Da, eines Tages, wie ich eben sagte, redet mich der Chef unsers Geschäfts an: „Mac Feargus, es gilt ein besonderes Meisterstück von Geschmack und Eleganz; die junge Lady – (Namen werde ich nicht nennen, schaltete der Erzähler ein) wird nächstens ihre Hochzeit feiern, und Sie werden sich nach ihrem Hause begeben, um die nöthigen Andeutungen über die Brautschuhe zu erhalten; gehen Sie!“

Ich hatte einen in der Oeffentlichkeit ziemlich bekannten Namen gehört, aber was kümmerte ich mich weiter darum? Ich fahre in dem nächsten Miethwagen nach dem palastähnlichen Gebäude, lasse mich melden und werde nach einem lauschigen Boudoir geführt, wo mir, alleingelassen, eine kurze Zeit Muße bleibt, das berauschende Parfüm, von welchem die Luft durchschwängert war, einzuathmen und den luxuriösen Comfort eines solchen Damenzimmers zu bewundern. Da öffnet sich plötzlich eine Seitenthür, und herein tritt bleich, aber mit einem himmlischen Lächeln auf den Lippen und schöner als je, sie, die ich nie mehr einem sterblichen Ohre nennen werde, sie, die mein Glück und meine Qual war. Sie tritt, mir die Hand entgegenstreckend, auf mich zu, und ich, von meinen stürmenden Gefühlen überwältigt, fast einer Ohnmacht nahe, stürze auf den weichen Teppich zu ihren Füßen. Sie beugt sich über mich, legt ihre Stirn gegen die meine und sagt mit einer unendlichen Traurigkeit: „Wußte ich denn nicht, daß wir uns liebten, und konnte ich denn scheiden, ohne wenigstens eine einzige Viertelstunde des Alleinseins mit einander?“ – Da packte mich plötzlich meine ganze wahnsinnige Liebe und mein tödtlicher Schmerz, ich sprang auf, ich schlang meine Arme um sie, ich küßte sie glühend, verzehrend, und sie wehrte mir nicht, sie lag in meinen Armen widerstandslos meiner Leidenschaft hingegeben; da – klang das geräuschvolle Oeffnen einer Thür, mit einem Schrei riß sie sich aus meiner Umschlingung –“ der Erzähler brach ab, erhob sich rasch und machte einen Gang um unsern Tisch. „Es ist die entsetzlichste Minute meines ganzen Lebens, zu der ich jetzt gelangen werde,“ sagte er, sich in sichtbarer Erregung wieder niederlassend. „Lassen Sie mich trinken, Gentlemen, ich muß diese Erinnerungen abstumpfen und tödten, wenn ich weiter reden soll!“

Mich hatte die lebendige Erzählungsweise des eigenthümlichen Menschen mehr erregt, als ich es zu Anfange unseres Gesprächs je für möglich gehalten, und auf meinen Wink sorgte der Aufwärter für eine neue Zufuhr von „Gin mit Zucker“, die, wie in einer Verzweiflungsthat, sofort von dem Erzähler hinab gegossen ward.

„Als ich, aus meinem Rausche aufgeschreckt, um mich sah,“ fuhr Letzterer fort, „trafen meine Augen auf einen in’s Zimmer getretenen Officier, der mit wüthendem Blicke seinen Degen gezogen hatte und mir entgegen stürzte; ich sah ihn die Bewegung des Stichs gegen mich machen, fühlte indessen nichts von einer Verwundung und hatte im nächsten Augenblicke, dem Triebe der Selbsterhaltung folgend, die Waffe aus seiner Hand gerissen. Ich wollte die Thür gewinnen, aber er vertrat sie mir, und in der alle meine Gedanken überwältigenden Erregung stieß ich ihm seinen eigenen Stahl in die Brust – er taumelte, und ich sprang den Degen fortwerfend aus dem Zimmer – hinter mir aber klang es: „Haltet den Mörder, den Mörder!“ und vor mir sah ich zwei von dem Rufe aufgeschreckte Lakaien in meinen Weg treten. Ein gutgezielter, mit der Kraft der Verzweiflung geführter Faustschlag warf den Einen zu Boden, während der Andere meinen Angriff nicht abwartete und erschreckt zur Seite wich. Der Weg war frei, aber schon in der nächsten Minute bemerkte ich, daß ich in meiner hastigen Flucht die Haupttreppe verfehlt hatte und mich in einer Aufeinanderfolge von Sälen und Corridors befand, in welcher mein fliegender Blick vergebens nach einem Ausgang spähte. Schon vernahm ich, wie Alles, was das große Gebäude an Menschen enthalten mochte, auf den Füßen war, durcheinander schrie und lief, wie eine starke Stimme die Richtung angab, welche ich genommen;

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_194.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)