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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

„Trösten Sie ihn,“ sagte sie noch zurück.

„Werden Sie wieder in’s Kloster gehen?“ rief die Frau ihr noch nach.

„Nein, nein!“

Sie war in der Dunkelheit der Mitternacht und des Waldes verschwunden. „Ich habe sie nicht wiedergesehen,“ sagte die Alte.

„Und der Verwundete?“ fragte ich.

„O, Herr, verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen das erzähle! Als ich dem armen Menschen am anderen Morgen die Nachricht bringen mußte – nein, nein, das Herz will mir noch zerspringen, wenn ich daran denke. Ich meinte, es wäre auf der Stelle sein Tod gewesen. Er wollte seine Wunden wieder aufreißen, er wollte sterben. Er wollte ihr nach, über den Rhein zurück, sich dem Feinde ausliefern, damit sie ihn todtschießen möchten. In meinem Leben werde ich den Jammer nicht vergessen. Ich mußte den armen Herrn mit Gewalt bei mir zurückhalten. Dann wollte er nur Eins von mir hören, die letzten Worte, die sie mir für ihn zurückgelassen hatte. Drei Tage war er ohne Entschluß.

„Sie ist doch das edelste, das reinste Herz!“ sagte er zuletzt.

Am vierten Tage ging er von uns. Er fuhr mit der Post nach Zürich.

Wenn ich in Noth käme, sagte er beim Abschiede zu mir, oder wenn ich von der Verschwundenen wieder etwas erführe, solle ich nach Zürich an ihn schreiben lassen, an Alexander Roth; der Brief werde ihn schon finden. Er war ein braver und freigebiger Herr.“

„Sie haben von der Verschwundenen nichts wieder erfahren?“ fragte ich sie noch.

„Nein. Ich bin auch, Gott Lob, noch nicht in Noth gekommen.“ –

Das war es, was ich im Sommer 1856 über Alexander Roth erfahren hatte. Es war, wie ich schon sagte, wenig, und doch, wie viel! Er hatte nie über das Abenteuer gesprochen. Keiner von seinen Bekannten hatte jemals von ihm nur einen der Umstände erfahren, unter denen er im Jahre 1849 war gerettet worden. Ich behielt die Mittheilungen, die mir über ihn geworden waren, für mich, und gab auch ihm nicht einmal eine Andeutung davon. Sein Geheimniß, das Geheimniß des Unglücks eines braven, edlen Mannes mußte mir heilig sein. Ein anderer Zufall sollte mir einige Zeit nachher einen weiteren Blick in sein früheres Leben gewähren, keinen viel tieferen und zudem einen nicht völlig sicheren.

Ein Mord, an der Schweizer Grenze verübt, hatte, auch noch in seinen Folgen, ein ungewöhnliches Aufsehen erregt. Ein reicher Gutsbesitzer wohnte in der Nähe einer lebhaften Stadt, kaum zehn Minuten von dem Stadtthore entfernt. Der Weg von dem Thore zu seinem Gute war die ersten fünf Minuten lang die gewöhnliche Landstraße; dann zog er sich von dieser seitab zwischen Ackerfeldern weiter, von denen er meist durch Zäune und Hecken getrennt war. Der Gutsbesitzer ging jeden Tag gegen Abend zur Stadt in eine Casinogesellschaft. Er blieb dort bis um oder nach zehn Uhr, so daß er regelmäßig zwischen zehn und elf Uhr in der Nacht nach Hause zurückkehrte. Er ging zu Fuße, immer allein, ohne Waffen. Er war ein kräftiger, rüstiger Mann, der keine Furcht kannte. So war es seit Jahren gewesen. In einer Nacht kam er nicht nach Hause zurück. Die Seinigen hatten bis Mitternacht auf ihn gewartet. Er wurde dann gesucht. Man fand nur seine Leiche.

Nachdem man lange vergebens nach der Spur des Mörders geforscht, ward endlich ein Metzger verhaftet, der vor Jahren gegen den Ermordeten bei Gelegenheit eines verweigerten Darlehns laut Rache geschworen hatte und in den Tagen des Mordes verschiedene Male in der Stadt gesehen worden war, später auch ungewöhnlich viel Geld gezeigt hatte. In der Untersuchung verwickelte er sich in Widersprüche, die ihn schwer gravirten, leugnete aber fortwährend die That. Endlich wurde man von seiner Schuld überzeugt, als man noch ermittelte, daß er am Tage nach dem Morde in einem benachbarten Orte in einem Wirthshause an zwei hausirende fremde Juden eine goldene Taschenuhr verkauft hatte, die der allerdings sehr unvollständigen Beschreibung nach die des Gemordeten war. Verschiedene Zeugenaussagen sprachen außerdem gegen ihn, und die Geschwornen erklärten ihn schließlich für schuldig, und das Gericht verurtheilte ihn zum Tode. Er wurde auch wirklich hingerichtet.

Ein Vierteljahr später ergab es sich, daß er unschuldig gewesen war. Zwei Soldaten, wegen liederlichen, unverbesserlichen Lebenswandels von einem Schweizerregiment in Neapel fortgejagt, hatten sich lange vagabundirend im Lande herumgetrieben und von Diebereien und Räubereien gelebt, bis sie nach einem an einer Frau verübten Raubmorde gefangen wurden. Bei einem von ihnen wurde die Börse gefunden, die der ermordete Gutsbesitzer zur Zeit seines Todes bei sich getragen. Sie wurden über den Mord befragt; sie hatten für den Mord an der Frau ohnehin das Leben verwirkt; der Mord des Gutsbesitzers konnte ihre Strafe nicht erhöhen. Sie gestanden ihn ein. Alle Umstände, die sie angaben, stimmten; selbst die geraubte Uhr, die sie verkauft hatten, wurde wieder herbeigeschafft. Sie waren die wahren Mörder. Der Fleischer war unschuldig gewesen und unschuldig hingerichtet worden.

Es wurde überall von dem entsetzlichen Unglücke gesprochen. Ein Justizmord, der durch eine Sorglosigkeit der Gerichte oder auch durch einen Zufall herbeigeführt ist, wird überall und zu allen Zeiten von dem Volke für das beklagenswertheste Unglück angesehen. Die Haare sträuben sich einem davor. Er kann Jeden von uns treffen, Niemand kann sich vor ihm retten. An absichtliche, geflissentliche Justizmorde wird das Volk von despotischen Machthabern und schlechten Richtern mitunter gewöhnt.

(Fortsetzung folgt.)


Die Hundepost auf den Nordamerikanischen Seen.

Da, wo die Vereinigten Staaten in ihrer nördlichen Ausdehnung an Canada stoßen, wird die Grenze durch eine Kette von ausgedehnten, mit einander verbundenen Landseen gebildet, welche sich bis in völlig wildes, nur von wenigen, halb verkommenen Indianerstämmen bewohntes Land hinauf erstrecken und deren Verbindung durch einzelne Forts beherrscht wird. Im Sommer, wenn diese azurblauen Wasserflächen durch Fahrzeuge aller Art, vom sturmfesten Dampfschiffe bis zum Segelboote herab, belebt sind, wenn die grünen Ufer mit ihren mannigfachen sonnenbestrahlten Scenerien sich wie ein glänzender Gürtel darum her ziehen, bieten sich überall die entzückendsten Bilder; im Winter jedoch, wenn sich die Eisdecke oft Hunderte von (englischen) Meilen über das ruhige Wasser ausbreitet, wenn der fallende Schnee das gleiche weiße Leichentuch über Land und See legt, kann es, besonders in der nördlicheren Hälfte dieses Seegebiets, kaum ein trostloseres Bild völliger Oede geben. Die Schifffahrt, welche fast die einzige Verbindung zwischen den Uferplätzen sowohl, als den zerstreuten nördlichen Ansiedelungen und der bewohnten Welt bildet, ist gänzlich unterbrochen, alles äußere Leben hat sich in die kleinen versteckten Punkte, die Jedes seine Heimath nennt, zurückgezogen, und selbst der Indianer mag nur selten seine halb in die Erde gegrabene Winterhütte verlassen, in welcher er neben seinem Feuer und dem aufgehäuften Vorrath von Lebensmitteln die Zeit des Schnees und der Stürme verbringt.

Und da, wo im Norden diese Einsamkeit, diese Abgeschlossenheit von allem Leben in ihrer ganzen Traurigkeit hervortritt, stehen einzelne Forts mit ihrer kleinen Besatzung, welche den langen Winter über vollkommen abgeschnitten von der übrigen Welt sein würden, wenn nicht eine eben so eigenthümliche als gefahrreiche Verbindung mit den bewohnten Plätzen durch die Ver. Staaten Hundepost geschaffen worden wäre. Diese besteht meist aus zwei leichten Schlitten, von je zwei oder drei kräftigen Hunden gezogen, wofür eine Art Abkömmlinge der Eskimo-Hunde die gesuchtesten sind, und den beiden Postläufern – oft ein Weißer und ein Indianer, oft auch nur zwei zuverlässige Männer der rothen Race. Es bedarf des ganzen angeborenen Scharfsinns und der Ausdauer dieser Halbwilden, verbunden mit dem Instinct der Hunde, um ohne Irren den Weg über die endlose Schnee- und Eiswüste zu finden und den plötzlich hereinbrechenden, oft kaum erst geahnten Gefahren einer solchen Reise zu begegnen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_228.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2020)