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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

daß wir davon wußten, den ganzen Mechanismus unseres Denkens beschäftigt hat. Diese stille Vorbereitung läßt sich keinem zeitlichen Maß unterwerfen, denn wir wissen nicht, wo sie anfängt, wir wissen nur, wo sie aufhört.

Handelt es sich um vergleichbare Messungen der Geschwindigkeit des Denkens, so können demnach hierzu nur bereits geläufige Vorstellungen oder Gedanken gewählt werden, die in bestimmter Reihenfolge mit einander verknüpft sind. Aber es ist noch eine weitere Einschränkung zu machen. Man beobachtet leicht an sich selber, daß die Schnelligkeit des Denkens und Vorstellens je nach Stimmung und äußerem Antrieb sehr veränderlich ist. Wenn wir zählen, ohne daß uns eine bestimmte Geschwindigkeit im Zählen gerade vorgeschrieben ist, so zählen wir bald schnell, bald langsam, entweder aus bestimmter Ursache, manchmal aber auch ohne zu wissen, warum. Das Zählen ist die Aneinanderreihung einer Zahlvorstellung an die andere, die Geschwindigkeit des Zählens ist in diesem besondern Fall Geschwindigkeit des Denkens. Es würde aber hier keinen Werth haben, ohne Weiteres die Geschwindigkeit zu messen, da, was einmal gemessen ist, sich für ein anderes Mal doch nicht gültig zeigt. Dagegen giebt es Eins, was gemessen und zu einem vergleichbaren Maß benutzt werden kann. Alles, was sich mit verschiedener Geschwindigkeit zu bewegen vermag, hat nämlich eine gewisse Grenze der Schnelligkeit, über die hinaus die Bewegung nicht mehr zu beschleunigen ist. Ein Dampfwagen kann bekanntlich langsam und schnell gehen, aber eine Schnelligkeit giebt es, die er bei der vorhandenen Construction der Maschine nie übertreffen wird. Dasselbe muß auch für das Denken seine Gültigkeit haben. Für jeden einzelnen Menschen muß es eine gewisse Schnelligkeit des Denkens geben, über die er bei der gegebenen Beschaffenheit seines Geistes niemals hinauskommen kann. Wie aber die eine Dampfmaschine schneller geht als die andere, so wird wahrscheinlich auch jene größte Geschwindigkeit des Denkens nicht bei allen Menschen genau die gleiche sein; die geistigen Organisationen sind so verschieden, als der Bau einer Maschine nur sein kann, ja bei denselben Menschen mag die Geschwindigkeit des Denkens sich verändern, denn der menschliche Geist ist nie und nimmer derselbe, der er schon einmal gewesen ist.

Der Gedankenmesser.

Wie ist es nun möglich, die Zeit des schnellsten Gedankens zu messen? – Ich habe eine Methode ausfindig gemacht, mittelst welcher diese Messung sehr leicht und in kürzester Zeit ausgeführt werden kann. Die Hülfsmittel, die man zu derselben bedarf, sind so einfach, daß Jedermann sie leicht sich verschaffen und an sich und an Andern die Geschwindigkeit des Denkens beobachten kann. Jedes größere Uhrpendel ist nämlich zu diesen Messungen brauchbar. Das Ende B des Pendels lasse man vor einem getheilten Kreis vorbeigehen. Ungefähr in der Mitte des Pendels befestige man eine Wagerechte Metallstange s s (etwa eine dicke Stricknadel), welche, wenn das Pendel nach M hinschwingt, gegen eine seitlich angebrachte kleine Glocke g aus Glas oder Messing anschlägt. Diese Glocke ist oben an einem Haken so aufgehängt, daß das Ende der Stange sie nur eben berühren kann, sie weicht daher alsbald, nachdem sie angeschlagen ist, zurück, ohne der Bewegung einen erheblichen Widerstand entgegenzusetzen. Man kann die Glocke auf- und abwärts verschieben, damit der Beobachter nie weiß, in welchem Moment der Bewegung des Pendels der Schall wirklich stattfindet.

Hierbei ergiebt sich nun das merkwürdige Resultat, daß der Zeiger des Pendels, der vor dem getheilten Kreis schwingt, im Moment des Schalls der Glocke nie an dem Ort gesehen wird, an welchem er wirklich vorbeigeht, während er auf die Glocke schlägt, sondern immer um mehrere Scalentheile von demselben entfernt. Bei ungezwungener Beobachtung sehe ich meistens den Zeiger, bevor ich den Pendelschlag höre, der Pendel scheint mir also etwa bei einer Stellung a b an die Glocke zu schlagen, bei welcher in Wirklichkeit die Stange s s noch beträchtlich von derselben entfernt ist. Wenn ich aber die Aufmerksamkeit vorwiegend dem Schall des Pendelschlags zuwende und im Moment, wo derselbe eintritt, die Stellung des Zeigers abzulesen suche, so sehe ich diesen erst, nachdem ich den Schall gehört habe, und zwar um ungefähr ebensoviel später, als ich ihn vorhin früher gesehen hatte, der Pendel scheint bei einer Stellung c d an die Glocke anzuschlagen, bei welcher die Stange s s sich schon wieder beträchtlich von derselben entfernt hat. Es kommt lediglich auf die Beschaffenheit der Aufmerksamkeit an, ob man zuerst sieht und dann hört, oder ob man zuerst hört und dann sieht, und man ist so, wenn man gelernt hat seine Aufmerksamkeit willkürlich zu lenken, im Stande, eine beträchtliche constante Verschiedenheit zwischen seinen eigenen Beobachtungen zu erzeugen.

Diese Beobachtungen am schwingenden Pendel ergeben nun unmittelbar die absolute Größe der Zeit, welche der schnellste Gedanke zu seinem Entstehen und Verschwinden bedarf, denn die Geschwindigkeit des Pendels in jedem einzelnen Theil seines Weges läßt sich sehr leicht aus seiner Schwingungsdauer berechnen, und es läßt sich auf diese Weise aus dem Weg, der zwischen der Stellung des Pendels, wo der Schall wirklich stattfand, und der Stellung desselben, wo er gehört wurde, liegt, genau die Zeit bestimmen, welche vom Bewußtwerden des Schalleindrucks bis zum Bewußtwerden des Gesichtseindrucks verfließt. Dies ist aber unmittelbar die kürzeste Zeit, in welcher zwei Vorstellungen sich folgen können, oder die Zeit des schnellsten Gedankens.

Die in der beschriebenen Weise angestellten Versuche ergeben, daß 1/8 Secunde als der mittlere Zeitraum für den schnellsten Gedanken sich betrachten läßt. Dieser Zeitraum ist noch etwas kleiner als das schnellste Zählen, denn beim schnellsten Zählen kommt 1/5 Secunde auf die einzelne Zahl, er ist aber beträchtlich größer als die Zeit, die wir zur Scheidung der Eindrücke eines und desselben Sinnes bedürfen. Bei den tiefsten Tönen der musikalischen Scala sind wir im Stande, die einzelnen Schallschwingungen noch durch das Ohr zu unterscheiden, ebenso können wir Geräusche, die mit sehr großer Geschwindigkeit sich folgen, von einander trennen; es läßt sich auf diese Weise unter günstigen Verhältnissen der geschieden wahrgenommene Einzeleindruck bis zur Dauer von 1/60 Secunde begrenzen. Die Zeit hat aber keine Beziehung zur Thätigkeit unseres Geistes, denn die Schwingungen eines Tons oder die Stöße eines Geräusches sind immer nur Theile einer einzigen Vorstellung.

Die Zeit, die wir für die Schnelligkeit des Gedankens gefunden haben, ist keineswegs unveränderlich; die Zeit von 1/8 Secunde läßt sich nur als das Mittel aus einer größern Zahl von Beobachtungen betrachten. Aber man sieht diese Zeit bei einem und demselben Menschen kleinen Schwankungen unterworfen. Der Hauptgrund hiervon scheint zu sein, daß wir unsere Aufmerksamkeit keineswegs immer gleichmäßig anzuspannen im Stande sind. Außerdem aber ist die zunehmende Uebung bei derartigen Beobachtungen vom größten Einflusse, sie bedingt eine anfangs schneller, später nur noch sehr langsam erfolgende Schärfung der Beobachtungen, und es scheint, daß man sich dabei immer nur einer gewissen Grenze der Feinheit annähert, die man nie vollständig erreicht. Freilich findet man bei verschiedenen Menschen constante individuelle Verschiedenheiten.

Diese individuellen Verschiedenheiten in der Zeit, die zwischen Gehör- und Gesichtsvorstellung verfließt, sind vom höchsten Interesse. In ihnen ist uns erst ein directes Maß gegeben für die Denkgeschwindigkeit der einzelnen Menschen. Durch

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_264.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)