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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

durchaus kein Wasser eindringen kann. Es ist das Werk der ausgesuchtesten Arbeiter, von denen Jeder wöchentlich 2–3 Pfund (13 bis 20 Thaler) verdient. Die Arbeiter an Bogen und Wölbungen bilden die höchste Aristokratie ihres Gewerks und verachten es, an irgend einer Arbeit Theil zu nehmen, wo gerade Steine gerade aufeinander gemauert werden.

Der ganze Bau ist, soweit er vollendet, durchaus trocken, rein, hell und durch gute Ventilation mit stets gesunder Luft versehen. Von den ungeheueren Kosten, Beschwerlichkeiten, Mühen und Genialitäten, womit auf diesem unterirdischen Wege Cloaken, Gas- und Wasserröhren, elektrische Telegraphen und sonstiges unterirdisches Aderwerk unterbunden, verlegt, oben oder unten wieder hergestellt werden mußte, wußten uns Directoren Wunderdinge zu erzählen. Alles ist bis jetzt geglückt und gelungen.

Wir waren am Ende, blickten aber in eine noch großartigere Fortsetzung hinein, die eben angefangen war. Diese soll unter dem dicksten, dichtesten London hin (nur an tiefen Stellen auf der Erde) die große Nordbahn mit der Victoria-Eisenbahn-Station im Westende verbinden und unter der Themse hin in den großen Südost-Bahnhof münden, von wo man nach dem Krystall-Palaste, nach Dover und beinahe überall hin fahren kann. Die dichten Eisenbahnnetze, die nun London von allen Seiten, über und unter den Straßen und Häusern umstricken, laufen dann nicht nur ringsum, sondern auch in allen Richtungen der Windrose auseinander nach Tausenden von Stationen und Städten bis hoch in den schottischen Norden und über’s Meer hinweg durch Röhren, unter denen Seeschiffe hinwegsegeln, sogar auf Inseln hinüber. –

Unser Champagner-Frühstück um drei Uhr (natürlich mit abgelegten „Ueberziehern“ aus der Unterwelt) war prachtvoll. Nur möcht’ ich Niemandem, der nicht darauf eingeübt ist, rathen, um drei Uhr mit Champagner zu frühstücken, da man während der nächsten 24 Stunden nie mehr recht weiß, welche Zeit es ist.




Schweizer Alpen-Bilder.
Nr. 3     Die Gemsjäger.

Gar Mancher von den Tausenden und Abertausenden von Touristen, die von Albions weißen Küsten, aus grün Erin, aus der sandigen Mark oder aus den leichtsinnigen Städten des Frankenreichs im Hochsommer den gletscherumfangenen Paradiesen des Berner-Oberlandes oder den schauerlich-prächtigen, wilderhabenen Thalschluchten Graubündens, der Wiege des jungen Rheins, zueilen, um sich einmal in echt reiner Alpenluft zu baden, von der Gletschermilch, die der große Schiller in seinem Tell erwähnt, zu trinken und neuen Lebensmuth zu schöpfen, trägt sich mit gar wunderlichen Hoffnungen und Erwartungen von all den Wundern und Seltsamkeiten, welche ihm das vielgepriesene und auch viel geschmähte schweizerische Hochland darbieten soll. Wäre die gute Schweiz an Wundern auch so reich, wie das Buch von tausend und einer Nacht, es würde dieses noch bei weitem nicht ausreichen, um all diesen bizarren und sanguinischen Erwartungen auch nur zur Hälfte ein Genüge zu leisten. Der langbeinige Engländer, der leichtfüßige Franzose, der neugierige Yankee und selbst der gemüth- und phantasiereiche Deutsche, vorausgesetzt, daß sie die Schweiz noch nie gesehen haben, sind häufig schon beim ersten Ueberschreiten der Grenze sehr enttäuscht, ja manchmal förmlich entrüstet, weil es der spröden Mutter Natur nicht gefällt, ihnen von zehn zu zehn Schritten eine neunhundert Fuß hohe Felswand zu präsentiren und darüber hinab einen donnernden Gebirgsstrom im kühnsten Bogen springen zu lassen, daß er in der Luft zerstäubt, wie etwa der Staubbach im Lauterbrunnen-Thale. Eben so deconcertirt hat der Verfasser dieser Zeilen die genanten Leutchen auch schon oft gesehen, wenn sie auf stattlichem Dampfer den Thuner- und Brienzer-See hinauffahren und selbst mit dem besten Operngucker die lustigen Gemsheerden nicht erblicken können, von denen sie daheim so viel Schönes haben erzählen hören, und von deren tollen Sprüngen sie doch ein so vorzügliches Divertissement erwartet hatten. Sind ja diese beiden lieblichen Wasserbecken von himmelanstrebenden Gebirgsstöcken und Felswänden umschlossen, die anscheinend ganz bequem einigen Tausenden der interessanten Thierchen Kost und Logis darbieten könnten, und ist doch von alledem auch nicht die blässeste Spur zu sehen, wenn nicht etwa ein gutmüthiger Geißbube sich der Schaulustigen erbarmt und seine Heerde zahmer Alpenziegen den Ungeduldigen in Sicht getrieben hat, welch letzterer Umstand, namentlich in frühern Zeiten, wo treuherziger Glaube noch so viel zur Verschönerung der Welt beitrug, zuweilen die Reputation dieser Vorposten des Hochgebirges rettete, die sonst im angedeuteten Sinne nicht einmal den gerechtesten Anforderungen eines wohlerzogenen Menschen, der für sein gutes Geld reist, mehr entsprechen.

Doch nur nicht verzagt! – ’s ist mit den Gemsen, wie mit den Wasserfällen: das Hochgebirge kann allerdings damit aufwarten; nur kostet der Anblick der erstern weit mehr Mühe, weit mehr Muth und einen schwindelfreiem Kopf, als der Bewohner der Ebene es sich gewöhnlich vorstellt. Die schnellfüßige Antilope des Hochgebirges durchstreift noch immer in kleinern oder größern Heerden die Alpen, aber nur die einsamsten und höchsten Reviere derselben, und nur der, dem es gegeben ist, mit rüstigem Muthe und nie erschlaffenden Sehnen die schroffen Wände der Gebirgsstöcke zu erklimmen, und der nicht zu fürchten hat, daß auf scharfem Grate, den mehrere tausend Fuß tiefen Abgrund unter sich, um sich nichts als das blaue Aethermeer und den Geieradler, der einsam in diesem Ocean schwimmt, der Schwindel ihn packe und rettungslos hinunterstürze in die gähnende Kluft, darf sich mit einiger Bestimmtheit der Hoffnung hingeben, die herrlichen Thiere auf schmalem Grasbande weiden zu sehen und die Wachtgeiß bewundern zu können, wie sie auf erhöhtem Felsvorsprunge scharf nach allen Seiten auslugt, um die nahende Gefahr auf stundenweite Entfernungen zu erspähen und durch schrillen Pfiff, dem Räubersignale gleich, die Genossen zu benachrichtigen. Bemerkt ihn aber diese Schildwache, dann ist auch in kurzer Zeit die ganze Gesellschaft gespensterhaft schnell verschwunden, wenn nicht gerade Zufall und Ortslage es fügten, daß sie in sausender Jagd über das stundenlange Eisfeld hinfliegt. Das macht, die Menschen haben den klugen schönen Thieren, die noch bis zu Anfang dieses Jahrhunderts selbst die weniger unzugänglichen Bergkämme so reizend belebten, mit so unerbittlicher Mordlust nachgestellt, daß sie jetzt ganz zurückgedrängt sind in die wildesten Einöden und mit Ausnahme des Winters, wo sie in den tiefergelegenen Wäldern Schutz gegen die Unbilden der Witterung suchen, fast immer nur in der nächsten Nachbarschaft des ewigen Schnees hausen.

Wenn der Tag anbricht, oder der Mond besonders hell scheint, da steigen die Gemsen wohl an den Bergwänden nieder und suchen sich bequemere, aber immer nur solche Weideplätze auf, welche rings von Felsen geschützte Grasplätze darbieten; von 9–11 Uhr halten sie ein wenig Siesta, steigen um Mittag wieder grasend in die Höhe und ruhen dann bis gegen 4 Uhr schon wieder in der Nähe der Gletscher, oft sogar auf dem blanken Firn, von ihrer Tagfahrt aus, um später denselben Weg noch einmal hin und zurück zu machen. Besonders munter sind die flinken, mit unglaublicher Klettergewandtheit begabten Thiere im Herbste und im Vorwinter, wo sie sich an den schroffsten Abgründen und auf den schärfsten Felskanten in toller Lust umhertreiben, sich mit den Hörnchen gegenseitig hinunterstoßen und die hübschesten Scheinkämpfe aufführen. Wo die nächste Base der Gemse, die selbst vorzüglich kletternde Alpenziege, sich nicht mehr hingetraut, in den unzugänglichsten Grasplätzen der steilsten Hörner, auf jenen oft kaum fußbreiten Steinbänken, die sich bandartig um die jäh abstürzenden Felskuppen winden, bewegt sich die Antilope des Gebirges mit einer Leichtigkeit und Grazie, mit einer Spannkraft der Sehnen, die an’s Fabelhafte streift. Munter, zierlich gebaut, von höchst klugem Aussehen, ist die im Sommer rehfarbene, im Winter fast schwarze Gemse mit den zierlichen, feingebogenen und glänzend polirten Hörnchen, besonders in aufgescheuchtem Zustande, von überraschender Schönheit; da werden ihre Muskeln elastisch und stramm wie Stahlfedern, und mit dem Sturm an Schnelle wetteifernd, geht’s in herrlichen Sätzen über Kluft und Eis. Man hat am Monterosa einmal eine von einer Gemse übersprungene Kluft gemessen, und das Resultat dieser Messung hat nicht weniger denn 24 Fuß

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_267.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)