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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

zu empfangen, bevor er zu seinem Zerstörungswerk nach Magdeburg aufbrach. Banner starb hier am 8. Mai 1641. Der Friedensschluß brachte die Stadt und das Bisthum als weltliches Fürstenthum an Kurbrandenburg, und der große Kurfürst betrat bei der Huldigungsfeier den Dom im Jahre 1650; ebenso Friedrich III. 1692, Peter der Große 1717. Im siebenjährigen Kriege, namentlich unter dem Marschall Richelieu, sowie in den spätern Kriegen, in welchen Halberstadt dem Königreich Westphalen einverleibt wurde, litt der Dom bedeutend, bis endlich der geistreiche König Friedrich Wilhelm IV. beschloß, auch dieses Denkmal einer großen Zeit vor gänzlicher Zerstörung zu sichern.

Welch’ eine Fülle von welthistorischen Erinnerungen umschließen. diese dürftigen Zahlen! Ein ganzes Weltalter liegt in diesen Steinmassen versunken, von jenem letzten Helden aus Granit, der aus dem Chaos der Völkerwanderung hervorragend den Grund einer neuen Weltordnung legte, bis heute, wo die Menschheit vielleicht unter gleichen Stürmen einer neuen Wiedergeburt entgegengeht. Das ist, neben andern Momenten des Erhabenen im Wesen der Baukunst, sicherlich das erhabenste, daß ihre Werke für eine Ewigkeit gegründet zu sein scheinen und noch fernen Jahrhunderten als glänzende Zeugen verkündigen, was ihre Zeit „geahnt, gewollt, gekonnt“. Hierin allein liegt die Tiefe des romantischen Gefühls begründet, das uns an solchen Stätten ergreift, und von dem Heine so schön sagt, wie es auch über ihn gekommen, wenn er noch so zweifelnd ein ehrwürdiges Gotteshaus betreten, ein Gefühl, das in dem alle scharfen Umrisse sanft auflösenden Mondlichte und in der Stille der Nacht nur an Intensität gewinnt, wo „das dumpfe Geräusch der schwatzenden, schwülen Gewerbe“ ruht und wir mit den Schatten der Vorwelt und unserm eigenen Selbst allein sind.

Am folgenden Morgen führte mich der mit der Leitung des Neubaus betraute Baumeister Kilburger, dem Halberstadt um die Erhaltung seiner kostbaren Holzarchitektur viel zu verdanken haben soll, zu näherer Betrachtung selbst an den Dom. Unstreitig reiht sich dieser den ersten Werken gothischer Kunst ebenbürtig an. Obschon in seinen einzelnen Theilen aus verschiedenen Perioden desselben Styles stammend, herrscht doch in seinem Grundriß und den innern Verhältnissen jene versteinerte Harmonie, die dem aufmerksamern Auge auch aus dem Walde der Strebepfeiler, Strebebögen, Säulen, Pfeiler, Thürmchen, Rosetten und Blumen entgegenklingt.

Die ältesten Theile sind die Thüren und der Kreuzgang; der schüchtern gebrochene Bogen des Portals, die Gesimse an Thüren und der Rose, die Halbsäulengruppen an Portal und Nischen, sowie die von aller überwuchernden Ornamentik freigelassenen Wände bekunden jenen Uebergangsstyl, der sich aus dem byzantinischen in der Normandie, in Italien und Deutschland zum romanischen Style, dem Vorläufer der Gothik, entwickelte. Der Längenbau hingegen ist rein gothisch, läßt aber drei Entwicklungsstufen deutlich erkennen. Die drei Paare Strebepfeiler, den Thürmen zunächst, mit ihren gedrückten Baldachinen und je zwei dürftigen Fialen stammen aus dem 13. Jahrhundert und lassen die innige Verwandtschaft des gothischen mit dem romanischen Styl klar vor Augen treten.

Auf das 14. Säculum weist die einfache und strenge Gothik des ganzen hohen Chors zurück, während die reiche Ornamentik der Querschiffgiebel und der sich ihnen anreihenden vier Paar Strebepfeiler nach den Thürmen hin mit je 5 Fialen dem folgenden Jahrhundert angehört, wo die Blüthe der christlich-germanischen Baukunst ihren höchsten, aber auch schnell verlöschenden Glanz errungen hatte. Erneuert sind im Außenbau bis jetzt die Thürme und das Langschiff der Kirche bis zu den Kreuzesarmen, und zwar in den alten Formen, wie sie bis zum letzten, 1578 begonnenen Umbau bestanden, mit Ausnahme der Thurmhauben, die, zierlich und schlank und in aller Proportion, weder romanisch noch gothisch sind. Man sagt, die Mauern der Thürme seien zu schwach, als daß sie steinerne Hauben tragen könnten.

Wir traten in das Innere. Das Langschiff, diese „geöffnete Bahn zum Tische des Herrn“, mit seinem imposanten Säulengange übte in seiner Totalität wieder den ganzen Zauber der Gothik, namentlich den rein erhabenen Eindruck auf mich aus, den die gewaltigen Dimensionen dieser Bauten (die Länge des Domes mit den Thürmen beträgt nach den neuesten Messungen 350 Fuß, die Höhe des Mittelschiffes 89 Fuß, die der Thürme bis zur Spitze 286 Fuß) auf das Gemüth auszuüben nie verfehlen. Dazu die 30 mächtigen Pfeiler, die, durch je 10 Halbsäulen reich modellirt, für Jahrtausende die kühn gebrochene Decke zu tragen bestimmt erscheinen, die Unsumme von Monumenten, die reiche, wenn auch weniger edle Ornamentik der Westseite des hohen Chors, die zahlreichen Altäre an den Wänden – wahrlich, Bischer hat Recht, wenn er sagt, daß die kolossale Größe das Innere zu einer Welt, einer geistigen Stadt macht, worin rührend jeder seine Seelenlabung allezeit haben kann. Aber nicht nur den Lebenden, auch den Todten ward hier heiliger Frieden geboten, und auf dem Fußboden reihet sich Inschrift an Inschrift, welche den nachwachsenden Geschlechtern die Namen der ewigen Schläfer da drunten, und mit diesen die Geschichte des Gotteshauses nennen. Zudem ist der Dom reich an archäologischen Schätzen, die zum berühmten „Domschatz“ zusammengestellt wurden und später vorn geschmackvoll renovirten Capitelsaal aufgenommen werden sollen – ein dankenswerthes Werk des königlichen Generalconservators von Quast.

Zahllose Kirchengewänder aus allen Jahrhunderten, kostbare Kirchengeräthe, viele Reliquien, Breviarien etc. wiederholen en miniature aber noch ausführlicher die Geschichte des Domes, deren Hauptzüge die gewaltigen Steinmassen draußen schon angedeutet, und mehrere bedeutende Maler, wie Lessing, haben für ihre Studien der Culturformen, mit denen sie die Gestalten ihrer großen historischen Gemälde umgaben, reiche Ausbeute hier gefunden.

Ich schritt allein durch die Thür der Südseite nach dem Kreuzgange und weiter auf den Friedhof; ich suchte nicht das Grab eines Kirchenfürsten, eines Edlen aus längstvergangener Zeit: ein einsames, unbekanntes, zerstörtes Dichtergrab zog mich hinaus, Deine verschüttete Gruft, armer Michaelis![1] Drüben hat man soeben Deinem Vater Gleim, der Dir für die letzten Tage Deines kurzen, schmerzenvollen Daseins Liebe und Trost gespendet, eine freundliche Stätte der Erinnerung eingeweiht, und in seinem Gärtchen prangt schon längst ein wohlverdientes, eisernes Monument; aber Du, der Du nichts gemein hattest mit diesen Dichtern der „Bagatelle“, Du, dem ein reicherer Dichterfrühling den Busen schwellte, der Du zuerst vor dem Gewaltigen, dem großen Briten, die Hände faltetest und die Bahnen ahnend voraussahst, die die deutsche Dichtkunst zu ihrer Vollendung wandeln mußte, Du lagst hier vergessen unter Graus und Steingeröll, bis man Deine Gebeine aufwühlte und auf den Schutthaufen warf, und noch Dein Grab ein Bild Deines Lebens ward, das von den Trümmern Deiner Hoffnungen erdrückt wurde! – – Dr. Franz Weber.



Schweizer Alpen-Bilder.
Nr. 3. Die Gemsjäger.
(Schluß)

Neben den Gefahren solcher unfreiwilligen Luftfahrten gab es aber für den passionirten Jäger noch andere, die ihm die Eifersucht der Concurrenten aus andern Cantonen oder dem benachbarten Auslande bereitete. Mit der zunehmenden Bildung sind diese Gefahren nun jetzt freilich meist verschwunden, und Jäger aus den verschiedenen Ländchen der Schweiz jagen nun auf den ehemals streitigen Grenzgebieten friedlich neben einander. Sie haben sich auf unsern großen nationalen Schützenfesten gegenseitig kennen und als Eidgenossen lieben und schätzen gelernt. Man klagt in unserer raschen Zeit gar häufig über die Verflachung des Volkes und über Verwischung der urfrischen Naturwüchsigkeit der Bewohner früher abgeschlossener Thalschaften, durch die Leichtigkeit der Verkehrsmittel. Zugegeben, daß der Dampf gar manche dieser Ureigenthümlichkeiten im Laufe eines halben Jahrhunderts zur blassen Mythe zusammenblasen wird – nimmt er aber dabei nichts Schlimmeres mit, als die Sitte, daß zwei tüchtige Burschen wegen

  1. Ein sehr talentvoller Dichter, dessen Lieder und Satiren in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts großes Aufsehen erregten. D. Red.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_278.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)