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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

eines elenden Gratthieres sich kugelnwechselnd das Lebenslicht ausblasen, so möchte denn doch allmählich das sentimentale Gewinsel um eine nichts weniger als sanfte Vergangenheit verstummen. Vor dreißig bis fünfzig Jahren, da ging’s freilich auf den Cantonsgrenzen selbst zwischen den lieben Eidgenossen mitunter noch so naturwüchsig her, daß der wärmste Anhänger alter Sitte und der passionirteste Romantiker damit vollkommen hätte zufrieden sein dürfen. – Besonders scheint dieses auch in den vielfach zerklüfteten, einsamen Gebirgsdistricten der Fall gewesen zu sein, welche die bernische Landschaft Saanen von dem gletscherreichen Oberwallis trennen. Die Mittheilung eines Freundes des Verfassers, der früher selbst passionirter Gemsjäger in den genannten Gebieten gewesen ist, und deren Wahrhaftigkeit wir verbürgen können, möge als ein kleiner Beitrag zu all den zahlreichen Geschichten dieser Art hier noch Platz finden.

Einer der berühmtesten und schlauesten Gemsjäger der Landschaft Saanen sah sich eines Morgens, als er eben einen schroffen Gebirgskamm zu überschreiten im Begriffe stand, plötzlich einem Walliser Jäger gegenüber, der sich vermuthlich seinen Braten auf bernischem Gebiete zu holen im Begriff stand. Der Walliser, offenbar seinem Gegenüber nicht trauend, besann sich nicht lange, spielte das Prävenire, riß seine Büchse an die Backe und sandte dem unbequemen Concurrenten seine dreilöthige Kugel zu. Der Berner sank blitzschnell zusammen und rollte rücklings hinter die Gebirgskante hinunter, die er soeben erstiegen hatte. Der Walliser eilte herbei, um dem Getödteten seine Büchse und Jagdgeräthschaften abzunehmen. Seine Ueberraschung war aber eine nichts weniger als angenehme, als, auf zehn Schritte nahe gekommen, der Erschossene gesund wie ein Fisch aufsprang und nun seinerseits dem Verblüfften den drohenden Büchsenlauf entgegenstreckte und ihm mit unsanfter Betonung zurief, daß nun sein letztes Brod gebacken sei. Der Walliser mußte sich gefangen geben, denn er hatte gegen alle Schützenregeln es unterlassen, seine einläufige Büchse frisch zu laden. Sein Gegner begnügte sich zwar, auf sein flehentliches Bitten mit der bloßen Abnahme der Waffen und Munition, einigen wohlgemeinten Püffen mit dem Gewehrkolben und ließ den Sünder dann ohne weitere Züchtigung seines Weges ziehen; daß aber solche und ähnliche Geschichten nicht immer einen so humoristischen Verlauf nehmen, das ist nach den Erzählungen mancher Jäger unzweifelhaft, so viel von dem bekannten Latein dabei auch mit unterlaufen mag.

Merkwürdig ist die auch von Tschudi bestätigte Thatsache, daß ein fallender Stein auf den am schwindelnden Rande hinschreitenden Jäger eine fast unwiderstehliche magische Anziehungskraft ausübt. Fast unaufhaltsam dränge es den Menschen, dem Steine nachzusehen in den Abgrund, besonders wenn er ganz nahe beim Fuße abfalle, und wer diesem Gefühle nachgebe, sei unrettbar verloren. Die Jäger wenden in solchen Fällen das Gesicht sogleich nach der Felsenseite und stehen einen Augenblick still, um den Schwindelanfall vorübergehen zu lassen, bevor sie weiter schreiten. Hie und da, und zwar besonders in den Schluchten des Engadins, begegnet dem Jäger die kleine Ueberraschung, daß er statt einer Gemse plötzlich einen brummenden Bären vor sich sieht. Da gilt’s dann ein gutes Zielen; denn wird Meister Petz nicht gut getroffen, so pflegt er den Scherz sehr übel zu nehmen, und marschirt aufrecht auf den Hinterbeinen mit verteufelt langen Schritten auf den ungeschickten Schützen heran, um ihn in seinen Tatzen zusammen zu drücken, wie eine Preßwurst. In solchen Fällen hat’s schon gar oft ein Ringen Körper gegen Körper abgesetzt, und beide Kämpfer sind ob der unbrüderlichen Umarmung zusammen den steilen Berghang hinabgerollt. Doch – kaum sollte man es glauben – hat darob Braun meistens den Kürzeren gezogen, weil ihm schließlich das Messer des Jägers zur Unzeit zwischen die Rippen fuhr. Freilich hat der Jäger alle Ursache, sich später noch lange an die unfreundliche Begegnung zu erinnern, die zuweilen nur mit ein paar gebrochenen Rippen und jedenfalls nie ohne Einbuße einiger Lappen von Kleidern und Haut abläuft.

Ueber die Ausrüstung des Jägers nur einige kurze Andeutungen. Seine Kleidung ist von grobem Stoffe von ungefärbter Wolle, mit sich führt er neben seiner Büchse von schwerem Kaliber – die Spitzgeschosse haben sich als nicht wirksam genug herausgestellt – einen mittelgroßen Alpstock, eine Jagdtasche mit Pulver, Blei und Fernrohr, und eine eiserne Kelle. Als Proviant pflegt er Käse, Butter und Brod und eine Portion gesalzenes, geröstetes Mehl mit sich zu nehmen, mittelst dessen er sich in der Kelle Morgens und Abends eine stärkende Suppe zu bereiten pflegt. Geht’s hoch her, so wandert auch ein Fläschchen Kirschengeist mit. Besondere Sorgfalt verwendet der Jäger auch auf seine Schuhe, die so ziemlich nach der Natur des stahlharten Gemsfußes eingerichtet, außerordentlich fest gearbeitet und mit spitzköpfigen Nägeln beschlagen sein müssen, um auf den Felsbändern, wie auf den Eisfeldern fest auftreten zu können. Eine gewöhnliche Fußbekleidung würde bei solchen Märschen noch vor Abend in Fetzen gehen und den Fuß zu wenig vor Verwundungen schützen.

Nach dem, was wir hier in gedrängter Kürze oft nur flüchtig andeuten konnten, ist es einleuchtend, daß die Gemsenjagd längst aufgehört hat, ein eigentliches Herrenvergnügen zu sein. Wohl ist’s auch bei den eigentlichen Gemsjägern weit mehr ein fast dämonisch wirkender Trieb, eine unbezwingliche Leidenschaft, wenn auch nobler, doch derjenigen des passionirten Spielers vergleichbar, die weit mehr als bloße Gewinnsucht diese kühnen Menschen zu den verwegenen, toddrohenden Gängen antreibt; aber die meisten davon sind denn doch unbemittelte, an Entbehrungen und Strapazen gewöhnte, wetterfeste Leute, die zudem mit den kleinsten Details der Gebirgsmassen vertraut sind. Mag es auch hie und da in den Zeitungen stehen, daß der oder jener Prinz oder Minister im Berner Oberlande einen kühnen Jagdausflug gemacht und auch glücklich einen prächtigen Bock geschossen habe, so gestehen wir denn doch, daß wir dabei stets eines bescheidenen Zweifels an der Richtigkeit dieser Angaben uns nur schwer erwehren konnten. Wir haben Gelegenheit gehabt, die Jäger, welche den Herren als Führer und Begleiter auf dem Ausfluge gedient hatten, ganz eigenthümlich lächeln zu sehen, wenn von solchem Jagdglücke die Rede war. Der Gemsjäger ist eine schweigsame und zudem sehr praktische Natur, und wird selten ausschwatzen, wie viel blanke Thaler ihm die Verzichtleistung auf die Ehre eines guten Schusses eingetragen haben mag.

Mit dem Gesagten soll indeß keineswegs die Behauptung aufgestellt sein, daß nicht hie und da Fremde und Ungeübtere mit Erfolg an Gemsjagden theilnehmen und einen glücklichen Schuß thun könnten. Es ist dieses besonders auf den weniger gefährlichen Treibjagden der Fall, wo eine größere Anzahl von kundigen Jägern sich zu einem gemeinsamen Jagdzuge vereinigen. Die Gemsen werden dabei so umgangen, daß ein Jäger dieselben in den unteren Weiden aufstört und langsam bergan treibt, während die Uebrigen die Pässe besetzt halten, welche die Thiere gewöhnlich zu wählen pflegen. Diese Pässe sind den Jägern meist sehr genau bekannt. Solche Jagden finden besonders häufig im Appenzeller Lande, am Säntis statt und gewähren nicht selten den in jenem reizenden Ländchen weilenden Curgästen ein schönes Vergnügen. So erzählte uns Dr. Jaumann, vormaliger Jägerpräsident des Ländchens, kürzlich ein solch frohes Jagdabenteuer am genannten Berge, an welchem verschiedene Deutsche, unter anderen auch ein Sohn des bekannten Professors der Theologie H. in Berlin und, wenn ich nicht irre, auch der berühmte Verfasser des Buches „das Thierleben der Alpenwelt“ selbst, Theil nahmen. „Die Gesellschaft,“ wir lassen hier den Erzähler sprechen, „sammelte sich schon vor Beginn der Morgendämmerung in der Gaststube des freundlichen Weißbader. Der Stazi, Büschli und der Sepi-Toni, alle drei ganz urwüchsige Appenzeller Bauernbuben und geriebene Wildschützen, waren für die Partie mit engagirt. Nach flüchtig eingenommenem, frugalem Frühstück machte man sich auf den Weg. Lautlos ging’s die ersten Anhöhen hinan, und in Zeit von zwei Stunden gelangten wir auf die Alp-„Hütten“, einen Standpunkt, von wo aus man mittelst der Ferngläser bequem das Gebirge ausspähen konnte. „Acht Stück!“ keuchte plötzlich Einer mit verhaltener Stimme, und so war’s auch. Der Richtung folgend, die der Mann uns mit seinem Instrumente andeutete, gewahrten wir richtig in bedeutender Entfernung im sogenannten Hüttenlaub das kleine Rudel, anscheinend harmlos grasend, während die Wachtgeiß, auf einem Vorsprunge unbeweglich dastand und nur den Kopf und den feinen Hals hie und da herumdrehte, um nach allen Seiten hin die Gegend zu inspiciren. Rasch wurde der Operationsplan gemacht. Wir bestanden zusammen aus acht Mann. Zwei Mann bildeten das Centrum, und wieder je zwei den linken und den rechten Flügel. Die zwei Uebrigen bekamen die Bestimmung, die Gemsen über den „Laseyer“ und oben hinüber über die „Glockeren“ (niedrigere Gebirgsstöcke) zu umgehen und thalwärts ihren gewöhnlichen Wechseln entgegen zu treiben.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_279.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)