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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

No. 21.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Zwei Welten.
Von Otto Ruppius.


1. Ein Abenteuer in den Alpen.

Es war Mittag, als er auf dem steil aufsteigenden, holprigen Pfade das Ende des Waldes erreichte und sein erster freier Blick auf eine Gruppe von Reisenden und Maulthieren traf, welche, den Berg herabkommend, wie in Erwartung eines Nachfolgenden, Halt gemacht hatten. Ein ältlicher, hagerer Mann mit sorgfältig rasirtem Gesichte war in lebhaftem Gespräche mit zwei Führern begriffen, bald nach der einen, bald nach der andern Seite des zerklüfteten Berges deutend, während ein zweiter, jüngerer von seinem Thiere herab die Gebehrden der Führer zu beobachten schien. Kaum war indessen der aufwärts steigende Wanderer sichtbar geworden, als auch der Aeltere sich rasch von der Gesellschaft wandte und ihm entgegenschritt. „Haben Sie wohl Jemand auf Ihrem Wege herauf getroffen?“ fragte er, leicht seinen Hut berührend, und sein Auge schien in Sorge die Antwort zu erwarten.

„Nicht, seit ich den Weiler am Fuße des Berges verlassen!“ gab der Angeredete bereitwillig zurück, und mit einem rathlosen Kopfschütteln drehte sich der Frager wieder nach seinen Begleitern.

„Es wird schon sein, wie ich gesagt,“ klang jetzt in englischer Sprache die Stimme des Reitenden, während ein deutlicher Zug von Verdruß sich in dem steifen, von einem dünnen Backenbarte umsäumten Gesichte geltend machte; „es wird wieder auf eine Ueberraschung hinauslaufen. Miß hat ihren eigenen Weg hinab gesucht und zuckt höchstens später die Achseln über unsere Besorgnisse.“

Der Aeltere wandte sich zögernd seinem Maulthiere zu, und der Befragte, welcher jetzt für die Reisenden nicht mehr vorhanden zu sein schien, schritt mit einem leichten Zusammenziehen der Brauen an der Gruppe vorüber.

„Der Ungezogenheit nach Engländer!“ brummte er; nach Kurzem indessen glitt ein Zug von Laune über sein Gesicht. „Möchte wohl einmal die potenzirte Arroganz dieser Miß sehen, die jede Sorge der Ihren mit Achselzucken abweist!“

Er schien, still vor sich hinlächelnd, das Bild zu verfolgen, bis er zu einer Höhe gelangt war, wo sich ihm ein freier Blick in das grüne Chamounythal, dem er entstiegen, und auf die wilde Alpenkette mit ihren Häuptern voll ewigen Schnees und blinkenden Eisgipfeln bot. Da ließ er, eine Weile rastend, das Auge rund um laufen.

„All that’s bright must fade!“ begann er mit Burns zu declamiren, „muß verwelken – und meine kurze Lust nur zu geschwind!“ fuhr er mit einem halben Seufzer fort. „Morgen geht’s wieder heimwärts, an den Actentisch, und dann wird’s heißen, ich habe nur eine Modereise gemacht, deren Kosten und Zeit ich wohl zu etwas Besserem hätte verwenden können. – Auch gut!“ nickte er, „der Freudenbecher in dieser Welt soll nun einmal seinen Bodensatz haben; des Menschen Beruf ist selten seine Wahl, und wenn Pflichterfüllung nicht oft schwer würde, wäre sie kaum eine Tugend – wir werden als tugendhafter Mensch wieder treu im alten Joche ziehen. Das Heute aber,“ setzte er, mit hellem Auge den Kopf hebend, hinzu, „gehört noch ungetrübt mir, und darum vorwärts!“

Die stattliche, jugendkräftige Gestalt, wie sie jetzt elastisch die Schwierigkeiten des steilen Bergpfades überwand, bot eine der Erscheinungen, an denen unwillkürlich das Auge des Beschauers haften bleibt. Das Ränzchen mit aufgeschnalltem Plaid, der Stock mit dem Gemshorn und die stark besohlten Schuhe deuteten den Fußreisenden an, während die einfache, aber fehlerlos sitzende Kleidung, die feine Wäsche und die ganze Weise seiner Bewegung den Mann aus der „guten“ Gesellschaft verriethen. Unter dem grauen, niedrigen Filzhute blitzten ein Paar lebendige, jeden Gegenstand mit Bestimmtheit erfassende Augen hervor, und der dunkelblonde, wenn auch noch weiche Schnurrbart gab seinen frischen Zügen einen wohlthuenden Ausdruck von Männlichkeit.

Nach einer halben Stunde kräftigen Aufsteigens begann eben das „Hospiz“, eine als Erfrischungslocal ausgebaute steinerne Hütte, vor seine Augen zu treten, als ein plötzliches donnerähnliches Geprassel aus scheinbar geringer Entfernung, von zahllosen nach und nach verhallenden Schlägen gefolgt, ihn auffahren ließ. Es klang, als breche ein ganzer Berg zusammen und sende seine Felsenmassen in einzelnen riesigen Stücken in’s Thal hinab; es war nicht der Donner der Lawine, es war das ganz bestimmte Geräusch eines massenhaften Einstürzens und Zerschellens, das aber nach kaum zwei Minuten in einzelnen, aus der Ferne herüberklingenden Lauten erstorben war.

Eine kurze Weile noch horchte der Wanderer, aber kein Ton störte mehr die tiefe Stille der Gebirgswelt, und mit einem Kopfschütteln der Verwunderung begann er in bequemerem Schritte den geringen Rest der Höhe zu ersteigen; kaum hatte er aber den Bergrücken neben dem „Hospiz“ erreicht, als auch vor dem ihm werdenden Anblicke die kaum erlebte Ueberraschung vergessen schien. Das sogenannte Eismeer, der ebene, zwei Stunden weit sich erstreckende Gipfel des Bois-Gletschers, lag in seiner ganzen Ausdehnung und wilden Pracht vor ihm. Dunkele riesige Felsenmassen, nur auf ihren Häuptern mit blendend weißem Schnee geschmückt, ummauerten zu zwei Dritttheilen die Eisfläche und boten in ihrer rauhen Nacktheit und zerrissenen Form ein Bild, das durch seine Majestät erhob und in seiner trostlosen Oede zugleich niederdrückte.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 321. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_321.jpg&oldid=- (Version vom 11.2.2020)