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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

nur um seiner Täuschung völlig sicher zu werden, ließ er den frühern Hirtenruf über die Felsenhäupter klingen – ein zehnfaches Echo antwortete; mitten darunter aber tönte ein so heller Ruf aus geringer Entfernung, daß der junge Mann ein unwillkürliches Aufzucken nicht hindern konnte; umsonst aber flog sein Auge nach der Richtung des Schalles, um den Aufenthalt der Rufenden zu entdecken – überall blickte ihm nur der nackte, ungebrochene Kamm der Felsen, welche jenseits steil hinabfielen, entgegen. Von Neuem klang sein Schrei, von Neuem kam die Antwort, kam deutlich jenseits des Felsenkammes herauf, und mit einem Kopfschütteln der Ueberraschung hielt der Suchende die Augen fest auf die Stelle geheftet, wo die Stimme laut geworden. Mit zehn vorsichtigen Schritten ließ sich der Punkt erreichen, als aber der junge Mann sich der Kante des Felsenzuges genähert, legte er sich platt auf den Boden und schob dann seinen Körper langsam vor, bis er tief unten den von ihm früher verfolgten Fußpfad erblicken konnte. Noch einige Zoll weiter vorgerückt, bemerkte er etwa zehn Fuß unter sich den Beginn eines Absatzes an dem Felsen, welcher mit dem abgelösten Theile der benachbarten Wand in Verbindung gestanden zu haben schien und sich in seiner Fortsetzung verbreiterte. Als er jetzt seine Stimme hören ließ, klang es nur einige Schritt seitwärts in halb gebrochenem, den englischen Accent deutlich verrathendem Französisch herauf: „Hierher, Monsieur, und wenn Sie etwas, das als Seil dienen kann, bei sich haben, so lassen Sie es herab, ich denke mir dann selbst helfen zu können!“

„Nur einen Augenblick Geduld, Miß!“ gab der Angerufene in völlig schulgerechtem Englisch zurück, sich rasch der Gegend des Tones zuwendend, und in der nächsten Secunde war er bereits mit dem Oeffnen seines Ranzens beschäftigt. Das Seil erschien, und im Fluge begann er eine lange Reihe von Knoten hineinzuknüpfen. An den nächsten geeigneten Granitblock befestigte er das entgegengesetzte Ende und ließ dann die Knotenseite nach der Abgeschnittenen hinab. „Versuchen Sie nur, sich heraufzuarbeiten, bis meine Hand Sie erreichen kann,“ rief er, sich wieder platt auf den Boden streckend, und unmittelbar darauf sah er auch das Seil sich anspannen. Mit angehaltenem Athem wartete er; er wagte es nicht, den Kopf weit über den Abgrund zu strecken und damit die eigene feste Lage für die nothwendig werdende Hülfe zu gefährden, obgleich ihm dadurch der Blick in die Tiefe entging – da sah er in seinem Gesichtskreise einen niedergebogenen Kopf voll braunen, goldig schimmernden Haares erscheinen, hinter welchem der zurückgeworfene Strohhut an einem Bande hing, zwei schmale Schultern folgten, und mit fester Hand griff jetzt der junge Mann unter beide Arme der Heraufkommenden. In diesem Augenblicke aber schien es, als werde diese von ihrer Kraft verlassen; mit einer Schwere, welcher der Daliegende kaum gewachsen war, fühlte er plötzlich die ganze Last des Körpers an seinen Händen hängen und in aufsteigender Angst rief er: „Noch eine einzige kurze Anstrengung, Miß, und Sie sind oben; stemmen Sie die Kniee gegen die Felsen; jetzt –!“ eine sichtbare Anstrengung erfolgte, und mit einem kräftigen Zuge riß er den Oberkörper der Gefährdeten über die Felsenkante herauf. Krampfhaft faßte sie hier nach dem am Boden hinlaufenden Seile, in der nächsten Secunde aber war auch Jener auf seinen Füßen, ihr mit einer kurzen Anstrengung zur völligen Erreichung des sichern Grundes verhelfend. Sie erhob sich an seiner Hand langsam von ihren Knieen – und eine hohe, schlanke Gestalt, deren jugendlich volle Formen das eng anliegende, bis zum Halse geschlossene Kleid deutlich abzeichnete, ein bleiches Gesicht mit großen, dunkelbeschatteten Augen traten vor den Blick des Helfers. Sie that zwei Schritte von dem Abgrunde hinweg, dann aber streckte sie im plötzlichen Wanken die Hand nach seiner Schulter aus.

„Warten Sie, Miß, bis Sie sich erholt haben!“ rief er, rasch zu ihrer Unterstützung herantretend, und zwei Secunden lang fühlte er eigenthümlich erregt die schmiegsame Gestalt wie gänzlich machtlos an seinem Körper ruhen; kaum aber mochte sie sich des Drucks seines unterstützenden Armes bewußt werden, als sie mit einem leichten Zucken sich aufrichtete und die Hand gegen die Augen, drückte. „Es ist nur ein augenblicklicher Schwindel,“ sagte sie halblaut, „ich habe heute fast noch nichts genossen!“

„So erlauben Sie mir, daß ich Ihnen anbiete, was ich für derartige Nothfälle bei mir führe,“ versetzte er eifrig, mit den Augen nach einem passenden Orte zum Niedersitzen suchend, „es wird wenigstens das dringendste Bedürfniß befriedigen!“

Ohne Widerstand zu finden, hatte er sie nach dem nächsten niedrigen Steinblock geführt, sein Plaid war rasch gelöst und breitete sich über den kalten Sitz, und als sie sich niedergelassen, zog er aus seinem Ranzen eine Korbflasche mit Kirschwasser und einige Chocoladentafeln. „Nehmen Sie hier einige Tropfen, die jedenfalls Ihre augenblickliche Schwachheit beseitigen werden, und dann essen Sie,“ sagte er, seine Vorräthe in ihren Schooß legend, „ich werde sehen, daß ich Wasser für Sie schaffe! –“

Als er nach fast halbstündiger Abwesenheit mit seinem gefüllten ledernen Becher die Höhe wieder erreichte, stand das Mädchen emporgerichtet, aufmerksam den Horizont musternd, und der junge Mann hielt unter einem plötzlichen Eindrucke, den ihr jetziger Anblick auf ihn machte, einige Secunden lang seinen Schritt an. Der von dem üppigen dunkeln Haar umschlossene Kopf hob sich in eigenthümlicher Sicherheit auf dem weißen, stolzen Halse, während das halb abgewandte Gesicht eine fast classische Reinheit der Linien zeigte; ihre rechte Hand stützte sich auf das Felsenstück, und der leicht zurückgebogene Oberkörper ließ die ganze Schönheit ihrer Formen hervortreten. Es lag etwas wie das Bewußtsein einer hervorstechenden Lebensstellung, wie die Gewohnheit des Gebietend in ihrer Erscheinung, und als er sich unwillkürlich hierzu das kalte, stolze Achselzucken dachte, das er nicht aus dem Sinne bringen konnte, fühlte er, daß ein unvorsichtiges Herz wohl lebenslänglich durch sie elend werden könne. Kaum mochte sie aber die Schritte des Nahenden vernommen haben, als sie auch langsam den Kopf nach ihm wandte, und ein so volles, klares Lächeln breitete sich über ihre Züge aus, daß er in einer seltsamen Empfindung alle bisherigen Vorstellungen von ihrem Wesen in sich zusammenbrechen fühlte. Sie hatte einen raschen Blick über sein ganzes Aeußere geworfen und streckte ihm dann mit einem kaum merkbaren Erröthen die Hand entgegen. „Ich glaube, Sir, Sie haben mich vom Verschmachten errettet,“ sagte sie mit einer Stimme, deren sonore Fülle einer Modulation bis zum tiefen Alt fähig zu sein schien, „aber ich werde mich hier nicht lange bei meinem Danke aufhalten dürfen; dort drüben sind Wolken heraufgekommen, aus denen unsere Führer uns immer Regen im Verlauf der nächsten Stunde prophezeit haben.“

Der Blick des jungen Mannes hatte sich zwar mechanisch in der angedeuteten Richtung gehoben, senkte sich aber eben so unbewußt wieder in die großen Augen vor ihm, die kaum eine bestimmte Farbe zu haben schienen und je nach den wechselnden Seelenregungen bald sich zu einem dunkeln Blau aufhellten, bald zu einem vollen Schwarz sich vertieften; er hatte die weichen Finger des Mädchens mit einem leisen Druck in seiner Hand gefühlt und sie unwillkürlich festgehalten – da trat ein höheres Roth als vorher in ihre Wangen. „Sie haben Wasser hier, es wird mir gut thun,“ sagte sie, ihre Hand leicht befreiend und nach dem Becher greifend, „und nun lassen Sie uns keine Minute länger hier verziehen!“

„Wenn Sie nur schon stark genug für einen beschwerlichen Rückweg sind,“ erwiderte er, schnell zu sich selbst kommend, „selbst der Pfad, der Sie jedenfalls heraufgebracht hat, kann nicht frei von Schwierigkeiten sein –“

Ein rascher Aufblick traf ihn, dann sah sie in die Weite und zuckte kurz und wortlos die Achseln. Da war es! Schon im nächsten Augenblicke aber schien sie die Bewegung zu bereuen und wandte das Gesicht, in dem ein Lächeln mit einer stolzen Regung zu kämpfen schien, nach ihm zurück. „Sie haben mich freilich einen Augenblick schwach gesehen,“ sagte sie, ihren Hut losbindend und ihn wieder auf ihrem Kopfe befestigend, „das ist indessen vorüber, und ich hoffe, Sie nicht wieder daran zu erinnern. Lassen Sie uns die Zeit hier nicht länger verbringen!“

Er hatte schnell genug seine dem Ranzen entnommenen Habseligkeiten an ihren früheren Plätzen geborgen, jenen wieder auf den Rücken geworfen und folgte, den Plaid über dem Arme tragend, dem bereits vorausgeschrittenen Mädchen. Ein prüfender Blick über den Horizont hatte ihn von der raschen Aenderung des Wetters überzeugt, die Luft war fühlbar kälter geworden, und als er einen Blick nach seiner Begleiterin warf, fiel ihm erst deren dünne Bekleidung auf.

„Hatten Sie nicht einen Ueberwurf, Miß, als ich Sie zuerst sah?“ rief er der Voraneilenden zu. Sie wandte kurz den Kopf zurück, ohne ihren Schritt anzuhalten. „Er liegt da, wo Sie mir heraufhalfen,“ erwiderte sie mit leichtem Lachen, „ich konnte ihn

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 323. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_323.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)