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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)


Da nun gerade jetzt nach des edlen Kaisers Alexander II. Willen nicht nur in ganz Rußland ein selbstständiger Bauernstand geschaffen werden soll, sondern da auch die adeligen Herren wieder Berathungen pflegen, um die bäuerlichen Verhältnisse mit neuen Regeln zu befestigen, so halten wir es für zeitgemäß, an den Zuständen der Bauern in Esthland ein Beispiel zu zeigen, wie die Bauernordnungen nicht sein dürfen, wenn sie nicht dazu bestimmt sein sollen, ein Volk mit Leib und Seele in eine Knechtschaft zu bannen, die härter und verderblicher wirkt, als jede Leibeigenschaft und Sclaverei.

Man wundere sich nicht, daß die russische Presse, die uns seit dem jüngsten Regentenwechsel mit so manchem freien Urtheil überrascht, sich dieses einheimischen Gegenstands nicht bemächtigt habe. Der Freimuth derselben ergeht sich nur über die speciell russischen Interessen. In den Ostseeprovinzen herrschen deutsche Interessen vor, hier gebietet ein deutscher Adel über unterjochte Völker, und ein deutscher Censor über das unterjochte Wort. Wer gegen beide ankämpft, verfällt dem Gericht beider, denn alle Aemter und Stellen, für welche nicht ein Gelehrter, also ein Deutscher, durchaus nothwendig ist, sind vom Adel besetzt, d. h. wieder von Deutschen. Soll demnach den armen Esthen geholfen werden, so kann dies nur durch die Presse ihrer ärgsten Feinde geschehen, durch die deutsche, aber die in Deutschland; und so ist es auch hier die ehrende Aufgabe der freien deutschen Presse, Das möglichst wieder gut zu machen, was ein herrsch- und habsüchtiger deutscher Adel an einem fremden Volke gesündigt hat.

Es würde den feudalen Blättern in Deutschland vielleicht noch lange gelungen sein, die Zustände der esthnischen Bauern vom Gesichtspunkte ihrer Herren aus darzustellen und damit die allgemeine Theilnahme an dem Zustande des unterdrückten Volks zu beseitigen, wenn nicht ein Menschenfreund zuerst nach 60 Jahren (nach G. Merkel[1]) es wieder gewagt hätte, den Schleier vor der Wahrheit hinwegzureißen. Es geschieht dies in dem Buche: „Der Esthe und sein Herr. Zur Beleuchtung der ökonomischen Lage und des Zustandes der Bauern in Esthland. Von Einem, der weder ein Esthe noch dessen Herr ist“ (Berlin 1861)[WS 1]. Der auf Actenstücken und Thatsachen beruhende Inhalt dieser Schrift stimmt mit unseren brieflichen Nachrichten aus Esthland genau überein. Aus beiden theilen wir jedoch nur das Wesentlichste hier mit.

Der Esthe auf seinem Heimathboden ist ein weit traurigeres Bild, als der Jude in Palästina. So tief ist der letzte Rest von Selbstgefühl und Selbstachtung dieses armen Volkes niedergetreten, daß es für den Einzelnen als erste Bedingung für sein Emporstreben aus dem Elende des Bauernstandes gilt, die eigene Nationalität aufzugeben und beharrlichst zu verleugnen. Ist hier doch sogar der Begriff „Bauer“ mit dem Namen „Esthe“ zusammengeschmolzen, denn der Esthe kann nur Bauer und der Bauer nur Esthe sein, dafür haben Diejenigen gesorgt, welche in Esthland allein nicht Esthen sind.

Um aber die Zustände des Esthenvolkes in der Gegenwart zu erklären, müssen wir einen Blick auf seine Vergangenheit werfen.

Unsere Leser wissen, daß Esthland eine vor ungefähr 150 Jahren von Schweden an Rußland gekommene Provinz am finnischen Meerbusen und der Ostsee ist und Livland zum südlichen Nachbar hat.

Die Schwedenkönige hatten dem vorher durch die Adeligen, Priester, Mönche und Kaufleute schwer gedrückten und aller Freiheit beraubten Volke manche Rechte wiedergegeben und manchen Schutz angedeihen lassen, den nachhaltigsten durch die Einführung der sogenannten Wackenbücher, Bücher, in welchen für jedes Gut „die Ländereien der Bauern, so viel diese von den Herren zur Benutzung hatten, taxirt und nach ihrem Werthe die Leistungen der Bauern bestimmt waren.“ Was nicht im Wackenbuche stand, durfte nicht vom Bauer gefordert werden. Als jedoch im Jahre 1710 Esthland an Rußland kam, suchte Peter der Große den neuen Besitz sich dadurch zu sichern, daß er dem Adel alle seine Privilegien bestätigte. Darunter verstanden die Edelleute jedoch nicht die durch die schwedischen Verordnungen beschränkten Rechte, sondern ihre frühere Vollgewalt über Person und Eigenthum der Esthen, und zu diesen griffen sie im vollkommensten collegialischen Einverständniß zurück.

Schon die Kaiserin Katharina II. hatte den schweren Druck des Esthenvolkes und seine Ursachen erkannt, schon sie hatte dem Adel geboten, „dem Bauer volles Eigenthumsrecht an dem Erwerbe seines Fleißes zuzugestehen“, aber – diese kaiserliche Anordnung blieb das Geheimniß des Adels, er machte sie dem Volke nicht bekannt – „aus Furcht vor Mißverständniß“, wie er sagte.

Erst mit Kaiser Alexander I. beginnt die Zeit der sogenannten „Regulative für die Verbesserung des Zustandes der Bauern in Esthland.“ Von dem Drängen der Regierung einerseits, wie von der steigenden Unzufriedenheit der Esthen andrerseits genöthigt, übergab die Adelsversammlung von 1802 dem geduldigen Papiere Beschlüsse, die abermals das von der russischen Regierung Gewünschte zu bezwecken schienen. Es ist aber eine höchst traurige Thatsache, daß gerade von der Zeit an, zu welcher die Sorge der kaiserlichen Regierung immer entschiedener für die Herstellung besserer Ordnung in Esthland hervortrat, sich das Loos der Bauern verschlimmerte, denn nun trat an die Stelle der ehemaligen offenen Gewalt die vor den Augen der Regierung scheue List. Die Fassung der Adelserlasse über die Bauernverhältnisse wurden zwar immer reicher an humanem Anstrich, aber für jeden bauernfreundlichen Satz war das Hinterthürchen sicher, und – der Bauer blieb der niedergetretene, ausgesogene und gepeitschte Sclave, trotz der Regulative von 1802 und der von 1805, durch welche abermalige Mahnungen der kaiserlichen Regierung beschwichtigt werden sollten.

Es ist uns nicht möglich, in die Einzelnheiten der Bestimmungen dieser Regulative wie der Bedrückungen der Bauern einzugehen. Zum Verständniß im Allgemeinen nur Folgendes: Von jeder Tonne (ungef. 2 1/2 Magdeb. Morgen) Aussaat hat ein Bauerngesinde (Bauernhof) dem Gutsbesitzer wöchentlich einen Anspanns- und einen Fußtag[2] zu leisten; wer sechs Tonnen Aussaat zu bestellen hat, auf den kommen 600 Frohntage (in Livland nur 400). Mit solch einer Frohn hält der Adel seine Felder noch nicht für hinlänglich verwerthet, er fordert von jedem Gesinde noch als „Gerechtigkeit“ (was muß das Wort sich gefallen lassen!!) Naturalleistungen an Roggen, Gerste, Hafer, Heu – nicht weniger als den 9. Theil der gesammten Ernte der Bauern, und außerdem muß für den Herrn noch gesponnen und gedroschen werden, Alles nach streng vorgeschriebenem Maße. Diese durch die „Verfassung“ etc. durchaus nicht gerechtfertigte Naturalleistung kann aber der Herr sogar in Arbeitstage verwandeln, und zwar nach seiner Berechnung, und dann hat der Bauer von Glück zu sagen, wenn von den ungünstigsten Zeiten für die Feldarbeiten nur noch etwas für ihn übrig bleibt. Leisten muß er’s, sonst kommen die Stock- und Ruthenschläge der Hauszucht über ihn.

Auch das Regulativ von 1805 fiel vor der Angst des Adels über den abermals drohenden Eingriff der kaiserl. Regierung in die faulen Verhältnisse des Landes, und um vor Allem die speciellen Messungen der Güter (die zur Berichtigung der Wackenbücher und folglich zu Gunsten der Bauern hätte wirken müssen) zu vermeiden, baten die esthnischen Edelleute den Kaiser im Jahre 1811 um gänzliche Aufhebung der Leibeigenschaft, jedoch unter der Hauptbedingung, „daß den Gutsbesitzern das Eigenthum an Grund und Boden verbleibe,“ und der fernern, „daß den der Erbunterthänigkeit entlassenen Bauern eine entsprechende Verfassung ertheilt werde, nach welcher die Ackerbauer für eine gewisse Zeit zum Aufenthalt innerhalb der Grenzen der Provinz verpflichtet blieben.“

Auf diesem Grunde erwuchs das dritte Regulativ oder die Bauern-Verordnung von 1816.

Es war ein Edelmann, welcher den gerade für die Gegenwart Rußlands sehr denkwürdigen Ausspruch that: „Erst mit der Freilassung der Bauern hat der esthländische Adel das Land vollständig erobert.“

Der Bauer war frei von der Leibeigenschaft und der Erbunterthänigkeit, aber man hatte ihm nichts zum Leben gegeben. Er hatte allerlei Rechte durch dieselbe Verordnung erhalten, welche ihm den Genuß derselben unmöglich machte. Der Bauer konnte nicht ohne Land existiren, er mußte es vom Gutsherrn pachten; anstatt daß aber ein Gesetz wenigstens annähernd ein Maß für

  1. Garlieb Merkel, ein geborener Livländer, der 1850 in Livland 74 Jahre alt starb, schrieb: „Die Letten“, „die Vorzeit Livlands“ und „Darstellungen und Charakteristiken aus meinem Leben“, auch gab er 1803 in Berlin (mit Kotzebue) den „Freimüthigen“ heraus.
  2. Die Frohn zerfällt in Fuß- oder Handtage, d. i. die Tagesfrohn eines Menschen blos mit seiner Kraft, und in Anspannstage, Gespann- oder Pferdetage, d. i. die Tagesarbeit eines Menschen zusammen mit einem Pferde oder zwei Ochsen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Autor: Wassili Timofejewitsch Blagoweschtschenski
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_330.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)