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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

ich wohl nur ein Auge für die Weite und nicht für die mich umgebenden Formationen hatte. Ich erreichte endlich die Höhe des Gebirgskamms und empfand hier einen wunderlichen Reiz, mich am Rande der jäh hinunter fallenden Steinwand zu sehen. Ein Stück unter mir war ein eigenthümlicher Vorsprung, der wie ein Altan über dem Abgrunde hing, und ich bekam ein unwiderstehliches Gelüste, mir einen Weg dahin zu suchen; ich sah auch bald einen zugänglichen Absatz, der mich völlig gefahrlos nach der Stelle leiten mußte; kaum habe ich mich aber einige Schritte jenseits des Kammes hingewagt, als sich ein Stück Felsen unter meinen Füßen loslöst und mir eben noch Zeit läßt, nach dem wahrgenommenen Absatze hinab zu springen, und wäre es möglich, daß ein so leichter Sprung eine Erschütterung auf diese Felsenmassen ausübte, so müßte ich glauben zu dem darauf Folgenden die unmittelbare Ursache gewesen zu sein. Mit dem Momente, wo ich festen Boden erreiche, bricht neben mir ein Getöse los, daß ich meine, das ganze Gebirge stürzt mit mir zusammen, und als ich nach einer kurzen Betäubung, in die mich Lärm und Schrecken versetzt, wieder meiner Sinne völlig mächtig werde, sehe ich meinen Altan sammt einer Strecke des bisherigen Felsenabhanges verschwunden, und mit ihnen auch meinen Pfad zur Gebirgsspitze – ich war abgeschnitten.“

„Und wie fühlten Sie, Miß?“ frug der junge Mann, seinen Kopf auf den vom Knie getragenen Arm stützend und so das lebendige Gesicht des Mädchens beobachtend.

„Behaglich allerdings nicht,“ lachte sie heiter, „aber ich hatte eine bestimmte Vermuthung, daß die Richtung, in welcher ich mich vom Hospiz entfernt, bemerkt worden sei, und erst als mein Harren auf Erlösung stundenlang vergeblich war, mußte ich annehmen, daß meine Begleiter, in der Erwartung, ich sei vorausgegangen, den Weg nach dem Thale eingeschlagen hatten.“

„Sie nannten mir einen Namen aus Ihrer Begleitung,“ sagte er nach einer Pause, in welcher sie das bereits nachlassende Wetter zu beobachten schien; „würden Sie mir nicht auch noch einen andern nennen, Miß?“

Ein höheres Roth trat rasch in ihr Gesicht und ging wieder. „Namen?“ erwiderte sie, halb das Gesicht nach ihm wendend, „wozu? Namen bringen uns sofort unter den ganzen Zwang der Gesellschaft zurück; ich habe jedenfalls die Pflicht, den Ihren kennen zu lernen, aber ich habe aus demselben Grunde bis jetzt vermieden, danach zu forschen. Denken Sie,“ fuhr sie fort, das Auge wieder nach außen wendend, „wir seien zwei Menschen, die sich auf einer wüsten Insel getroffen, und nennen Sie mich nach Ihrem Belieben.“

„Ich kenne,“ sagte er langsam, „eine englische, wunderbar hübsche Geschichte von einem Ritter und einer Prinzessin, die sich allein aus dem Schiffbruch auf eine wüste Insel gerettet und dort gleichfalls ihrer Namen und des fernliegenden gesellschaftlichen Zwanges vergaßen –“

Sie erhob sich plötzlich und trat an den Eingang, wo das Wasser mit derselben Schnelle, in welcher es erschienen, auch schon fast ganz wieder verschwunden war. Er blickte ihr einige Secunden lang nach und preßte dann die Augen in seine Hand. So lange er denken konnte, war ihm noch kein Charakter in so seltsamer Veränderlichkeit des Ausdrucks begegnet, und doch lag in diesem raschen Wechsel ihrer Seelenstimmungen, von denen jede ihre volle Berechtigung zu haben schien und sich ohne Hehl in dem klaren Spiegel ihrer Züge abzeichnete, etwas so wunderbar Fesselndes für ihn. Es schien, als sei sie durch seine weitere Anwendung des Bildes von der wüsten Insel beleidigt worden; dennoch konnte der Sinnende bei dem Gedanken daran ein Lächeln eigenthümlicher Befriedigung nicht unterdrücken und unwillkürlich versuchte er, sich den Ausdruck ihres Gesichts, welchen sie ihm jetzt verbarg, vor die Seele zu stellen.

Erst als er eine leichte Berührung seiner Schulter fühlte, fuhr er aus seinen Gedanken auf. Sie stand halb nach ihm gewandt und deutete in die Schlucht hinaus, in welcher sich ein Sonnenstrahl an dem feuchten Gestein brach. „Wir können gehen!“ sagte sie und drückte den Hut wieder leicht in ihr Haar; umsonst aber strebte der junge Mann in ihren Zügen zu lesen, sie waren unbeweglich und kalt, und kaum hatte er nach seinem Gepäck gegriffen, als sie auch schon in’s Freie trat, ihm voran die Schlucht weiter verfolgend.

Das Wetter hatte sich völlig verzogen, der Boden zeigte nur noch einzelne mit Wasser gefüllte Vertiefungen, und schweigend waren Beide eine Weile zwischen den Felsenwänden hin geschritten, als plötzlich die enge Gasse sich erweiterte und nach wenigen Secunden eine freie Aussicht über die von der sinkenden Sonne vergoldeten Firnen und Gletscher sich öffnete, und hier war auch ein roher Steg über einen Felsenspalt geschlagen. „Da ist der Pfad, jetzt erkenne ich ihn wieder; wir waren also doch auf rechtem Wege!“ wandte sie sich kurz zurück und überschritt dann leicht und sicher das noch vom Regen nasse Bret. Eilfertiger, als wolle sie dadurch jedes Gespräch vermeiden, wanderte sie jetzt voran, bald zeigte auch der rauhe Boden häufigere Spuren der ebnenden Menschenhand, und der Nachfolgende begann seine Gedanken bereits dem Ende ihres Weges am Hospiz, wo wahrscheinlich seine Verabschiedung statt finden würde, zuzuwenden, als das Mädchen plötzlich ihren Schritt anhielt und leicht den Kopf vorstreckend nach der Tiefe hinab lauschte. Jetzt klang es auch zu den Ohren des jungen Mannes wie einzelne entfernte Menschenlaute. Die Horchende schien kaum ihrer Wahrnehmung sicher zu sein, als sie sich rasch umwandte und ihrem Begleiter zurückzubleiben winkte. „Wir müssen uns hier trennen, Sir,“ sagte sie rasch herantretend, „ich höre meines Vaters und Mr. Graham’s Stimmen, die jedenfalls auf dem Wege sind, mich aufzusuchen, und ich mag diesem Mr. Graham nicht die Freude gönnen, ihn eine Verlegenheit wissen zu lassen, aus der ich mir nicht selbst helfen konnte.“ Sie hielt inne, und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck von Unsicherheit an, aber sie wich dem Auge des jungen Mannes nicht aus, in welchem sich alle die widerstreitenden Empfindungen, welche dieser plötzliche Abschied in ihm hervorrief, widerspiegelten. „Ich habe Ihnen noch nicht für den Dienst, den Sie mir erwiesen haben, gedankt, Sir!“ fuhr sie dann zögernd fort, während langsam ein höheres Roth in ihre feinen Züge trat, „haben Sie Ihre Karte bei sich?“

Er griff wortlos nach seinem Portefeuille; sie nahm die Karte mit der fein gestochenen Adresse: „Hugo Zedwitz, Kammergerichtsreferendar, Berlin,“ und barg sie unbesehen in der Tasche ihres Kleides; dann reichte sie ihm die Hand und schloß ihre Finger fest um die seinigen. „Wir werden uns kaum jemals wieder sehen, Sir,“ sagte sie in den weichen, tiefen Tönen ihrer Stimme, „und so endete ja auch die Geschichte von der wüsten Insel, als das Paar noch rechtzeitig genug entdeckt wurde. – Good bye denn!“ schloß sie, aber der junge Mann sah ihr Auge, in dessen dunkler Tiefe ein eigenthümlich weicher Ausdruck aufgestiegen war, noch immer in dem seinen hängen, fühlte noch immer den Druck ihrer Finger, ihre frischen Lippen blühten ihm entgegen, und von der plötzlichen Ahnung eines unerwarteten süßen Gewährens erfaßt, hatte er leicht ihre Gestalt umschlungen und seinen Mund auf den ihren gedrückt, ehe er sich nur des Entschlusses dazu klar geworden war. Sie hing ohne Sträuben in seinem Arme; als er aber, wie von einem Rausche des Glücks überkommen, sie fester an sich zog, wand sie sich leicht und kräftig los. „Genug des Abschieds, Sir!“ sagte sie hastig; noch einen kurzen Handdruck fühlte er, und dann hatte sie sich weggedreht, mit leichten, eiligen Schritten den Weg nach der Tiefe verfolgend.

Als sie, ohne sich umzublicken, hinter der nächsten Felsenecke verschwunden war, setzte er sich am Rande des Pfades nieder und drückte das Gesicht in beide Hände, als müsse er das Erlebniß erst in sich zum vollen Bewußtsein kommen lassen.




2. Eine Wiederbegegnung und deren Folgen.

Vier Wochen waren vergangen.

„Aber was ist es denn, mit klaren, bestimmten Worten ausgedrückt, das mir zur Last gelegt wird? Ich glaube mich zu den solidesten jungen Männern ähnlicher Stellung in Berlin rechnen zu dürfen, ich arbeite so fleißig als irgend einer meiner Collegen, und wenn Jemand sich über mein Herz oder über mangelnde Pietät meinerseits zu beklagen hat, so ist es sicherlich nicht mein Vater!“

Der Referendar Zedwitz war es, der soeben einen raschen Gang durch sein Zimmer unterbrochen hatte und während der unmuthig gesprochenen Worte in der Mitte desselben stehen geblieben war.

Vor ihm auf dem Sopha lehnte ein junger Mann in wohl gleichem Alter mit dem Sprechenden; während aber die ganze Erscheinung des Letzteren Eleganz und die leichte Beweglichkeit des Großstädters zeigte, drückte sich in dem schlicht geordneten Haar, dem einfachen Schnitt der Kleidung und der anspruchslosen Haltung

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_338.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)