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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Es ist Pflicht, hier auch der Wahrheit die Ehre zu geben, daß in Esthland einige edeldenkende Adelige leben, die ihren Bauern Etwas gönnen und unter deren Obhut einzelne Pächterfamilien zu wirklichem Wohlstand gelangt sind. Die Namen dieser wirklich Edlen kennt man im ganzen Lande, und kein Esthenmund spricht sie aus, ohne sie mit Segensworten zu begleiten. Trotz alledem ist dies nur Gnade, die beliebig gewährt wird, kein Recht, auf das der Pächter für seine und der Seinen Zukunft bauen könnte.

Von diesen wenigen humanen Edelleuten ging der Anstoß zu der neuesten Bauern-Verordnung von 1856 aus, die im Jahre 1858 die kaiserliche Genehmigung erhielt und publicirt wurde. Die Vorbereitungen dazu hatten schon 1842 begonnen. Das Drängen der Regierung im Jahre 1848 brachte größere Eile in die Berathungen; sie hatte abermals den esthnischen Adel auf die weit besseren bäuerlichen Verhältnisse in Livland hingewiesen. Das neue Verfassungswerk der Ritterschafts-Landtage charakterisirt sich jedoch wiederum dadurch, „daß, wenn ein Gesetz-Artikel dem Bauer ein Recht einräumt, gewiß zwei Artikel da sind, um dasselbe möglichst zu beschränken.“ – War das Mißtrauen der Bauern gegen das neue Adelsgeschenk in vielen Kirchspielen schon dadurch erweckt, daß der kaiserl. Bestätigungs-Ukas der neuen Ordnung nicht, wie gewöhnlich, drei, sondern nur ein Mal in den Kirchen verlesen wurde, so ward es gerechtfertigt, als viele Edelleute sich plötzlich auf einige Gesetzesparagraphen stützten, nach welchen die Bauern die Frohne und die Abgaben nach den alten Abmachungen noch zehn Jahre lang zu leisten hätten. Die Bauern steiften sich aber auf den einfachen Schluß: „daß der Kaiser unmöglich ein Gesetz im Jahre 1858 gebe, wenn es erst 1868 in Kraft treten solle,“ – sie machten von ihrem Rechte der Vorstellungen bei ihren Pachtherren und der Klagen bei Gemeinde- und Hakenrichtern Gebrauch, und diese machten dagegen Gebrauch von ihrem Rechte, den Bauern 40 und 80 Stockstreiche dafür aufzählen zu lassen, – und so trieb man endlich durch empörende Mißhandlungen das Volk zu offenen Widersetzlichkeiten gegen die Herren. Anstatt nun diese zum Theil blutigen Vorfälle durch eine kaiserliche Commission als einen Streit zwischen Pächtern und Verpächtern behandeln zu lassen, erklärte der Adel sie als Aufstand gegen die Regierung, ein Kriegsgericht, in welchem auch esthländische Edelleute, also hier Beklagte und Richter zugleich, saßen, verhängte entsetzliche Strafen, das Militär stand jedem adeligen Gutsbesitzer zu Gebote, und es wurden nun an den Pächtern jene Scheußlichkeiten verübt, von denen wir im Eingang dieses Artikels unseren Lesern einige Muster mitgetheilt haben.

Im September 1858 beschloß der Adel auf einem außerordentlichen Landtage, den Bauern in Nichts nachzugeben; Soldaten und Kosaken gewährten ihm hinlängliche Sicherheit für solche Beschlüsse. Im Januar 1859 erschienen Ergänzungen zu der Bauern-Verordnung von 1858; eine Regulirungs-Commission, welche prüfen sollte, „ob das im Besitz der Bauern befindliche Land an Aeckern, Wiesen und Weiden den für dasselbe zu prästirenden Leistungen entspräche,“ wurde im Januar 1859 wieder aufgehoben, wie der Ritterschafts-Hauptmann am 19. Januar 1860 erklärte, „wegen der bedeutenden Ersparnisse vergeblichen Aufwands“.

Wir haben bis hieher nur die Beziehungen des Esthen zu seinem Herrn betrachtet. Treten wir einen Schritt näher, um zu sehen, wie viel seine Arbeit ihm und den Seinen für das Leben abwirft. Wir wiederholen, daß einzelne Herren ihren Bauern ein erträglicheres Loos bereiteten, ja daß sogar einzelne Pächterfamilien zu einigem Wohlstand kommen konnten; das sind indeß Ausnahmen. Unser Bild vom Leben der Esthen soll sich an die Regel halten.

Nahrung, Wohnung, Kleidung, Unterricht der Esthen geben vereint ihren Herren das schlimmste Zeugniß. Die materielle Noth in diesem Volke ist unglaublich. Es muß ein glücklicher Mann sein, der für den kärglichsten Hausbedarf von einer Ernte bis zur andern ausreicht; nur bei Wenigen reicht sie bis Weihnachten, bei sehr Vielen wird sie zum größten Theil von den Abgaben und dem, was er an das Gemeindemagazin, an Krüger und Müller an Erborgtem zurückzuerstatten hat, aufgezehrt. Um das armseligste Leben zu fristen, muß er wieder borgen, bisweilen, trotz der schweren drohenden Strafen, etwas nur irgend Entbehrliches von seinen Erzeugnissen verkaufen, oder – stehlen. Er entwendet entweder Getreide, meist beim Frohndreschen, oder Holz (denn der Wald ist nur Herrengut), um sich Mehl zu verschaffen. Und so hart und schwer ihm das Erringen seines Stückchen Brodes gemacht wird, so hart und schwer ist es selbst. Es enthält so wenig Mehl und so viel Spreu (Kaff, daher es auch Kaffbrod genannt wird), daß es zerbröckelt und wie Torf aussieht und brennt. Kein Stadthund frißt einen solchen Bissen. Im Frühjahr wird aber sogar dieses Brod eine Seltenheit. Gesetzlich darf der Bauer im Februar aus dem Gemeindemagazin (das überall unter der Aufsicht der Herren von den Pächtern erhalten werden muß) gegen 6 Procent borgen, erhält aber nie so viel Mehl, als zum Brodbacken nöthig wäre; nur einen Mehltrank kann er sich bereiten, eine dünne Brühe (esthnisch Körti) aus heißem Wasser, in welches eine Handvoll Roggenmehl und ein wenig Salz eingerührt ist; Viele sammeln dann die vom letzten Herbst her in der Erde zurückgebliebenen und nun halbverfaulten Kartoffeln, als Zugabe zum Körti! Das ist des Bauern eigene tägliche Nahrung bei seiner schweren Arbeit. Den Knechten und Mägden, welche zum „Gehorch“ gehen, muß der Pächter Brod (Kaffbrod) verschaffen, und dazu erhalten sie als Zukost eine kleine Holzkapsel voll harter, gesalzener Strömlinge, oder gar Salz, höchst selten ein wenig Butter, Fleisch fast nie, und einen kleinen Anker von ungefähr 3 – 4 Quart saurer Milch, die sie vom Montag bis Sonnabend so lange mit Wasser vermischen, daß endlich eine abscheuliche Flüssigkeit daraus entsteht. So hat der arme Esthe sein Leben lang mit dem Hunger zu kämpfen.

Seinem Vieh geht es nicht besser. Da die Adeligen alle guten Wiesen und Felder für sich behalten oder den Bauern abgenommen haben, so ist sein Viehstand nur klein und wird mit Hülfe kärglicher Weide und schlechter Wiesen in jämmerlichem Zustand forterhalten. Ist sein Bischen Heu und Stroh aufgezehrt oder hat er aus Noth des eigenen Hungers wohl gar heimlich davon verkaufen müssen, dann bleibt ihm im Frühjahr nichts übrig, als das halbverfaulte Stroh von den Dächern der Gebäude zu füttern.

Dies Alles geschieht in gewöhnlichen Erntejahren; tritt aber ein Mißjahr ein, dann wäre es freilich für den Esthen am besten, die Natur hätte seine Verdauungswerkzeuge für „Stroh, Wasser und Salz“ eingerichtet.

Der Nahrung entsprechend sind die Wohnungen der Bauern. Es sind elende Hütten ohne Schornsteine; der Rauch hat seinen Ausgang durch die Thür zu suchen, wenn das Dach noch für ihn undurchdringlich sein sollte. Nur die Pächterhäuser der humanen adeligen Gutsbesitzer zeichnen sich auch durch Schornsteine aus. Die innere Einrichtung ist so, daß Nichts verdorben wird, wenn in kalten Wintern Kälber, Lämmer, Ferkel und Hühner sich in der Wohnstube der Familie einquartieren. Diese Wohnstube ist bei den meisten Esthen eine kleine rauchige Korndarre, und in dieser essen, wohnen und schlafen Herr und Frau, Kinder, Knechte und Mägde nebst allem Kleinvieh! Welches Elend, wenn in einem solchen Raume eine Krankheit ausbricht! – Das Licht dringt durch ein kaum 1 – 2 Quadratfuß großes Fenster in das Innere; bei Nacht erleuchtet es ein Holzspan, den in holzarmen Gegenden die Meisten – auf Gefahr von 80 Stockschlägen – stehlen müssen; und doch sind die Pächterfrauen verpflichtet, in den langen Herbst- und Winterabenden der Edelfrau so und so viel Pfund Flachsgarn zu spinnen und unentgeltlich, als „Gerechtigkeit“, in’s Schloß zu liefern. Dazu muß die Frau da, wo es keine Schulen giebt, zugleich ihre Kinder selbst im Lesen und im Katechismus unterrichten. Ueber das Schulwesen weiter unten.

Der Nahrung und Wohnung entsprechend ist die Kleidung der Esthen. Sie ist bei sehr Vielen mehr als dürftig, der Strenge des Klima angemessen nur bei Wenigen. Wie viel leiden diese Armen in den nordischen Wintern! Während die adeligen Herrschaften, in Schuppen- und Fuchspelze gehüllt, in festen, verdeckten Schlitten zwischen Kissen und Pelzdecke sitzend, von raschen, wohlgenährten Rossen gezogen, nach Reval zu ihren geselligen Herrlichkeiten eilen, muß „der faule dumme Esthe“ (denn das ist die einzige cavaliermäßige Bezeichnung für denselben von Seiten der Herren) neben einem schwer beladenen Schlitten oft in tiefem Schnee sich fortschleppen, meist viele Meilen weit, um der luststrahlenden Herrschaft Proviant nachzufahren; bei dem grimmigsten Froste muß er mit seinem jämmerlichen Pferde, in luftigster Kleidung, weite Reisen machen, um des Herrn Producte zu verführen. Wie oft sieht man diese Armen in den schwach erwärmten Krugstuben an den Landstraßen zur Winterszeit ihr festgefrorenes Kaffbrod kauen! Es ist ihnen nicht möglich, dazu ein Maß schlechten Krugbiers zu erstehen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 344. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_344.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)