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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Tage ausgenommen) mindestens ein paar Stunden ohne Gefahr im Freien zuzubringen, sogar unter freiem Himmel sitzen zu können. Damit ist zugleich die Möglichkeit gegeben, reichlichere und doch nicht anstrengende Körperbewegungen und ergiebigere Einathmungen zu machen; damit jedenfalls verbunden eine größere und nachhaltigere Aufheiterung des Gemüthes, wozu ohnedies die Schönheit der Landschaft das Ihrige beiträgt. Auch die veränderte (meist bessere) Nahrung, das saftigere Ochsenfleisch der Maisländer, das Obst, die Trauben, Feigen und Südfrüchte, die grünen Gemüse, die Fische und sonstigen Seeproducte tragen das Ihrige bei zur körperlichen wie geistigen Erneuerung und Anfrischung eines eingewanderten Nordländers. Für die einzelnen obengenannten Classen von Patienten wird der Winteraufenthalt in einem südlichen Klima dadurch zum Heilmittel, daß es

1) den Brustkranken die Möglichkeit gewährt, ohne Rückfälle ihrer Katarrhe circa 1½ Jahr lang die Schleimhäute ausruhen und gründlich ausheilen zu lassen. Denn gerade darin besteht das Gefährliche unseres Klimas, daß die Schleimhäute immer neu gereizt werden, wie eine Wunde, die man nicht zuheilen läßt! An sich sind diese Krankheiten, die Lungentuberkeln, die Emphyseme, die Herzübel, gar nicht so gefährlich. Sie werden es nur durch die ewigen Katarrhe, welche namentlich gern in die tuberkulösen Lungen hinunterwandern und dadurch nicht nur neue Tuberkelnachschübe bewirken, sondern auch eine eiterige Erweichung und peripherische Entzündung der vorhandenen Tuberkelmasse hervorrufen, welche schließlich zu Zerstörung und Schwindsucht führt. Einmal gut ausgeheilt (wozu ein- oder zweimaliger Aufenthalt im Süden, oder mehrwinterliches Tragen des Respirators die besten bekannten Mittel sind), kehren solche böse Katarrhe nicht so leicht zurück; daher findet man Tausende, die ein hohes Alter erreichen mit verkalkten und verhornten Tuberkelmassen in den Lungenspitzen, sogar mit verheilten oder zur Gewohnheit gewordenen (ein innerliches Fontanell darstellenden) Tuberkelhöhlen. – Aehnliches gilt von den Emphysematikern, wo das „Lösen“ des Katarrhs in milder, feuchtwarmer Luft eine Hauptsache ist; desgleichen von den Herzkranken, deren Todtmacher meistens ein Katarrh ist.

2) Daß es den Erkältbaren, Gichtischen, Rheumatischen und allerorts Flüssigen die beneidenswerthe Möglichkeit gewährt, sich sechs Monate lang behaglich in freier Luft (wie bei uns etwa im Juli bis September) zu bewegen, ohne Rückfälle zu erleiden. Hierdurch ist dann die Möglichkeit gegeben, daß die vorzugsweise erkrankenden Gewebe und Organe (die loci minoris resistentiae, wie die Pathologen sagen) erstarken und sich regeneriren können. Darin besteht die sogenannte Nachwirkung der Klimacur.

3) Die hier benannten Blutleeren bedürfen vor allen der Wärme, haben fast immer kalte, oft auch wässerig anschwellende Füße und Hände, frieren viel und erkälten sich oft. Bei manchen derselben, z. B. bei den Bright’schen Nierenkranken, gilt es geradezu, mittels des Klimas eine Trockencur durchzuführen; man sendet diese besonders nach Aegypten, wo der Winter zugleich warm und trocken ist.

4) Für Jugendliche, in der Entwicklung Begriffene, besonders wenn sie von letzterer angegriffen werden, blaß und mager aussehen, schlank in die Höhe schießen, ohne sich auszufüllen etc. Solchen erzeigt man durch einen südlichen Winteraufenthalt oft eine Wohlthat für’s ganze Leben. Der ganze Wachsthumsproceß des Menschen ist ja, wieder der Pflanzen, nur ein Hervorknospen einer Zelle aus der andern; und dieser wie jener wird ja durch Nichts mächtiger gefördert, als durch Licht und Sonnenwärme, wie sie der Süden bietet, der Norden aber im Winter verweigert! – Aehnliches gilt

5) von den Schwächlichen und

6) Genesenden. Bei letzteren kommt zum Theil noch hinzu, daß die südliche Wärme es gestattet, die einverleibten Arzneistoffe (namentlich das aller frommen Wünsche unerachtet noch immer nicht entbehrliche Quecksilber) aus dem Körper wieder auszuscheiden, was im nordischen Winterklima fast gar nicht, oder nur durch die zu Winterszeit so gefährlichen Warmbad- und Schwitzkuren möglich ist.

7) Wenn man Gemüthskranke, d. h. Melancholiker (denn die Narren, Wahnsinnigen und Geistesschwachen passen doch wohl kaum zu Südreisen), in die warmen Winterasyle schickt, so verfalle man nur nicht in den gewöhnlichen Fehler aller Laien, welche solche Personen mit aller Gewalt lustig machen wollen, sie in Gesellschaften, Bälle, Concerte schleppen, sie auf Reisen aus einer Stadt in die andere, in alle Museen, Kirchen und sonstigen Sehenswürdigkeiten führen. Alle diese Dinge dürfen erst in der Genesungsperiode und sobald der Patient selbst einigen Trieb danach äußert, zur Geltung kommen. Während der Melancholie ist das Hirnleben, das Gemüth des Patienten wie ein seiner Haut beraubter Finger, wie ein entzündetes Auge; jeder gewöhnliche, einem Gesunden ganz gleichgültig scheinende Reiz wirkt auf ihn schmerzerregend, verstimmend und betrübend. Er sucht Ruhe, stille gemüthliche Existenz, und wird nur durch diese geheilt. Auch im südlichen Aufenthaltsort muß man ihm diese verschaffen, und die Vorzüge eines solchen vor dem nördlichen beruhen eben nur darin, daß die milden, lieblichen Einwirkungen, daß Licht, Farbenschmelz, Wärme, Pflanzengrün, Blüthenduft etc. vorwiegen und die ganze Umgebung total neue Eindrücke mit sich bringt.

In vielen der benannten Fälle macht übrigens das Klima mit seinen Nebeneinflüssen die Cur nicht allein, sondern nur zum Theil, oder dient nur als Förderungsmittel neben dem Fortgebrauch irgend anderer ärztlicher Heilmittel. Zu letzterem aber gehört wesentlich ein guter Arzt, ein Artikel, an welchem es im Süden bei der dort waltenden Volks- und Gelehrtenschulenbildung leider allenthalben noch sehr fehlt! Den gewöhnlichen aderlaßsüchtigen oder brechweinsteinwüthigen Praktikern jener Länder in die Hände zu fallen, heißt in die Gefahr kommen, zu Tode „cavourt“ zu werden.

Aber auch noch andere Nachtheile hat der Süden für den Heilung suchenden Nordländer. Einerseits giebt es überall kalte oder doch durch den Wärmeunterschied empfindlich kalt erscheinende Tage und Stunden. Namentlich sind oft die Morgen und Abende auffällig kalt; in allen Südländern nimmt man gern den Mantel mit, wenn man ausgeht, und Viele halten es dort (sogar an der Goldküste Afrika’s) zur Sicherung der Gesundheit nothwendig, immer Wolle auf der bloßen Haut zu tragen! – Dazu kommt noch der Uebelstand, daß im Süden die Wohnungen und Betten gar nicht so gegen Kälte eingerichtet sind, wie im Norden. Daher friert der Deutsche in Italien (so wie der Russe in Deutschland) mehr, als in seinem Vaterlande. Insbesondere ist Zugluft in allen südlichen Ländern ein stehender Artikel; die Häuser sind eben, weil sie mehr vor Hitze als vor Kälte schützen sollen, luftiger eingerichtet: Thüren und Fenster schließen nicht, und durch die Wände pfeift oft der Wind. Dem Italiener ist die Zugluft etwas so Gewöhnliches, daß er nicht einmal ein Wort in seiner Sprache dafür hat (wie der Engländer kein Wort für „Langeweile“, weil sie sein Normal-Zustand ist). – Manche Orte haben noch ihre besondern klimatischen Schädlichkeiten, wie z. B. Südfrankreich und Nizza den scharfkalten Mistral, Rom die Malaria, Italien überhaupt den Sirocco, auch Aegypten und Algier die erschlaffenden und erstickenden Wüstenwinde, Venedig den Mangel an Pflanzengrün, namentlich aber alle südlichen Länder das viele Ungeziefer und vor Allem die Höllenkinder, die Moskito’s. Und auch an zweibeinigem Ungeziefer fehlt es nicht: Prellerei, Diebstahl, Perfidie, Lärm und Schmutz sind in den Südländern mehr eingebürgert, als im Norden, oder drängen sich wenigstens dem Reisenden und Hülfsbedinfügen mehr auf, als dort. – Auch in der Kost ist Manches dem nordischen Magen zuwider, z. B. das Schmoren in Oel, der matte, saure auf Schläuchen und ohne Keller aufbewahrte Wein, die ledernen Macaroni, die klumpige Polenta, die Wassermelonen, das halbreif gepflückte Obst u. dgl. mehr.

Endlich ist der Süden bekanntlich nicht frei von Krankheiten; vielmehr sind die herrschendsten derselben, die Sumpffieber, die Diarrhöen und Ruhren, so wie deren Folgeübel, die Milz- und Leberkrankheiten, – fast noch schlimmer als unsere einheimischen Katarrhe und Brustübel, an denen es übrigens auch dort nicht ganz fehlt!

Hierüber kommt noch, daß viele im Süden Reisende sich und Andern ihren Aufenthalt vergällen und verleiden, indem sie à la Nicolai über allerlei Kleinigkeiten nörgeln und klagen. Solche Leute vergessen, daß es eben an jedem Orte der Welt anders zugeht, daß jeder Fleck neben seinen Vorzügen auch eigene Schattenseiten hat, und daß man, wenn man erstere genießen will, letztere mit in Kauf nehmen oder mittels Geld und Witz abpariren muß! – Man kann eben auf so einer Reise nicht alle gewohnten häuslichen Bequemlichkeiten und Marotten befriedigen; man kann nicht, so zu sagen, die ganze Heimath mit ihren guten Freunden, Klatschgevattern

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 350. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_350.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)