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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

und Spießbürgerlichkeiten in der Reisetasche mitnehmen. Vielmehr muß man darauf bedacht sein, sich für die vorübergehende Curzeit rasch eine neue Häuslichkeit und Geselligkeit zu schaffen.

Die Länder und Ortschaften, welche zum Behufe südlicher klimatischer Curen aufgesucht werden, lassen sich folgendermaßen classificiren:

1) Süddeutsche: nämlich Meran und Gries in Südtyrol und die am Nordost-Ende des Genfer Sees beisammen liegenden, unter dem Namen Montreux oder Vevey bekannten verschiedenen Ortschaften bis hinter nach Bex. (Für viele, besonders für schwere Brustkranke, nur als Durchgangspunkte im Spätherbst und Vorfrühjahr zu benutzen, weil der Winter hier oft noch sehr streng ist).

2) Südfranzösische: namentlich Pau, sodann Montpellier, Nimes, Hyères, Cannes, Antibes und das jetzt dazu annectirte Nizza, welches alle Klimate, vom italienischen bis zur ewigen Schneelinie, in wenigen Stunden Raum vereinigt. (Sämmtlich mehr oder weniger einem scharfen Nordwinde, Mistral genannt, im Winter ausgesetzt.)

3) Südalpinisch-oberitalienische: erstens die kleinen Städte längs der goldenen Riviera von Nizza bis Genua (also Villafranca, Monaco, Mentone, San Remo, Oneglia, Savona etc.), welche alle den Vorzug haben, gegen Nord von den hohen Seealpen geschützt zu liegen und gegen Süd das warme Mittelmeer nebst afrikanischen Winden zu genießen; – zweitens die am steilen Südabhange der Alpenkette, besonders an den Seen (Maggiore, Lugano, di Como und Garda) gelegenen, z. B. Pallanza, Lugano, Varese, Como, Riva etc; – und drittens Venedig, das mit den Vorzügen jener noch die eines Inselklimas theilt, aber gleich ihnen einzelne recht harte Winter haben kann.

4) Italienische: besonders Pisa, Florenz, Rom, Neapel und vor Allem das reizend in seiner Goldmuschel (Concha d'Oro heißt nämlich das Thal) eingebettete Palermo.

5) Andre Mittelmeer-Inselorte: z. B. auf Corfu, Malta, jedenfalls auch auf mehreren griechischen Inseln.

6) Spanische: vor Allem Malaga, dann Cadix, Alicante, Valencia, Sevilla u. a.

7) Afrikanische: einerseits Algier und einige Nachbarstädte, andererseits Aegypten (eigentlicher: die Nilreise stromaufwärts während der Wintermonate).

8) Atlantisch-insulare: vor Allem das unvergleichliche Madeira, sodann die Azoren und endlich sogar westindische Inseln, namentlich Havanna.

Es versteht sich von selbst, daß damit nicht alle zu Südklimacuren geeigneten Orte genannt sind, sondern nur die, welche jetzt vorzugsweise von Kranken besucht und einigermaßen für solche Besucher eingerichtet sind.

Es begreift sich leicht, daß die genannten Orte unter sich unendliche Verschiedenheiten und jeder seine eigenthümlichen Vorzüge wie Nachtheile haben werden. Und zwar nicht blos in klimatischer Hinsicht (wo man mit den üblichen Eintheilungen in ein feuchteres oder trockneres, erregenderes oder erschlaffenderes Klima nicht weit kommt), sondern auch in socialer, politischer, religiöser, kurz in jeder menschlichen Rücksicht, welche bei Kranken doppelt genau genommen werden muß. – Da nun andererseits auch die Kranken untereinander in medicinischer und allgemeinerer Hinsicht höchlichst verschieden sind, so ist es klar, daß der kahle Rathschlag, „nach dem Süden zu reisen“, gar nicht genügt, sondern daß eine sehr specielle Erwägung und Wahl, „wohin und wie weiter?“ statthaben muß. Da nun nur äußerst wenige Aerzte hierüber eigene Erfahrungen haben, die Urtheile und Vorschläge der Laien aber in der Regel an großer Einseitigkeit für oder wider einen bestimmten Ort laboriren, so ist hier ein gedruckter Rathgeber unentbehrlich. Der beste mir bekannte ist: Sigmund’s Broschüre „über südliche klimatische Curorte“ (2. Auflage. Wien, 1859), besonders wenn man dazu die durch vergleichend-klimatologische Bemerkungen und selbsteigne treue Beobachtungen ausgezeichneten Werkchen von Vivenot, über Palermo (Erlang. 1860) und von Mittermaier, über Madeira (Heidelb. 1855, mit einem Nachtrag, Berlin 1861 bei Reimer) hinzuzieht. Diesen kann man noch der Vollständigkeit halber (da Sigmund nur die von ihm selbst besuchten Orte bespricht) hinzugesellen: Neil, über Aegypten, von Tschirsky und Pichler, über Meran, Macario, über Nizza, Joseph, über Venedig u. a. Das ältere englische Buch von Francis, „on climate“ (Lond. 1853) enthält außer allgemeinen Bemerkungen über Klimacur hauptsächlich werthvolle Notizen über Spanien, welches er mehrere Jahre nebst Italien etc. besucht hat. Das neueste Werk von Dr. R. E. Scoresby-Jackson, „medical Climatology“ (London, 1862), enthält ziemlich speciell eingehende Orts- und Klima-Beschreibungen der meisten Orte, welche heutzutage von kranken Engländern zur Sommer- oder Wintercur aufgesucht werden.

Wer aber die ganze Klima-Angelegenheit von einem höheren und naturwissenschaftlich-exacten Standpunkte aus kennen lernen will, der muß unbedingt die zwei wichtigen Bücher von Mühry, „die Grundzüge der Klimatologie“ (Lpz. u. Heidelb. 1858) und „die geographische Meteorologie“ (1860) studiren. Zwei Werke deutschen Fleißes, welche wenigstens in der Bibliothek keines Arztes fehlen dürfen, wenn er auf dem Standpunkt der neuern Naturwissenschaft zu stehen behaupten will!

Zur Ausführung der also beschlossenen Reise gehört nun wieder Mancherlei. Vor allem Geld! Wer den Zweck, die Gesundheit, erreichen will, darf vorkommenden Falls, unterwegs und in dem Südasyl, die nothwendigen Kosten nicht scheuen, so sehr ich auch Vorsicht gegen die allerseits drohenden Prellereien lobe. (Worüber bei Sigmund a. a. O. mehrere gute Verhaltungsregeln.) Nächstdem ein Vorrath von Geduld, um auch bei mannigfachen Schwierigkeiten und vorfallenden Gemeinheiten sich nicht zu ärgern, die zur Heilung unentbehrliche gute Laune nicht zu verlieren. Wer zu Haus gut und reichlich zu essen gewohnt ist, lasse sich auf der Reise nichts abgehen. Die Kleidung sei für schroffe Wechsel eingerichtet: fast wie für den nordischen Winter, außer daß man die Pelze zu Haus läßt. Denn die Witterungssprünge von + 30 auf + 10 sind gerade so empfindlich und so gefährlich, wie von + 10 auf 0 oder weniger. Eine Wohnung bestelle oder suche man sich zeitig, da deren Zahl jetzt im Verhältniß zur Zahl der nach Süden Reisenden nicht rasch genug zunimmt. Diese Wohnung richte man sich bei Zeiten nach nordischer Art auf den Winter ein; man sorge, daß Thüren und Fenster gut schließen, beziehentlich verklebt werden, daß wirkliche Oefen gesetzt, Teppiche gelegt werden etc. Denn nach Südländer-Art auf steinernen Fußböden zu gehen und an den Kaminen vorn zu braten, hinten zu frieren, ist für einen kranken Nordländer wie Gift.

Man trete die Hinreise nach Süden im September, höchstens October, die Rückreise nach dem Norden nicht vor dem Juni an; denn Mitte Juni haben wir manchmal noch rauhes Wetter, welches dem aus Süden Anreisenden doppelt empfindlich fällt. Beide Reisen mache man wo möglich mit Umgehung der Alpenpässe; die Eisenbahntour über den Semmering und die über Straßburg-Lyon sind jedenfalls allen anderen Linien vorzuziehen; wenn die Brennerbahn fertig sein wird, auch diese; vor der Hand kann diese niedrigste aller Alpeneinsenkungen bei mildem Wetter und in verschlossenem Glaswagen in einem Tage von Innsbruck bis Brixen oder umgekehrt wohl von den meisten Kranken ohne Gefahr überschritten werden. Man richte sich so ein, nur kurze Tagereisen zu machen und allenthalben bleiben zu können, sobald sich der Kranke zur Weiterreise unbefähigt fühlt. Meist wird man durch den Telegraphen geheizte Zimmer und gute Betten vorausbestellen können.

Gute Gesellschaft zu finden, ist bei einem solchen Winterexil eine Hauptbedingung. Wer es haben kann, bringt sich solche am liebsten mit; jeder Andere ist auf den Zufall angewiesen. Dem ließe sich aber recht gut abhelfen, wenn es Sitte würde, daß gegen den Herbst hin ein oder mehrere Parteien, welche einen Winter im Süden zuzubringen beabsichtigen, dies vorher in den Zeitungen oder durch ein Circular bekannt machen und Andere zum Anschluß auffordern wollten. Denn es giebt jetzt eher zu viele als zu wenige „Südensehnsüchtige“ in deutschen und anderen nördlichen Ländern.

Unzweifelhaft reisen schon jetzt eine Menge Leute nach dem Süden, welche nicht dahin passen, welche besser thäten, zu Hause zu bleiben und dort mit den nöthigen Vorkehrungen ruhig zu leben oder doch zu vegetiren. Andere versprechen sich Wunderdinge, rasche Erfolge, welche das Klima gar nicht leisten kann. Sie möchten, daß die Krankheit wie weggeblasen würde, und erwägen nicht, daß dieselbe gewöhnlich ein weit durch die edelsten Gewebe fortgewucherter Zerstörungsproceß ist, bei welchem der Sachkundige froh ist zu sehen, daß nach und nach allmähliche Vernarbungen, Verschrumpfungen, Vertrocknungen und Verkalkungen des krankgewesenen, für seine ehemalige Function unrettbar verloren gegangenen Organes oder Gewebes eintreten! – Ja, sogar um dieses Ergebniß zu erzielen, ist oft ein einziger Winter nicht genügend, sondern Patient

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_351.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)