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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Nach kaum einer halben Minute war der Freund mit dem voranleuchtenden Kellner bei ihm, ihn wortlos die Treppe nach dem obern Stock hinauf leitend; als sie aber allein in dem Zimmer des Kaufmanns standen, faßte dieser beide Schultern des Angekommenen und fragte hastig: „Was ist es, Hugo? Dir ist ein Unglück passirt!“

„Ein Unglück, ein wirkliches Unglück, so ist es! – aber ich darf mich jetzt nicht mit Erklärungen aufhalten!“ nickte der Referendar finster und machte, die Hand gegen die Stirn gedrückt, einen raschen Gang durch das Zimmer. „Du bist ein treuer Freund, Fritz, ich weiß es,“ fuhr er dann, plötzlich vor dem Andern stehen bleibend, fort, „und so wirst Du rasch und ohne zu fragen thun, was ich Dir sagen werde. Treibe noch eine Droschke auf und fahre nach meiner Wohnung. Sollte sich dort irgend etwas Ungewöhnliches ereignet haben, so – merke wohl auf – so weißt Du nichts von meinem Aufenthalte! Im andern Falle sage Heinrich, daß er von meinen Kleidungsstücken und meiner Wäsche zusammenrafft, was sich auf einmal fortbringen läßt, und dann kommt Beide mit meinen Habseligkeiten hierher. – Jetzt rasch!“ schloß er, als ihn Römer mit starren Augen ansah, als stehe er vor einem schrecklichen, unbegreiflichen Räthsel, „es kann auf einige Minuten viel ankommen, und sobald Du zurück bist, erfährst Du Alles!“

Noch einen Blick senkte der Kaufmann in die erregten Augen des Schulfreundes, als wolle er sich eine letzte Ueberzeugung schaffen, daß Alles auch wirklich so sei, wie er gehört; dann griff er wortlos nach seinem Hute und verließ eilig das Zimmer.

Der Referendar warf sich auf das Sopha und versuchte seine Gedanken zu ordnen, aber ein vor ihm aufsteigendes Bild verdrängte alle übrigen Vorstellungen – das Gesicht seines Vaters, und es ließ ihn nicht in seiner Stellung, er mußte aufspringen und einen ruhelosen Gang durch das Zimmer beginnen. Es war in diesem Augenblicke kein Bangen um seine Zukunft, das ihn bewegte, aber es that ihm weh bis tief in’s Herz hinein, daß die Lage, in die er gerathen war, einen breitern Riß als je in dem Verhältnisse des Vaters zum Sohne schaffen werde. Was er sich auch selbst zu seiner Rechtfertigung anführen mochte, – er wußte, daß es bei der unverrückbaren Anschauungsweise des alten Mannes wirkungslos bleiben würde. War ihm doch schon die Vorliebe für aristokratische Kreise, ihm, dem nichts als die langsame, mühevolle Beamten-Carriere in Aussicht stand, den nur strenger Fleiß und fachliche Tüchtigkeit vorwärts zu bringen vermochten, zum Vorwurf geworden; mußten doch seine Nebenstudien, die er zu seiner allgemeinen Bildung und eigenen Befriedigung trieb, Allotria sein, die ihn von seinem rechten Ziele abwandten. Und was ihm jetzt begegnet, hätte allerdings keinen zufrieden „in seinem Joche ziehenden“ jungen Mann treffen können. Er sah schon den eigenthümlich starren Zug, der immer einen unwiderruflichen Entschluß ankündigte, sich um den Mund seines Vaters legen; als aber die Züge des Letzteren vor ihn traten, so lebendig, daß er sie in Wirklichkeit vor sich zu sehen meinte, da faßte ihn plötzlich die ganze in ihm wohnende Liebe für den alten, strengen Mann, der ihm oft verdientermaßen die rauhe Seite gezeigt, aber auch jedes Opfers für ihn fähig gewesen war, und es wurde ihm, als sei es unmöglich, daß er sich nicht den Weg zu seinem Herzen bahnen und wenigstens bei ihm Gerechtigkeit finden werde. Was im Uebrigen sich aus dem verhängnißvollen Abend für ihn entwickeln werde, daran dachte er jetzt kaum.

Langsam ließ er sich wieder aus das Sopha nieder, und jetzt tauchten die dunkeln, stolzen Augen, um deren willen er hier als Flüchtiger saß, in ihm auf. Er schüttelte leise den Kopf. „Vorbei, vorbei!“ murmelte er, „Ikaros, der aus der Gefangenschaft zur Sonne flog und in den Abgrund stürzte!“ und es war ein langer, schwerer Athemzug, welcher den Worten folgte.

Fast eine Stunde mochte dem Wartenden, bald im unwillkürlichen Verfolgen seiner innern Bilder, bald im ruhelosen Gange durch das Zimmer verstrichen sein, als endlich das Gerassel eines nahenden Wagens zu seinem Ohre drang. Gespannt horchte er; schon meinte er, das Geräusch sich wieder entfernen zu hören, und die verschiedensten Möglichkeiten, die den Freund an der Ausführung seines Auftrags hindern konnten, durchschossen sein Gehirn – da hielt der Wagen, und zugleich klang auch ein lachendes Wort des Tischlers herauf, als habe ihm dieser damit die Pein der Erwartung sparen wollen – noch waren also keine Verfolger auf seiner Fährte! Wenige Minuten waren auch nur vergangen, als sich die Thür öffnete und unter dem Vortritt des Hausknechtes sich ein umfangreicher Koffer hereinschob, dem die Gesichter der beiden Schulfreunde mit dem Ausdrucke eines befriedigend vollbrachten Geschäfts folgten.

„Alles klar und zu Hause keine Spur von etwas Unrechtem!“ meldete Heinrich, sobald der Diener sich entfernt, in steifer Haltung an den Referendar herantretend; „übrigens ist pünktliche Miethezahlung ein wahrer Segen, denn ich hätte mein Lebtag nicht mit einem solchen Koffer bei nächtlicher Weile ausrücken dürfen. – Bin noch nicht zu Ende!“ unterbrach er eine Bewegung des Angeredeten. „Der Soldat soll immer beobachten! war unsers Unterofficiers Wort bei jeder Felddienstübung, und so habe ich den Droschkenkutscher einen Umweg nach den Linden machen lassen, wo heute die Soirée war. Es scheint bereits allgemeiner Aufbruch dort zu sein, und wir hatten die Ehre, mit einer Hofequipage den ganzen Weg nach dem Schlosse zusammen zu machen –!“

„Um Gotteswillen, laß die Späße, es ist jetzt die schlimmste Zeit dafür!“ rief Hugo, sich mit der Hand in die zerstörte Frisur fahrend. „Es ist ein Mensch, ein reicher, hochgestellter Mann bei der Soiree erstochen worden, und ich werde der Thäter sein müssen – da habt Ihr Alles!“ Er ging rasch nach der Thür, öffnete sie und blickte hinaus, ohne weder des eigenthümlichen Gesichtsausdrucks Römer’s, der zwischen plötzlichem Entsetzen und gezwungenem Unglauben zu schwanken schien, noch des rasch gehobenen, aufmerksamen Blickes des Tischlers zu achten. „Die Sache ist, daß ich völlig unschuldig bin und dennoch werde büßen müssen!“ fuhr er fort, einen raschen Gang durch das Zimmer beginnend, und in kurzen abgestoßenen Sätzen theilte er jetzt den Freunden den hauptsächlichsten Hergang des Ereignisses mit. „Ich frage Euch nicht, was ich thun soll,“ setzte er dann stehen bleibend hinzu, „denn Ihr vermögt kaum die zu meinem Unglück einwirkenden Verhältnisse richtig zu beurtheilen, aber Ihr müßt meinen Entschluß wissen, um mich in der Ausführung zu unterstützen. Du, Fritz, verwahrst meine Sachen und nimmst sie bei Deiner Abreise morgen mit Dir. Ich werde mich hier nur umkleiden und dann die Nacht benutzen, um zu Fuß nach einer entfernten Eisenbahnstation zu gelangen, wo ich mit Dir zusammentreffen werde. Dann giebst Du mir in Deinem Hause so lange Quartier, bis ich mit meinem Vater auf irgend eine Weise ein Verständniß angebahnt habe, denn ich kann ohne ihn mich zu keinem entscheidenden Schritte entschließen. Du, Heinrich, bleibst ruhig in meinem Logis, sagst Allen, die nach mir fragen, daß ich verreist sei, und meldest mir jeden Tag unter Römer’s Adresse, was sich ereignet hat.“

„Rechne auf mich, so weit ich nur etwas thun kann!“ erwiderte der Kaufmann, ihm mit einer Miene, welche die ganze Bedeutung der Umstände würdigte, die Hand entgegenstreckend; „und für alle Fälle nimm meine Paßkarte mit Dir, bis wir wieder zusammentreffen.“

Der Tischler aber rieb sich mit nachdenklich zusammengezogenen Brauen die Nase. „Wenn da nicht geradezu ein Barbiergeselle, der alle Dinge eher weiß, als Andere, dazwischen gewesen ist, so sehe ich noch gar nichts so Gefährliches,“ sagte er. „Das Fräulein wird sich gehütet haben, zu reden; ist der Mann todt, so konnte er nicht mehr sprechen, sonst aber hätte er die richtige Wahrheit bezeugen müssen, und zum Appell werden sie ja wohl die Gäste nicht haben antreten lassen –“

Hugo machte eine ungeduldige Bewegung. „Laß das, Heinrich,“ versetzte er, „entweder muß ich fort oder mich morgen selbst stellen, ein Drittes kann es nicht für mich geben, und ich habe keine Lust, mich selbst einer Verhaftung auszusetzen, deren Ende sich bei den Verhältnissen nicht absehen läßt. Um Deines guten Glaubens willen aber magst Du mich auf dem Büreau krank melden, dann wird sich ja das Uebrige schnell genug zeigen!“

Eine Stunde darauf hatte Hugo den Gasthof verlassen und wanderte in die Nacht hinein, sich seinen Weg auf dem Gleise der heimwärts führenden Eisenbahn suchend.




3. In einer deutschen Familie.

Die Frühsonne hatte einen leichten Nebel, welcher bereits die Annäherung des Herbstes verkündete, überwunden und blickte klar in die mit Weinlaub umrankten Fenster eines kleinen Zimmers, das mit seinen zwei schneeigen Betten und seiner übrigen, für Toilette wie Aufenthalt wohl versehenen Einrichtung Schlafcabinet

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 355. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_355.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)