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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

dem Briefe greifend, und seine Stimme schien in einen Fistelton überschnappen zu wollen.

„Augenblicklich nicht!“ war die ruhige Antwort; als aber die Zimmerthür hinter dem Büreaudiener zuklappte, blickte Zedwitz rasch um und als er den Brief verschwunden sah, begann er langsam einen neuen Gang durch das Zimmer. Bilder der verschiedensten Art schienen in ihm wach zu werden; bald legte sich ein starrer, unbeweglicher Zug um seinen Mund, bald milderte sich der strenge Charakter seines Gesichts zu einem Ausdrucke stillen Schmerzes, und dann blieb er wohl stehen, in Selbstvergessenheit vor sich niederblickend, bis eine neue Vorstellung eine herbe Bitterkeit in seine Mienen sandte und ihn weiter trieb. Nach längerer Zeit endlich hielt er seine Schritte an und strich sich das dünne Haar glatt. „Ich muß ihr selbst das Nöthige mittheilen, wenn auch die Mädchen schon gesprochen hätten!“ murmelte er; noch eine Secunde lang blickte er, wie sich bedenkend, vor sich nieder und verließ dann hochaufgerichteten Hauptes das Cabinet, den Weg nach dem Zimmer der Großmutter nehmend.

Er trat dort ein, als eben der Schuldirector eine Bewegung sich zu verabschieden machte, und wie ein Strahl von Erleichterung ging es bei dem Anblicke des Letzteren über sein Gesicht. „Brechen Sie nicht schon auf,“ sagte er, erst der alten Dame und dann dem Gaste die Hand reichend; „es wird mir wohlthun, ein paar Worte mit Ihnen zu plaudern. – Da haben wir denn das lebendige Beispiel, zu welchem Ende die moderne Lebens- und Anschauungsweise unserer jungen Leute führen kann,“ fuhr er mit verfinstertem Gesichte fort; „einen jungen Mann, der die Fachstudien langweilig fand und dafür pikante, sogenannte Naturwissenschaften trieb, die an Stelle jedes geistigen Seins den rohesten Materialismus setzen; – der die eigene natürliche Stellung verachtete und sich dafür eine Schein-Existenz in über ihm stehenden Kreisen schuf; – der über die Ansichten lebenserfahrener Männer, wie seines Vaters, lächelte und sich dafür möglichst vielen Modethorheiten ergab, wie sich das logisch so eins aus dem andern entwickeln mußte. Nun, Herr Director, Sie wird es nicht überraschen, denn Sie haben längst meine eigenen Befürchtungen getheilt – “

„Aber, Vater –!“ wurde in diesem Augenblicke Mariens stehende Stimme laut, und ein schmerzlicher Vorwurf fiel aus den Augen des Mädchens in die seinen; ein kaltes, ablehnendes Kopfschütteln kam jedoch als Antwort.

„Soll ich etwa noch Dinge verschweigen,“ sagte er, „die schnell genug in Aller Mund sein werden, und mir nicht das Herz gegen einen nahen Freund leichter sprechen dürfen?“

„Aber um wen und um was handelt es sich denn?“ fragte die alte Dame, welche schon beim Beginn des Gesprächs in sichtlich steigender Besorgniß den Kopf gehoben hatte.

„Sie wissen noch von gar nichts, Mama? ich hoffte, die Mädchen würden mich der ersten Benachrichtigung überhoben haben!“ erwiderte er mit eigenthümlich gedrücktem Tone, während der Schuldirector seinen Hut wieder bei Seite gestellt hatte und den gespannten Blick an dem Munde des Sprechenden hängen ließ.

„Doch nichts Allzuschlimmes von Hugo?“ frug sie mit leise zitterndem Auge.

„Von Hugo!“ nickte der Geheimrath – da öffnete sich kurz und geräuschvoll die Thür, und bleich, aber mit leuchtenden, erregten Augen erschien der Genannte auf der Schwelle. Einen einzigen hastigen Blick warf er durch das Gemach und schritt dann rasch auf den Geheimrath zu.

„Vater, ich muß mit Dir sprechen, so darfst Du mich nicht hinwegweisen, denn das verdiene ich nicht!“ rief er, und der ganze Drang seiner Empfindung bebte in seiner Stimme; im nächsten Augenblicke aber hatte er auch die Anwesenheit des Fremden bemerkt und hielt seinen Schritt an. „Nur fünf Minuten, Vater, laß uns allein mit einander reden!“ setzte er, sich gewaltsam zu einem ruhigeren Tone zwingend, hinzu.

Der Schuldirector hatte sich bereits zum eiligen Verlassen des Zimmers erhoben, aber der Geheimrath faßte seinen Arm. „Sie bleiben, Freund,“ sagte er, während seine Züge zu Eis zu erstarren schienen, „ich habe hier kein Geheimniß!“ Mit einer entschiedenen Ablehnung indessen wandte sich der Gast dem Ausgange zu, und kaum schloß sich hinter ihm die Thür, als der alte Beamte einen Schritt gegen seinen ihn um halbe Kopfeslänge überragenden Sohn that. „Ich habe noch zu bestimmen, wem sich meine Thür öffnen oder verschließen soll,“ sagte er, und es war ein völlig steinerner Blick, welcher sich in das Auge des jungen Mannes senkte. „Geh!“ setzte er hinzu, die Hand gebietend nach der Thür erhebend.

Die kräftige Gestalt des Referendars schien ein plötzliches Zittern zu überlaufen. „Vater!“ erwiderte er, fast mit dem Tone eines bittenden Kindes die Hände zu ihm erhebend.

„Geh!“ wiederholte Jener, und ein Ton wie drohende Warnung klang in dem Worte.

„Aber, Herr Sohn, man treibt ein Kind nicht in dieser Weise aus dem elterlichen Hause!“ ward plötzlich die Stimme der Großmutter laut, während sich zugleich ein mühsam unterdrücktes Schluchzen von den Plätzen der Mädchen hören ließ; „er sagt selbst, daß er das nicht verdiene. Aber was ihm auch zur Last fallen möge, so ist ein so unerbittliches Verweigern jedes Wortes unrecht – wir sind allzumal Sünder, Herr Sohn!“

Die alte Frau hatte sich neben ihrem Stuhle aufgerichtet, die Hand auf die Armlehne stützend, und in ihren Augen leuchtete eine völlig veränderte Natur gegen ihr bisheriges mildfreundliches Wesen. In des Geheimraths Gesichte bewegte sich keine Miene, nur um seinen Mund machte sich ein leichtes, nervöses Zucken bemerkbar; Hugo aber hatte wie abwehrend die Hand gegen die Sprechende ausgestreckt. „Kein Wort für mich, Großmutter!“ rief er erregt; „wenn nicht der Drang meiner eigenen Liebe und Sorge, der mich hierher getrieben, das Vaterherz für den Sohn öffnen kann, so ist alles Uebrige vergebens. – Vater, noch einmal,“ fuhr er fort, die Hände von Neuem erhebend, „ich verlange ja nichts, als ein kurzes, verständigendes Wort mit Dir, und ich weiß, daß Du dann anders urtheilen wirst, als jetzt!“

Der Geheimrath aber hatte sich mit unverändert eisigem Gesichte der alten Dame zugekehrt und sagte: „Sie wissen nicht, Frau Mutter, daß es meine Pflicht als königlicher Beamter erheischte, den jungen Menschen hier sofort dem Untersuchungsrichter zu übergeben, daß es schon gegen mein Gewissen sein muß, von seiner Anwesenheit überhaupt etwas zu wissen, und so würde es gut sein, die jetzige Scene so rasch als möglich zu enden!“

Die Großmutter blickte halb erschreckt, halb zweifelnd von dem starren Auge des Schwiegersohns nach dem des Enkels und wieder zurück; Hugo aber hatte sich, wie in einem bestimmten Entschlusse, voll ausgerichtet.

„Dein Gewissen soll nicht durch mich beschwert werden, Vater,“ sagte er ruhig, obgleich das Beben seiner Stimme noch das Wogen in seiner Seele verrieth; „ich gehe – und mag Dir die Erinnerung an den heutigen Tag einmal nicht schwerer werden, als mir!“ Dann wandte er sich mit sicherm Schritte nach der alten Frau. „Großmutter, halte mich in Deinem Herzen, ich habe nichts verbrochen, was nicht ein Wenig wirkliche Liebe leicht verzeihen könnte – weißt ja doch, daß ich nie habe lügen können!“ und als sich vor seinem aus tiefer Seele kommenden Blicke ihre Arme hoben, trotz des noch immer unsichern Ausdrucks ihrer Augen, da lagen auch schon die beiden Mädchen an seinem Halse – Marie mit einem bittern, fast krampfhaften Schluchzen, das sie vergebens zu unterdrücken strebte, während Helene unter strömenden Thränen ihm zuflüsterte: „Gräme Dich nicht, Hugo! er liebt nur sich und was er seine Ehre nennt; aber auf uns rechne, wo mir unsere Kraft ausreicht!“ Schon in der nächsten halben Minute indessen hatte er sich in ihrer Umschlingung aufgerafft und schritt, mühsam der ihn überwältigenden Weichheit Herr werdend, rasch aus dem Zimmer. -

Er hatte das Haus verlassen und war die breite, sonnige Straße hinab geschritten, ehe er sich nur seiner Umgebungen wieder ganz bewußt ward. Er durfte kaum fürchten, bekannten Gesichtern zu begegnen, da er seit Beendigung seiner Schulzeit nur immer zu kurzen Besuchen im Hause seiner Eltern gewesen war; dennoch bog er jetzt fast unwillkürlich in die nächste enge Seitengasse ein, um sich möglichst gedeckt zu halten, und suchte sich von hier durch die krummen Straßen der alten Stadt einen Weg nach Römer’s Geschäfte. Zwei Tage waren es bereits, welche er in Heimlichkeit bei dem Freunde verbracht. Er hatte bei der Stimmung seines Vaters den ersten Schritt bei diesem nicht ohne alle Unterstützung thun mögen, sich erst mit seinen Schwestern in Verbindung setzen und den alten Mangold in’s Vertrauen ziehen wollen; nachdem aber endlich der entscheidende Brief, in welchen er das ganze volle Herz eines treuen Sohnes hinein gelegt zu haben

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