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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

sagte, er habe nie geträumt, und Gleiches von Aristoteles, Plutarch und Locke erzählt wird.

Es ist hier aber noch darauf aufmerksam zu machen, daß die Erinnerung an das, was unbewußt in uns vorging, selten eine ganz vollständige und treue ist. Hängt doch überhaupt unser Gedächtniß vorzugsweise von der Lebendigkeit und Spannung der Aufmerksamkeit ab, mit der wir irgend etwas auffassen, und ich gestehe offen, daß ich, durch eigene und fremde Erfahrung belehrt, gegen die ausführliche Mittheilung langer und zusammenhängender Träume immer sehr mißtrauisch bin und mich überzeugt halte, daß dabei die Phantasie unwillkürlich viele Lücken ausfüllt, welche die Erinnerung gelassen oder die vielleicht schon in Folge des ungeregelten, von zufälligen Anregungen abhängigen Vorstellungsspieles im Traume selbst stattgefunden hatten. – Wie oft glaubt man sich zu erinnern, daß man im Traume etwas sehr Geistreiches gesagt, oder eine Sprache, die man wachend nur radebrecht, ganz geläufig gesprochen habe! Aber jeder treu und vorurtheilsfrei sich selbst Beobachtende weiß auch, daß er, aus solchen Träumen plötzlich erweckt, sich recht deutlich erinnern konnte, daß das angeblich Geistreiche, die vermeintlich fließende Rede baarer Unsinn war. Ich erwähne hier nur des gleichen Geständnisses von einem Manne wie Johannes Müller.

Nichts ist leichter zu verstehen, als die Entstehung einer großen, vielleicht der größten Zahl der Träume aus den körperlichen Zuständen des Schlafenden und seinem Verhältnisse zur Umgebung. Hier kann Jeder, der es der Mühe werth hält, diese Dinge sorgfältig zu beobachten, viele seiner Träume auf solche Thatsachen, wodurch dieselben körperlich veranlaßt wurden, zurückführen. Jedes Geräusch, das unser Ohr, jeder Lichtschein, der unser Auge trifft, regt damit zusammenhängende Vorstellungsspiele an. Das Stechen einer Feder, eines Strohhalms wird zu Kampf und Verwundung. Der tiefe bequeme Schlaf, in dem kein Druck auf der Oberfläche empfunden wird, erscheint als Fliegen, das wieder Deutlicherwerden der Unterlage als Herabfallen aus der Höhe. Eine Störung im Blutumlauf und im Athmungsproceß durch überfüllten Magen oder durch unbequeme Lage nimmt die tausendfach verschiedenen, oft wunderlich phantastischen Formen des Alpdrucks an. Das in Folge des Druckes durch den darauf liegenden Körper oder durch zufällige Entblößung im Winter erstarrte Glied kann schreckhafte Bilder hervorrufen. So träumte Casanova in den venetianischen Bleidächern, man öffne die Thüre seines Gefängnisses, trage die Leichen Hingerichteter herein und werfe sie neben ihm auf sein Lager; abwehrend griff er hin und erfaßte die eiskalte Leichenhand. Das Entsetzen weckte ihn, aber es war kein Traum, noch immer hielt er die feuchtkalte Hand in seiner Rechten. Lange wagte er keine Bewegung, die ihn mit den Leichen in nähere Berührung bringen konnte; endlich entschloß er sich hinzublicken und sah, daß er seine eigene, vom Drucke des eigenen Körpers erstarrte Hand erfaßt hatte.

Eine weitere Berücksichtigung verdienen die Träume noch hinsichtlich ihres Zusammenhanges mit dem wachen Leben. Oft bewegen sich dieselben in dem Gedankenkreise, der unmittelbar dem Einschlafen vorherging, fort, oft überspringen sie dagegen lange Zeiträume und beleben nur die fernsten Erinnerungen, so wie bald die übermäßig aufgeregten Nervenfasern noch längere Zeit fortzittern, ehe sie zur Ruhe kommen, bald gerade die eben thätig gewesenen ruhen und die durch lange Ruhe gekräftigten leichter erregt werden. Blinde träumen meist nur kurze Zeit nach ihrer Erblindung noch von Gesichtseindrücken, aber der im 18. Jahre erblindete Huber sah in seinen Träumen noch im 66. Jahre.

In eine andere Seite des ganzen Traumlebens führt uns abermals eine Betrachtung des wachen Menschen ein. Wer nur irgendwie aufmerksam beobachtete, dem kann es nicht entgangen sein, wie unendlich verschieden bei den verschiedenen Individualitäten die Gewalt des Selbstbewußtseins und der sich daran knüpfenden Selbstbeherrschung ist. – Wenig Menschen giebt es, die sich, um mich so auszudrücken, selbst vollständig in Besitz genommen haben, wie etwa ein Kant , die ihr ganzes Leben bewußt und gewollt selbst führen, bei denen daher alle einzelnen Theile im innigsten Zusammenhange stehen und von jedem Punkte aus in jedem Augenblicke klar überblickt werden können, bei denen keine Handlung, kein Vorstellungsspiel von zufälligen äußeren Anregungen hervorgerufen oder verändert wird. Die meisten Menschen thun gar Vieles instinctmäßig nach zufälligen Anregungen des Nervensystems, handeln zu Zeiten abgerissen, ohne inneren Zusammenhang mit ihrem ganzen geistigen Leben, und können sich deshalb nach einiger Zeit ihres eigenen Thuns oder ihrer Gedanken nicht mehr erinnern. – Daß dergleichen Erscheinungen noch häufiger, ausgeprägter und in auffallenderen Formen im Schlafenden auftreten werden, wo das Bewußtsein ganz ruht, ist sehr natürlich.

Hierher gehört sicher ein großer Theil der Erzählungen über Menschen, die schlafend Gedichte gemacht, wie Professor Wähnert und Graf von Seckendorf, oder mathematische Aufgaben gelöst, wie Krüger, oder gar die Deduction der kantischen Kategorieen fanden, wie Reinhold, und deutlich werden diese Vorgänge als vergessene wache Handlungen gezeichnet durch die Erfahrung Osann’s, der, nach anstrengender mehrtägiger Praxis aus tiefem Schlafe geweckt, den Bericht über eine Krankheit las, eine Antwort und ein Recept schrieb, dem Diener auftrug, für den andern Morgen einen Wagen bereit zu halten, und von alledem am andern Morgen nicht das Geringste mehr wußte und sich selbst dann auf sein Thun nicht besinnen konnte, als man es ihm erzählte und er seinen Brief in die Hand nahm. – Während Einige aus dem Schlaf gleich zu voller Klarheit des Bewußtseins erwachen, ist bei Anderen insbesondere der Uebergangszustand zwischen Schlaf und Wachen, den man als Schlaftrunkenheit bezeichnet, von längerer Dauer und von mannigfachen theilweisen Störungen des Bewußtseins begleitet. Spielen gar noch nicht ganz verschwundene Traumbilder in diesen Zustand hinein, so erhalten wir Erscheinungen, die augenblicklichem Wahnsinne nicht ferne zu stehen scheinen. Die Annalen der Criminaljustiz bewahren uns gar viele traurige Beispiele von Menschen, die in diesen Augenblicken der gestörten Selbstbeherrschung, Ort und Persönlichkeit verkennend, Menschen, die ihnen unvorsichtig nahten, also gewöhnlich solche, die sie besonders lieb hatten, wie Vater, Frau oder Freund, erschlugen.

Aber auch der wirkliche Traum im wirklichen Schlaf zeigt uns sehr eigenthümliche Erscheinungen, die von Phantasten gar häufig zum Ausspinnen mystischer Theorieen benutzt worden sind. Um dieselben richtig beurtheilen zu können, müssen wir einige andere Verhältnisse zunächst in’s Auge fassen. Wenn man einen rasch enthaupteten Frosch am Halse kitzelt, so macht er mit einem Hinterbeine eine Bewegung, um den kitzelnden Gegenstand wegzukratzen; kneipt man ihn an einem Hinterbeine, so macht der Körper, um zu entfliehen, einen Sprung; führt ihn dieser Sprung in ein Wasserbecken, so macht er die Bewegung des Schwimmens. Daraus ergiebt sich, daß im thierischen Körper die Nerven in der Weise zweckmäßig zusammengeordnet sind, daß auf einen äußeren Reiz, auch ohne Einfluß des Willens, ganz automatisch die dem bestimmten Reize entsprechende zweckmäßige Bewegung erfolgen kann, daß also aus der Zweckmäßigkeit selbst einer sehr complicirten Bewegung gar nichts für einen stattgehabten Einfluß des Willens, also der Seelenthätigkett gefolgert werden darf. Im Gegentheil wird eine Bewegung dieser Art oft gerade um so sicherer und zweckmäßiger auftreten, je weniger der Wille eingreifen, also auch störend eingreifen kann.

Ganz natürlich ist es daher, daß sich zu den verschiedenen Traumvorstellungen gar häufig die entsprechenden Bewegungsversuche oder, wenn die Vorstellungen sehr lebhaft werden und der ganze Körper sehr nervös empfindlich ist, die wirklichen, vollständigen, den Vorstellungen entsprechenden Bewegungen gesellen, und daß diese Bewegungen nach automatischer Anordnung, nach früherer Gewohnheit und so weiter ganz zweckmäßig sich gestalten. Wir bezeichnen diese Erscheinungen, die von dem einfachsten unruhigen Liegen und Herumwälzen im Bette bis zu den verwickeltsten Handlungen des wachen Lebens gehen können, mit dem Worte des Schlafwandelnd oder des Somnambulismus. Daß diese Vorgänge vom Lichte, wie von allen die Nervenreizbarkeit erhöhenden Einflüssen befördert werden, ist natürlich, daß sie vom Einflüsse des Mondes für sich abhängen, eine alte Fabel. – Man hat hier insbesondere darin etwas Wunderbares finden wollen, daß die Nachtwandler mit völliger Sicherheit Bewegungen ausführen, gefährliche Pfade beschreiten, wozu sich der Wachende niemals verstehen würde. Hat man sich dabei wohl Rechenschaft davon gegeben, weshalb derselbe Mensch ohne besondere Aufmerksamkeit in der Stube auf einem Brete hin und her geht, über das er, wenn es 25 Fuß vom Boden erhoben wäre, niemals gehen, von dem er bei gemachtem Versuche vielleicht herabstürzen würde? – Das Bewußtsein der Gefahr läßt ihn eingreifen in das Muskelspiel, wodurch der Schwerpunkt des Körpers in der richtigen Lage erhalten wird, und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 392. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_392.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)