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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

da er mit seiner Kenntniß des Schwerpunktes und der zur Erhaltung desselben nöthigen Bewegungen lange nicht so weit reicht, als die automatischen Gegenwirkungen ohne Eingreifen des Willens, so stört er leicht das Gleichgewicht und stürzt. Die mesmeristischen Thoren müssen von ihrer eignen geistigen Befähigung sehr gering denken, wenn sie das Gebahren des Nachtwandlers für einen erhöhten Seelenzustand ansehen, denn sie stellen sich damit noch unter die geistige Stufe einer Katze, die ja auch mit aller Sicherheit, und zwar aus denselben Gründen wie der Nachtwandler, auf der Dachfirste dahinschreitet. –

Und noch eine andere Erscheinung hängt hiermit zusammen, die den meisten Menschen noch viel wunderbarer vorkommt. Es sind in der That einige Beispiele constatirt, daß ein Mensch einen Gegenstand, ein wichtiges Document oder dergleichen viele Tage vergebens suchte, bis ihm im Traume der Ort sich darstellte, wo es lag. – Wer den Mechanismus des Erinnerungsvermögens kennt, wird sich nicht darüber wundern. Wir erinnern uns einer Sache, weil eine Vorstellung, die wir haben, direct oder durch viele Zwischenvorstellungen eine frühere Vorstellung wieder belebt. Es ist die durch Gleichzeitigkeit, Reihefolge und dergleichen gebildete Association der Vorstellungen, die hier eintritt. Sobald diese Reihe der Wiederbelebungen ungestört abklingt, führt sie nothwendig, ich möchte sagen mechanisch, zu der gesuchten Vorstellung; greift aber der Wille nach bestimmten Ansichten über vermeintliche Verbindungen in dieses Spiel ein, so führt er leicht diese Associationen immer wieder auf falsche Reihen; sowie aber der Wille aufhört einzuwirken, so stellt sich die richtige Verknüpfung von selbst her. Ist es doch ein bekanntes Mittel, wenn man sich mit aller Mühe auf etwas nicht besinnen kann, eine Zeitlang nicht an die Sache zu denken. – Wie eigensinnig in dieser Beziehung die Associationen sind, zeigt das Beispiel, welches Richerz von sich erzählt: Der Name einer Person, für den er noch dazu ein lebhaftes, wenn auch unangenehmes Interesse hatte, fiel ihm immer nur dann ein, wenn er in dem Zimmer war, wo er den Namen zuerst hatte nennen hören, und das auch nur dann, wenn er nicht an die Sache dachte; sowie er das Zimmer verließ, war der Name seinem Gedächtniß wieder entfallen.

Mit Anwendung dieser ganz feststehenden und ziemlich allbekannten Erfahrungen und Gesetze in der Lehre vom Gedächtniß auf die zuletzt erwähnten Traumerscheinungen hört aber jeder Schein des Wunderbaren sogleich auf; man wundert sich höchstens noch darüber, daß die Erscheinung leichter und sicherer Erinnerung im Traum nicht noch weit öfter vorkommt, und sieht, daß diese Thatsachen, weit entfernt ein höheres Geistesleben zu bekunden, vielmehr ein Zurückgehen auf den rein materiellen Mechanismus darstellen.

Auf diese Weise erklären sich uns leicht alle scheinbar rätselhaften Vorgänge auf diesem Gebiete als ganz natürliche, ja nothwendige Folgen psychologischer und physiologischer Verhältnisse, wenn wir nämlich kritisch zu Werke gehend unzählige Ammenmärchen, die erzählt, geglaubt und weitergetragen werden, aus der Sammlung wirklicher Thatsachen ausscheiden. Hier wie auf allen anderen ähnlichen Gebieten hat sich noch nie eine der viel verbreiteten Wundergeschichten einem zugleich welterfahrenen und kenntnißreichen Naturforscher zur Prüfung gestellt oder, wenn sie es that, die Prüfung bestanden. – Hat doch vergebens die Pariser Akademie jahrelang einen Preis von 3000 Franken der Somnambule geboten, die mit wirklich verbundenen Augen aus einem wirklich geschlossenen Briefe auch nur ein einziges Wort lesen könnte. Ohne Ausnahme sind alle, die sich meldeten, als entlarvte Betrügerinnen fortgejagt worden.

So hätten wir denn das ganze Gebiet, wegen der Fülle des Stoffes mehr andeutend als ausführend, durchschritten und können als Resultat hinstellen: Traum ist das zufällige Spiel der Vorstellungen bei im Schlafe aufgehobenem Bewußtsein. – Hat der Traum darin eine Aehnlichkeit mit dem wachen Leben? Gewiß! Denn, wenn auch nicht aufgehoben, ist unser Bewußtsein doch auch im wachsten Zustande in mannigfacher Weise beschränkt. Um nur Eins zu erwähnen: wie unendlich wenig von dem ganzen Besitzthum unserer Seele können wir in jedem Augenblicke übersehen! Wie Vieles liegt im dunklen Hintergrunde verborgen, wie vieler Mühe, welch’ künstlicher Veranstaltungen bedarf es oft, um Einzelnes davon wieder in unser Bewußtsein zurückzurufen! Wohl können wir uns einen Zustand in einem Jenseits denken, in dem unser Bewußtsein, von allen Beschränkungen befreit, jeden Augenblick unser ganzes geistiges Eigenthum als gegenwärtig beherrscht. Ein solcher Zustand würde sich dann zu unserm wachen Leben, wie dieses zum Traum verhalten. – Aber ein wesentlicher Unterschied bleibt doch bestehen zwischen Traum und Wachen, auf den wir oben schon hingedeutet. Der Traum hat nichts Festes. Aber durch die schwankenden Nebelbilder des Erdenlebenstraumes zieht sich ein unerschütterlicher Gedanke, der dem Ganzen Halt verleiht, die Idee der Sittlichkeit, und so dürfen wir unsere ganze Betrachtung wieder mit den Worten des Prinzen Sigismund schließen:

Doch sei’s Traum, sei’s Wahrheit eben:
Recht thun muß ich; wär’ es Wahrheit,
Deshalb, weil sie ’s ist; und wär’ es
Traum, um Freude zu gewinnen,
Wenn die Zeit uns wird erwecken.






Vom verlassenen Bruderstamme.

Nr. 5. Die danisirte Domschule.

„Der deutsche Schulunterricht in der deutschen Sprache wird in vielen Gemeinden theils auf zwei Stunden, theils überhaupt nur auf die obern Abtheilungen beschränkt, während die Sprachrescripte diese Beschränkung nicht kennen; in andern Gemeinden hat ihn das Kirchenvisitatorium ganz abgeschafft, damit die Kinder erst ordentlich dänisch lernen. Selbstverständlich hat die dänische Sprachpropaganda insonderheit auf die Schulen auch in den deutschen Districten ihre Aufmerksamkeit gerichtet. Von den frühern vier von Alters her deutschen Gelehrtenschulen im Herzogthum Schleswig besteht nunmehr nur noch die schleswigsche Domschule als die einzige deutsche Gelehrtenschule des Landes. An derselben sind aber bereits von 13 Lehrern 11 geborne und des Deutschen zum Theil nur in sehr geringem Grade mächtige Dänen als Lehrer angestellt. Eine deutsche Realschule in der als deutsch anerkannten Stadt Schleswig ist mit Aufhebung bedroht, und dieselbe bisher nur noch durch den eben entlassenen und durch einen Dänen ersetzten Propst Thieß hinausgeschoben, der sich weigerte, „diesen Act der schnödesten Willkür“, wie er sich ausdrückte, vollziehen zu lassen.“

„In der ebenfalls zum rein deutschen District gehörigen Stadt Husum ist die gelehrte Schule in eine Realschule umgewandelt und mit dänischen Lehrern versehen worden, deren Unterricht freilich so wenig Anklang findet, daß die einst stark besuchte Anstalt im Herbste dieses Jahres in der dritten Classe nur einen einzigen Schüler zählte. Selbst die Danisirung in den in rein deutschen Districten belegenen Volksschulen ist in diesem System der Consequenzen nicht außer Acht gelassen worden, und für diesen Zweck wird selbst der Unterricht in deutscher Sprache benutzt.“

Dies sind die trockenen Worte eines diplomatischen Actenstückes, der preußisch-ministeriellen Denkschrift vom Juli 1860. Ich hätte mich, um die in Schleswig durch die dänische Regierung eingeführte Knechtschaft der Geister in den Schulen zu charakterisiren, auf andere Zeugnisse beziehen, ich hätte von jenen „Allotriis, von jenen Carricaturen des Heiligen, von jenen Faustschlägen, die der Moralität in’s Gesicht versetzt worden, von der in Schleswig um sich greifenden geistigen Verdummung“[1] sprechen können; ich habe absichtlich hier die höchst mäßigen Worte eines diplomatischen Actenstückes gebraucht. Aber wie viel Jammer, wie viel Schmerz, welch’ tolle Willkür liest sich aus diesen trockenen Worten heraus! Wie müssen die Mitglieder des Wiener Cabinets geschüttelt haben, als sie diese Schilderung dänischer Wirthschaft in einem deutschen Lande in der preußischen Denkschrift lasen! Wahrhaftig, da konnten sie mit einem Gefühl innerster Befriedigung an ihre eigene Regierung in Venetien denken und sich mit Recht sagen: „Einer so brutalen und dummen Willkür gegenüber fühlen wir uns rein, wie neugeborene Lämmer.“ Mir aber klingt, wenn ich an diesen geistigen Kindermord denke, den ich im verflossenen Sommer täglich in Schleswig vollziehen sah, die alte Klage durch die Seele: „Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört, viel Klagens, Weinens und Heulens. Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen.“ – –

Ich werde nun den schlagendsten Commentar zu den Worten der preußischen Denkschrift liefern, den ich zu schreiben im Stande

  1. Schleswig-Holsteinische Briefe von Moritz Busch. Bd. II. S. 65.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 393. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_393.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)