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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

und sie thun dies in einer mit so viel Klugheit gepaarten Weise, daß der erschrockene Wanderer nicht selten darin einen Grund zu mächtigem Erstaunen findet. Häufig ist es vorgekommen, daß solche Thiere, wenn der Schlitten auf glatter Bahn ausgeglitten war und bereits mit seiner gewaltigen Schwere schwebend über dem Abgrund hing, sich sofort ohne Befehl an die Seite der aufsteigenden Felsenwand an den Boden legten und ruhig abwarteten, bis die Führer zu ihrer Rettung herbeieilten. Einen zweiten gefahrdrohenden Moment bildet der Umstand, daß im Frühling der von den Lüften über die Gebirgskämme weggewirbelte Schnee sich auf den Straßen zu mächtigen Wällen aufbaut, welche weit über das solide Straßenbett hinaus den Abgrund überragen. Da kann es dann freilich begegnen, daß der ganze Train, statt auf der eigentlichen Straße, über diese von der Natur nicht eben sehr solid construirten Brücken ohne Joche und Bogen wegkutschirt. Im Winter halten übrigens diese hängenden Schneebastionen sehr fest, im Frühling aber, wo der Föhn ihre Grundlagen zu schmelzen anfängt, hängt es oft nur von einem ganz geringfügigen Umstand ab, daß nicht die ganze Karawane, Roß und Mann, einen gefährlichen Sprung in die Tiefe macht. Gerade dieser Umstand, verbunden mit den häufigen Lauinenstürzen, mag es gewesen sein, welcher dem Tremola-Thal (Zitterthal) seine Benennung und einer Strecke der Splügenstraße den noch weniger einladenden Namen Passo della morte (Todespaß) verschafft hat.

Hier und da kommt es auch vor, daß der im Winter nur für eine Schlittenbreite geöffnete laufgrabenartige Weg total wieder verschneit wird, die ganze Postkarawane buchstäblich stecken bleibt und von den Rutnern erst aus ihrem Verhängniß herausgegraben werden muß. Solch ein erzwungener Halt kann zuweilen Tage lang dauern. Meist gelingt es dabei aber wohl den Reisenden, das nahe Hospiz zu erreichen und, wie auf dem Bernhard, in Gesellschaft der gastfreien Mönche die Wiedereröffnung des Weges beim warmen Ofen abzuwarten.

Die Rutner haben begreiflicher Weise einen mehr als harten Dienst, und es gehört zu diesem Gewerbe eben jene eiserne Gebirgsnatur, die im ewigen Kampfe mit den Unbilden der Witterung sich endlich fast bis zur Unempfindlichkeit der heimischen Gebirgsblöcke abgehärtet hat. Diese Bahnbrecher werden theilweise von den Cantonsregierungen, bei bedeutendern Pässen, wie namentlich auf dem Gotthard, aber von der Eidgenossenschaft besoldet. Der letztere Paß ist ein sehr bedeutender Punkt im Budget der kleinen Republik, denn der jeweilige Ansatz für den Schneebruch beträgt alljährlich nicht weniger denn sechstausend Francs. Die Arbeit wird in der Weise verrichtet, daß zuerst mit einem Dutzend tüchtiger Zugochsen, die vor den Bahnschlitten gespannt und in die Schneewildniß hinausgetrieben werden, der erste Durchpaß erzwungen wird. Das giebt nun freilich eine ziemlich mangelhafte Passage, aber dem Schlitten auf dem Fuße folgen die Rutner und schaufeln den entstandenen Graben so weit aus, bis er als Fahrbahn dienen kann. Dieselbe dann den Winter über in brauchbarem Zustande zu erhalten, ist die fernere Aufgabe dieser Kraftmenschen. So gefährlich auch ihre Arbeit sein mag, so ist es dennoch selten, daß ihnen dabei ernstliches Unglück begegnet. Sie kennen das Gebirg so gut wie ihre eigene Rocktasche, wissen den Lauinenstürzen aus dem Wege zu gehen, und wer den Berg überschreiten will, wird stets wohl daran thun, ihre Rathschläge nicht leichtsinnig zu mißachten.

Aus lauter Gefahr, Beschwerlichkeit und Nasenfrieren besteht aber so eine Winterfahrt denn doch keineswegs. Der Humor kann auch noch da oben in den eisigen Revieren fortkommen, wenn er einigermaßen sorgfältig gepflegt wird. „’s geht leichter bergab, als bergauf,“ ist ein altes schweizerisches Sprüchwort, das sicherlich seine volle Berechtigung hat und den praktischen Sinn meiner Landsleute auch in der Sprüchwörterfabrikation beurkundet. Ist man oben auf der Paßhöhe angekommen, haben sich Menschen und Pferde mittelst einer tüchtigen Collation für die Weiterreise gestärkt, und hat sich der vernünftige Theil der Gesellschaft wieder sorglich in die Büffelhaut eingewickelt, so geht’s gar lustig mit hellem Gejauchze und fröhlichem Gelächter durch die eisige Luft dahin, dem mildern Süden entgegen. Zuweilen bietet ein vollständig mit gefrornem Schnee bedeckter, nicht allzuübermäßig steiler Abhang Gelegenheit, eine weitschichtige Krümmung der Straße abzuschneiden, und dann fliegt der Zug mit der Schnelligkeit geschmierten Blitzes in schnurgerader Richtung in die Tiefe, ohne den mindesten Schaden zu nehmen. Damit ein allfälliger Purzelbaum nicht allzugroßes Unheil anrichten könne, sind auch die Schlitten unbedeckt und selbstverständlich ohne Fenster, sodaß die Umgeworfenen, ohne sich den Kopf durch die Glasscheiben zu stoßen, ein paar Mal das Rad schlagen und doch schließlich wohlbehalten unten ankommen können.

Bis jetzt haben wir es aber nur noch mit den fahrbaren Alpenpässen, mit den eigentlichen Chausseen des Hochgebirgs zu thun gehabt, auf denen vielleicht auch noch einmal das in den Ebenen so schwer vermißte Posthorn und das romantische Schellengeklingel nicht mehr ertönen wird, während dafür der grelle Pfiff des Dampfungeheuers den einsam über den Gebirgskämmen schwebenden Adler aus seiner majestätischen Ruhe aufschreckt und das gesellige Murmelthier in seine Höhle zurückscheucht. Streitet man sich doch jetzt schon in den eidgenössischen Räthen über die Frage, ob Citronen und Pomeranzen von der Locomotive künftig über den Gotthard oder den Lukmanier geholt werden sollen, und nehmen sich die Eisenbahnbarone beider Lager darob fast bei den Köpfen. Die Romantik ist selbst achttausend Fuß über dem Meere nicht mehr sicher, und hätte sie nicht glücklicherweise Flügel, so würd’s ihr gehen, wie dem ausgerotteten Geschlechte der Steinböcke.

Etwas anders aber gestaltet sich die Sache jedoch auf den zahllosen, zwar ebenfalls vielfach benutzten Alpenpässen, wo an den Gebrauch der Fuhrwerke nicht zu denken ist, den eigentlichen Säumerpfaden auf den vielfach verschlungenen Rücken der Graubündner-, Tessiner-, Walliser- und Berneralpen. Da ist der Naturwüchsigkeit noch mehr denn genug. Zu kunstvoll sind diese Straßen keineswegs angelegt, der Mensch hat da der Natur nur sehr wenig in’s Handwerk gepfuscht und meint, er habe schon viel gethan, wenn er hie und da ein paar Granitfündlinge in einen Sumpf hineingerollt, über den hinweg sonst schlechterdings von Mensch und Vieh nicht zu kommen war. Gallerien und Zufluchtshäuser sind da verpönte Luxusgegenstände, und der Säumer mag sich mit den Schneestürmen abzufinden suchen, so gut er es eben vermag. Viel, wenn oben auf der Paßhöhe etwa ein hölzernes Häuschen erbaut ist, in dem man den Pferden bei gar zu häßlicher Zudringlichkeit des Schneesturmes etwas Futter reichen kann. Wie bleichende Schädel den Karawanenzng durch die Wüste bezeichnen, so liegen an diesen Säumerpfaden nicht selten die Gerippe umgekommener Saumrosse. Ueberall tragen die Saumrosse Maulkörbe; dem vordersten Thiere wird eine Glocke angehängt, damit, wenn der Zug von Nebel oder Schneegestöber überfallen wird, der Führer aus dem Schalle die Richtung erkennen kann, welche das von seinem feinen Instincte geleitete kluge Thier genommen. Auf diesen einsamen, meist langweilig zwischen höheren Gebirgskämmen hindurch laufenden aussichtslosen Säumerpfaden kommen Unglücksfälle weit häufiger vor, als auf den fahrbaren Alpenstraßen. So ging einmal im Puschlav ein Mann, der zur Winterszeit Veltlinerwein über die Bernina säumen wollte, elendiglich sammt allen seinen Saumthieren zu Grunde. Der Zug wurde bei schneidender Kälte von einem so argen Schneesturme überfallen, daß Mann und Rosse förmlich in den kalten Flocken begraben wurden. Wahrscheinlich erlag der Führer bald. Die Pferde aber, auf merkwürdige Weise von ihrem Instinct geleitet, wußten sich bis zu einer seitwärts von ihrem Wege liegenden Weide durchzuarbeiten, wo sie früher gesommert worden waren. Sie stießen die Thüre der Alphütte ein, aber nur die eine Hälfte der Thiere gelangte in’s Innere; denn die vordersten hatten beim Eindringen die ihnen zu beiden Seiten herabhängenden Weinfäßchen (Lageln) abgestreift und so den Eingang verrammelt. Die draußen gebliebenen erlagen wohl rasch den Unbilden der Witterung. Die in die Hütte gelangten aber hatten nur um so länger zu leiden. Bei der Auffindung ihrer Leichen erzeigte es sich, daß sie das Lederzeug ihres Saumgeschirres verzehrt halten.

(Schluß folgt.)



 

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 423. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_423.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)