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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

ihrer Quelle im öden kalten Rahenthal bis zu den Lorbeer- und Cypressenhügeln des Giardino Ginsti bei Verona verfolgt, dessen Sinne haben fast alle Klimata Europa’s kennen gelernt.

Jener geschützte warme Kessel nun, den ich vorhin erwähnte, und in welchen die Etsch von der Töll aus sich hinabsenkt, ist das eigentliche Thal von Meran. Ein wahrhaft bedeutungsvoller Punkt, wie er sich unter so günstiger Situation nirgend weiter auffinden läßt. Wie eigentlich auch Botzen nicht direct an der Etsch, sondern seitwärts am Zusammenfluß der Talfer und des Eisack liegt, so werden auch die Gärten Merans nicht von der Etsch, vielmehr von der reißenden Passer bespült, welche eine Viertelstunde oberhalb der Stadt in die Etsch mündet. Betrachten wir das Panorama.

Wir überschreiten den hohen gewölbten steinernen Brückensteg, welcher über die Passer führt, und ersteigen den kleinen Hügel, auf dem das Dorf Obermais liegt, ganz nahe als Vorort an Meran grenzend. Es ist der Standpunkt, von dem unser beigefügtes Bild aufgenommen ist. Im Norden steigt mit imposanter Kühnheit und in sonnenblendender Felsenpracht eine zackige, aber dabei doch graziös wellenförmige Gebirgsgruppe empor. Ihre höchsten Kanten sind fast das ganze Jahr hindurch mit blitzendem Schnee gesäumt, denn dieser mächtige Bergstock, der einen weiten flachgestreckten Bogen, nordöstlich vom Eingang in das Passeyerthal bis nordwestlich weit in das untere Vintschgau nach Partschius hinein bildet, erhebt sich durchschnittlich 8000 Fuß über die Meraner Thalsohle. Diese selbst liegt nur 900 Fuß über dem Meere, eine verhältnismäßig große Tieflage am Fuße der Hochalpen, die viel zur Wärme des Klimas beiträgt.

Jene herrliche Bergreihe, am Fuße blühend und prangend mit Obst-, Nuß- und zahmen Kastanienwaldungen bestanden, während sich höher hinauf Tannen anschließen, von den Gipfeln der kahlen Urgebirge, Mutspitz, Redelspitz, Tschigat (Tschegot), Zielspitz und Sonnenberg überragt, bilden die gewaltigen Vorsprünge der Oetzthaler Ferner. Sie schützen das Meraner Thal gegen Norden vor dem rauhen Andrang der Luft und geben einen wahren Heerd für die zurückprallende Mittagssonne. Die Rebe gedeiht an dieser Berglehne in üppiger Fülle. Die besten Trauben bringt sie am Küchelberg, einem niedrigen, das heißt immer doch 1200 Fuß dicht über dem Städtchen Meran aufsteigenden Vorhügel, der sich wahrscheinlich durch einen vorgeschichtlichen Bergsturz von den Wänden der Mutspitz herabgesenkt hat. Er trägt auf seinem hinteren Rücken fruchtbare, wasserdurchrieselte Wiesen und Baumfelder und das Dorf Tyrol. Weiterhin überblickt man am Fuße dieser eben beschriebenen stilvollen Berggruppe, mehr oder minder im Grunde oder auf mäßiger Höhe, zwischen Weingärten aufgebaut, noch die Oertchen Grätsch, Steinach, Algund, Plars, Töll und Partschins.

Dies ist also der Blick nach Nord-Nord-West, Nord-West und Westen bis in das Vintschgau hinein, dessen Krümmung vom vorspringenden Sonnenberg so ziemlich geschlossen wird. Die untere Fläche dieses Thalwinkels von Meran zwischen der Stadt und der Töll präsentirt sich als ein schwimmendes Wiesenmeer, von einzelnen Bauerngehöften geschmückt und mit reichen Plantagen von Obstbäumen und Weiden an den zahlreichen Bewässerungsbächen und Rinnen durchzogen. Die jungen Weiden werden in ihren biegsamen Zweigen zum Anbinden der Weinreben benutzt; die Obstbäume sind meistens Apfelbäume mit jenen europäisch berühmten Aepfelsorten, welche als Maschausker (Borsdorfer), Lederäpfel (eine besonders schöne Reinettenart), Taffetäpfel und besonders weiße und rothe Rosmarin die Desserttafeln aller nordeuropäischen Gastmähler zieren.

Wendet man sich nun nach Süden, so schaut man das eigentliche Etschthal entlang, nach Botzen zu. Der waldige, kuppelförmige Marlinger Berg nimmt die Ecke ein, an welcher dieses Thal in das Vintschgau einbiegt. Die Berge von Ulten, der Hoch-Laugen und die Mendelspitz (La Mendola) setzen die westliche Einfriedung des Botzener Thales weiter fort. In tiefem blaugrünem Sonnenduft, wie auf Glas gemalte durchsichtige Gebilde, liegen sie im Mittagsbeleuchtung entzückend vor dem Beschauer. Nur die Mendelspitz, welche diese Bergreihe schließt, in der Gegend von Kaltern, fällt als röthliches Dolomitgebirge mit ihrer hellen Felsenwand steil in’s Thal hinab, in scharf markirter Form. Ganz im Süd-Süd-Westen, wohl in einer Entfernung von zwölf Stunden, ist die Aussicht von einem lichtblauen Gebirgszug Welschtyrols geschlossen.

Die andere östliche Seite des Etschthals wird von einem bewachsenen, nur in einzelnen röthlich gelben und rothvioletten Felswänden kahlen Porphyrgebirge eingefaßt. Es ist der Zug des Freiberges, der sich vom Iffinger bis nach Botzen in abwechselnden, mäßigen Formationen erstreckt. In dem Etschthal, gleichfalls wiesengrün und baumdurchwachsen, fallen besonders freundlich auf die Ortschaften Untermais, am Fuße des Hügels, auf dem wir stehen; Marling, mit ausgezeichnetem Glockengeläut, auf einem kleinen Vorsprung des Marlinger Berges; die Geschwisterdörfer Lana, Völlan und Tifens. Alles trägt einen blühenden, lachenden Charakter und einen Farbenschmelz der Vegetation, der zwischen dem italienischen und deutschen die Mitte hält; tiefes Grün, mannigfaltige südliche Früchte, aber hoher, mächtiger Baumwuchs und Grasflächen, wie sie nur dem Norden eigenthümlich sind.

Dreht man sich nun direct nach Norden hin, so daß der Panoramakreis um die ganze Windrose beschrieben ist, so sieht man zwischen der links (westlich) gelegenen circa 8000 Fuß hohen Mutspitz mit dem vorspringenden Fußgestell des Küchelberges und dem rechts (östlich) gelegenen etwas höheren, gespaltenen Felskegel des Iffingerberges den Eingang in das Passeyrthal, welches durch den großen patriotischen Bauernhelden Andreas Hofer für alle Verehrer des vaterländischen Opfermuthes, für alle Bekenner dieser höchsten Pflicht so berühmt geworden ist. Man kann dieses Thal insofern ganz entlang schauen, als man den Schluß desselben, den blauviolett-grünen Bergrücken des Jausenpasses (mons Jovis) hinter St. Leonhard übersieht. Zugleich erblickt man die Dörfer Schönna, Kains und Riffian.

Was aber zunächst als romantischer Punkt des Vorgrundes, nahe am Eingänge des Passeyrthals in das Meraner, dem Auge auffällt, ist die alte Ruine der Zenoburg, deren noch ziemlich erhaltenes Gemäuer, epheuumrankt und mit Bäumen verwachsen, auf einem senkrechten Felsvorsprung sich zu pittoresker Decoration der Thalmündung erhebt. Am Fuße braust die Passer zwischen Steinblöcken im ausgewühlten Bett tosend daher. Es ist ein wilder gefährlicher Alpenbach, dessen jäh aufbäumende Fluthen oft schon die Mauern Merans bedenklich beschädigt haben. Aber er versorgt auch die Meraner mit Brennmaterial, denn das Holz, das im Passeyrthal in übergroßer Menge, oft von sehr unzurechnungsfähigen Händen, geschlagen wird, flößt die Passer im Frühjahr nach Meran, wo es an einem Wehr aufgefangen und auf einem dazu bestimmten Holzanger aufgestellt, vermessen und verrechnet, einen trüben Anblick für alle Diejenigen gewährt, welche die klimatischen und ökonomischen Verschlechterungen durch eine unverständige Entholzung schützender Gebirgsabhänge kennen gelernt haben. Die Passer windet sich bei ihrem Austritt aus Passeyr in einem stumpfen Bogen nach Westen hinüber, und zwischen ihrem Uferrand und dem schon erwähnten Küchelberg ist im Mittelalter, nicht zur Römerzeit, das Städtchen Meran erbaut[1], welches nach Obermais zu, am Rande des Wassers, jenen Theil mit an sich geschlossen hat, der eigentlich Steinach heißt.

Obermais, auf dem Hügel unseres Standpunktes, ein zwischen Weingärten, Maisfeldern und Obstbäumen freundlich gelegenes und mit zahlreichen mittelalterlichen Villen, Schlößchen und kleinen Burgen malerisch decorirtes Dorf, hängt auf seinem schrägen Abhang eigentlich mit Untermais zusammen. Jenes Untermais ist die Stätte, welche ein wichtiger Punkt für die Geschichte und antike Literatur werden könnte; von hier aus ließe sich Vieles aufklären, was bis jetzt dunkel war und dunkel bleiben wird. Unter diesem lachenden Dorfe Obermais nämlich liegt – eine alte Römerstadt begraben. Hier stand die von Drusus gegründete Mansio Maja, das alte Castrum majense, ein wichtiger Punkt für das damalige Alpengebiet und allen Vermuthungen zu Folge ein stattlicher Ort.

Vornehme Römer, denen die eroberten märchenhaften Alpenlande etwas Neues waren und die nach dem Gardasee (Bennacus Lacus) und nach anderen Gegenden zum Lustaufenthalt zogen, um der drückenden ungesunden Sommerluft Roms zu entfliehen, werden auch nicht verfehlt haben, in Maja ein Tusculum aufzuschlagen. Schätzte man doch schon damals das herrliche Klima und das Gedeihen des Weinstocks im Etschgrund und am Küchelberg.

Auf welche Weise nun ging diese römische Niederlassung zu Grunde? Noch ist es nicht gelungen, das Jahr zu ermitteln, in welchem sich jene schreckliche Katastrophe zugetragen; sicher ist aber, daß dieses Naturereignis zwischen 800–850 nach Chr. Geb. eintrat. Es geschah nämlich ein ungeheurer Bergbruch, der den ganzen Vorberg

des Iffinger, dadurch das jetzige Raisthal bildend, herabstürzte

  1. Die erste Urkunde datirt vom Jahre 1239; erst 1320 erscheint Meran als Stadt („civitas“).
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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 444. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_444.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2021)