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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

aus eigener Unkenntnis; oder aus der ihres Hausarztes täglich 5–10 Pfund Weinbeeren verspeisen und sich dabei wundern, daß sie so matt, so appetitlos sind und keinen Bissen anderer Speise mehr genießen mögen, die ihrem Körper Kraft und ihrem Gehirn Nahrung und Verstand gäbe. Später wundern sie sich noch mehr, wenn sie erst einsehen, wie durch dieses Uebermaß ihr Verdauungsapparat und ihr ganzer Organismus auf Jahr und Tag verdorben sind.

Einen höchst überraschenden, poetischen Anblick gewährt hier die Art des Weinbaues. Nicht wie am Rhein und in Frankreich werden die Reben an einzelnen Stöcken gezogen, kriechen auch nicht, wie in Calabrien, Sicilien und Griechenland, am heißen Boden dahin, sondern der Meraner Landmann baut für sie eigene Laubengänge aus Holzgerüsten, wobei ihm das Holz der zahmen Kastanie zum Einpfählen in die Erde wegen seines Widerstandes gegen die Fäulniß am liebsten ist. Unter diesen grünen lebendigen Weinlauben kann man im kühlen Schatten entlang gehen und sich an dem Anblick der herrlichen Früchte laben. Dieses Vergnügen kostet nur einige Kreuzer, denn zu all den Zeiten, wo sich Obst und Wein der Reife nähern, wird der Lustwandelnde hier von einer höchst abenteuerlichen Gestalt, mehr einem indianischen „Medicinmann“ als einem Europäer ähnlich, um „oan Tobakkroeuzer“ angehalten. Dieser Mensch, genannt der Saltner (Saldner, wahrscheinlich von Söldner herzuleiten), welcher von seinem Standpunkt aus alle Wege beobachtet, die von Spaziergängern betreten und von Spitzbuben gemieden werden, hat zu den Ersteren wegen des Tabakkreuzers, der häufig in einem Sechskreuzerstück besteht, eine ganz besondere Zuneigung. Er trägt eine curios gestaltete lederne Jacke und dito Hose, in der Hand, wie ein mittelalterlicher Flurschütz, eine mächtige Hellebarde und auf dem Kopfe einen dreikantigen Hut, der mit Gemsbärten, Eulenflügeln, Eichhornschwänzen, von der schwarzen und rothen Gattung, und bunten Bändern abenteuerlich geschmückt ist.

Von dem Wein von Meran, unter dessen Laubengängen zugleich wegen der Fruchtbarkeit des Bodens und Klimas noch allerlei Feldfrüchte, vorzüglich türkischer Weizen (Mais, „Kukerutz“), unvergleichlich wohlschmeckende Bohnen (Fisolen) und Plentenkorn (eine nahrhafte Haidegrütze, die ein graues Mehl zu täglichen Speckknödeln liefert) gebaut werden, wird ein fabelhaftes Quantum in Meran selbst verbraucht; in einer kleinen Haushaltung mit zwei Dienstleuten und einem zeitweisen Tagelöhner 20 – 24 Ihren (die Ihre zu 54 Tyroler Maß berechnet), in einer großen 50 –100! denn die Magd bekommt täglich ein halbes Maß, der Knecht ein Maß, bei allen anstrengenden Arbeiten, beim Heumachen, „Wimmen“ (Weinlesen), Bewässern jedoch drei. Wenn man dazu im Uebrigen eine reichliche, ja fette Kost und den Umstand rechnet, daß wegen der vielen Feiertage auf drei Jahre gerade ein volles Faulenzerjahr kommt; ja wenn man ferner bedenkt, daß ein Bauer, dessen Gut etwa 25,000 Gulden werth ist (beispielsweise der Hallbauer unter der Ruine Fragsburg, wohin so viele Fremde lustwandeln) zwölf Dienstleute hält, so kann man begreifen, daß hier der Eigenthümer von seinen Arbeitern gemüthlich „aufgezehrt“ würde, wenn der Himmel nicht durch die unglaubliche Tragkraft des Bodens Nachsicht gegen die unvortheilhaften Sitten und Übeln Gewohnheiten übte.

Trefflich aber sieht dieser Meraner Bauer aus. Es ist der Kern Südtyrols, der schwerere Bruder des kühnen Passeyrers, der sichere Schütze und todesmuthige hartnäckige Kämpfer des Befreiungskrieges von 1809, der, wenn sein Stutzen zertrümmert war, durch seinen Faustschlag den französischen Tschako mit sammt dem Schädel darunter zerschmetterte. Selbst die im Raufen so verwegenen bairischen Gebirgstruppen konnten dieser entfesselten Riesenkraft nicht Stand halten. Ein großer starker Männerschlag tritt uns entgegen. So wenig diese Bauern auch noch mit der früheren Begeisterung am österreichischen Regime hangen, so sehr halten sie doch auf ihr Nationalcostüm. Es ist wohl das auffallendste und dabei kleidsamste in den Alpen: sie tragen mit rother Naht geschmückte flache Schnallenschuhe, hellblaue oder eigentlich weiße Strümpfe; die Kniee sind bloß, die Beinkleider von schwarzem Leder; die braune Jacke, von starkem Lodentuch mit spannlangem Schooßlatz ringsum, hat vorn spitze Aufschläge von scharlachrothem Tuch; ein ebenso rothes Leibchen wird von grünen Hosenträgern mit einem Querband auf der Brust desto lebhafter hervorgehoben, und ein breiter, schön gestickter Ledergürtel schließt die Hüften, man möchte sagen, kugelfest ein. Mit der Tracht der Hüte ist in letzter Zeit eine Veränderung vorgegangen. Noch 1844 fand ich sehr breitkrempige, gegen die Sonne schützende Filzhüte mit niedrigem Kopf. Die verheiratheten Männer trugen sie schwarz, die Bursche grasgrün, natürlich mit Bändern und Sträußchen geschmückt. Jetzt trägt man eine Mittelgattung, der Rand halb so breit wie früher, der Kopf höher und etwas zugespitzt, doch beides nicht so stark wie bei den Inn- und Zillerthalern. Die alte Art erschien charaktervoller, die neuere ist flotter.

Das Nationalcostüm der Frauen hat sich sehr verloren, wenn ihnen auch eigentlich rothe Strümpfe, ein dunkler rothgeränderter Rock, ein seidenes, im Nacken, nicht unterm Hals, zugeknüpftes Tüchelchen, weiße Schürzen und schwarze Spitzhauben zukommen. Obgleich der Meraner Bauer im Grunde gutherzig und trotz seiner schweigsamen Bequemlichkeit von Natur sogar aufgeweckt ist, so wird es doch wegen einer gewissen mißtrauischen Scheu vor „Stadtherren“ dem Fremden schwer, mit ihm zu verkehren. Dazu kommt ein unendlich starker Dialekt. Und dennoch ist dieser Verkehr nöthig, wenn sich der Gast hier wirklich heimisch fühlen soll. In Bezug auf öffentliche Kaffeegärten und Restaurationen an schönen Punkten sieht es mit der Meraner Speculation noch sehr bescheiden aus. Der Fremde sehnt sich vor Allem nach Naturgenuß, verbunden mit leiblicher Stärkung außerhalb der Stadt. Da wandelt er denn zu Esel oder zu Fuß in anderthalb Stunden nach Schloß Tyrol, wo früher die Landeshauptleute der Grafschaft Tyrol residirten, während man von der Gründung dieser alten, im Innern wenig sehenswerthen Burg nichts Bestimmtes weiß. Desto wunderbarer ist die Aussicht über die Ruine Brunnenburg hinab, das sonnenbeleuchtete, blauduftige Etschthal entlang. Unten im Wiesengrund liegt die alte Burg Forst mit einem Brauhausgarten in der Nähe, in welchem alle Nichtkenner sich an einem für sie sehr angemessenen Biere laben.

In gleicher Entfernung wie Tyrol gelangt man auf einem kleinen Vorsprung des Marlinger Berges zu der noch sehr wohlerhaltenen Burg Lebenberg. Man sieht, wie köstliche Früchte hier der Citronenbaum trägt, wenn er auch im Winter zuweilen tüchtig leidet, labt sich an den prachtvollen Blüthen des Granatbaumes und genießt die Landschaft von einer andern Seite. Das Thal nach Italien zu liegt im Sonnengold duftig verhüllt, gegenüber die Höhen des Freibergs mit der hohen Fragsburg und hoch oben das alte Kirchlein St. Katharina in der Schart, vor dem Dorfe Hafling Wacht haltend. Nordöstlich an den Felswänden des Iffinger und des 10,000 Fuß hohen Hirzer blitzen die Sonnenstrahlen in gelbem Lichte. Anders wieder ist das Gemälde von Rametz aus, über St. Valentin, wo Lorbeer duften, Mandelbäume ihre rauhhaarigen Aprikosenfrüchte tragen und die große saftige Maulbeere von allen Arten den Gaumen erfrischt. Anders zeigt sich das ewig wandelnde Bild vom Schlosse Rubein in Mais mit seinen dunkeln Cypressen, und wer endlich nach Gain (Goyn) am Raisthal hinauf steigt und aus dem alten Burgerker blickt, wird sich immer wieder in ein neues Paradies versetzt glauben. Hat er es aber gelernt, mit dem Landmann ein wenig zu verkehren, oder begleitet ihn ein gefälliger Bewohner Merans, so wird er überall ein Bauerngut finden, in dessen Weinberg sich ihm ein gastlicher Tisch mit Kaffee, halbgeschlagenem Rahm („Maibutter“, die man mit Zucker tellerweis ißt), Nüssen, Kastanien, Wein, Feigen und sonstigen Früchten schönster Art für ein geringes Geld bedeckt.

So restaurirt man sich, wie man es nirgend sonst haben kann, auf wahrhaft poetische Weise, und will der Fremde noch außerdem in dieser nicht theuren Gegend praktisch wohnen, so wird er wohl thun, in der wärmern Jahreszeit das luftfrische Obermais, in der kühleren Zeit unten in der Stadt die Mittagsgegend an dem schönen Damm der Wassermauer oder die Häuser an und vor dem Vintschgauerthor zu wählen.

Was an historischen Ueberlieferungen, Sagen, Sitten und Culturzuständen von Interesse ist, wird sich ergänzend herausstellen, wenn ich es wagen darf, den nachsichtigen Lesern auch andere Punkte Südtyrols und des Etschthals zu schildern. Der überreiche Stoff gestattete für diesen Raum über Meran nur eine Skizze.

O. B.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 446. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_446.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)