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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Velten Muhly’s Meisterschuß.

„So fest wie Ziegenhain!“ mit dieser Bezeichnung ehrte man im Hessenlande schon lange vor dem dreißigjährigen Kriege jedes Wort und jedes Werk, auf das man sich in der Noth verlassen konnte. Aber nicht allein auf die Mauern der Stadt, auf ihre Wälle und Gräben – deren Uneinnehmbarkeit auf einer Einrichtung fußte, mittelst der man das allseitig fast stundenweite Thal durch die Wasser des Schwalmflusses unüberschreitbar zu machen verstand – auch auf die Herzen der damaligen Bürger der Festung hat dieses Sprüchwort ein Recht auf Anwendung. Schon zur Zeit Philipp’s des Großmüthigen waren die Bürger Ziegenhains – und eben deshalb waren es Bürger – zugleich die Vertheidiger ihrer Festung; und wie sie es gewesen, das beweist ein kostbares heilig gehaltenes Geschenk[1] aus der Hand jenes ritterlichen Fürsten vom Jahre 1539. Einundsechzig Jahre später erfuhr diese Körperschaft der Ziegenhainer Bürgerschützen durch den Landgrafen Moritz und „aus sonderlicher Sorgfältigkeit für seine lieben Unterthanen“ eine ebenso heilsame, als angenehme Umgestaltung: die bessere militärische Einrichtung und die Verleihung wichtiger Gerechtsame. Hier ist nicht der Raum, aufzuzählen die einzelnen Gefechte, die sie siegreich gegen die schwärmenden Horden der Kaiserlichen gewagt, und die Namen der bei solcher Gelegenheit Gefallenen, deren die Chronik der Stadt eine ziemliche Anzahl nennt. Einen Namen nur möchte ich ihr entlehnen, denn er verdient es vor Allen, daß ihn ein Jeder kenne, der Begeisterung für die einfachen und doch so herrlichen Ideen seines Trägers, für die Vertheidigung des Bodens, der mütterlichen Erzeugerin, für die Wahrung der geistigen Freiheit im Busen trägt.

Um Ziegenhain herum lagerte am 13. November des Jahres 1640, also im wildesten Brande des dreißigjährigen Kriegs, der kaiserliche Feldmarschall-Lieutenant von Breda, Obercommandeur einer aus Oesterreichern und Baiern bestehenden Heeresmacht, deren eine Hälfte – 3000 Mann und 10 Kanonen – unter dem Generalfeldwachtmeister Mercy d’Argenteau noch im Anzuge war und tagtäglich mit Sehnsucht erwartet wurde. In Ziegenhain saß mit einem kleinen, aber tapferen Häuflein der früher schwedische, später Weimarische, jetzt aber französische Oberst Reinhold v. Rosen, lachte hinter dem schützenden Doppelwalle der Festung des hochtrabenden, zu seinen Ohren gekommenen Projectes des viel stärkeren Gegners und schlug ihm – nicht etwa blos ein Schnippchen – nein, schlug ihm hier eine Abtheilung, dort eine Abtheilung seiner Soldaten, um der Mordlust und Plünderungssucht Einhalt zu thun, womit die Kaiserlichen die Dörfer heimsuchten. Aber auch dabei ließ er’s nicht bewenden, sondern machte, seine ganze Stärke zusammenraffend, am Mittage des genannten Tages einen kühnen und glücklichen Ausfall und trieb den übermüthigen Oesterreicher bis vor das Städtchen Neukirchen zurück. Am anderen Tage standen sich die beiden feindlichen Heere eine Stunde Weges von einander ruhig gegenüber, sich vorbereitend zu einer entscheidenden Schlacht, zu welcher anderen Tages der tapfere Rosen die Offensive zu ergreifen beabsichtigte, weil er sehr wenig Neigung verspürte, sich auch noch das feindliche Hülfscorps unter Mercy d’Argenteau auf den Hals zu laden. Und dieser war am Abend des 14. nur noch vier Stunden von Riebelsdorf entfernt. Das wußte nicht allein Rosen, das wußten auch die Bürgerschützen von Ziegenhain – und ihrer Einer nahm sich’s zu Herzen.

Den breitkrämpigen Hut tief in die Stirn gedrückt, auf dem Rücken einen schwergefüllten Sack, wandelte, gekleidet in die Nationaltracht der Schwälmer, eine kräftige, untersetzte Gestalt am Nachmittage des 14. auf dem Wege von Ziegenhain nach Riebelsdorf dahin – ruhigen und gemessenen Schrittes, wie Einer, der vollkommen ruhig und sorglos. Und dennoch lief dieser Mann der größten Gefahr auf dem kürzesten Wege entgegen: das Wagestück eines Spions, den unverkleidet Jedermann kennt, ist gewiß nicht das leichteste! Schien sich auch dieses tiefe, redliche Auge, dieser offene, seiner Vollkraft sichere Auftritt der gefahrvollen Natur seines Unternehmens nicht bewußt zu sein, dessen Ausführung er in solcher Haltung sich näherte – in seinem Herzen stand es doch mit klaren, unzweideutigen Zügen geschrieben: „Dein Leben hängt an einem Haar, und dieses Haar ist die Täuschung oder Schweigsamkeit der Bauern!“ Aber es kannte keine Furcht, dieses Herz, und wenig Eigenliebe in seiner gesunden, edlen Einfalt; es kannte nur Eines: Liebe zum Vaterlande, Haß und Empörung gegen die Henker der Glaubensfreiheit. – So wandelte er seine Straße, so trat er ein in die Behausung des Bauern Bornemann in Riebelsdorf, allwo der große Feldmarschall v. Breda zur Umschau und Ruhe abgestiegen war. Körperlich erleichtert – denn mit Vergnügen hatte man ihm schon auf der Hausflur den schweren, mit Wurst und Schinken etc. angefüllten Sack von der Schulter genommen – fiel es ihm centnerschwer auf’s Herz, als er die Hand auf die Klinke der Stubenthüre legte und aus dem Zimmer so manche bekannte Stimme von der Gesellschaft der tributzahlenden Bauern an sein Ohr schlug. Dann trat er ein – – der Lauf der Dinge wende sich zu Deinen Gunsten, hochherziger Muhly! Da saß, oder besser, lag die kolossale Figur des Breda auf der Bank hinter dem plumpen eichenen Tisch und prahlte den Bauern von seinen Thaten vor, und die Bauern waren so taub und blind vor lauter Verwunderung über die amüsante und gemüthliche Unterhaltung, der es indeß nicht an Drohungen gegen ihre eigene Haut gebrach – daß sie nicht bemerkten, wie sich ihre Sippe plötzlich um einen Zuhörer vergrößerte. Und um was für einen Zuhörer! Velten Muhly, der Metzger, der Allen bekannte Wachtmeister der Bürgerschützen, horchte aufmerksam zu, kein Wörtchen entging seinen Ohren; aber erst, als der halbtrunkene Breda mit schwerfälliger Hand die Worte auf den Tisch geschrieben: „Heute in Bornemann’s Haus, morgen in Weichhaus!“ [2] als der Gedanke: „Man hat Dich erkannt,“ mehrmals schauernd durch das Hirn des Braven gezuckt – erst nachdem er Alles über Stand und Plan der Breda’schen Heeresmacht vernommen, was ihm wichtig erschien, erst nach der Ewigkeit zweier gefahrvoller Stunden verließ er die Stube, um sich so rasch als möglich nach Ziegenhain zu begeben. Auf der Hausflur, erzählt die Sage, habe ihn Moses, der Viehhändler, erkannt und angehalten, er aber habe sich seiner, kühn und listig wie er war, zu entledigen gewußt, wonach der Jude den Breda von der jeweiligen Anwesenheit des Schützen von Ziegenhain in Kenntniß gesetzt und dieser demselben in Begleitung des Israeliten eine Patrouille nachgesandt habe, deren erfolglose Rückkehr für den Rücken des Letzteren aber sehr blau abgelaufen sei. Wie dem nun war, Muhly kam wohlbehalten im Rosen’schen Lager an, wo er den Gouverneur von der Frucht seiner Spionage in Kenntniß setzte und ihm das kühne Project zu wissen gab, welches, schon früher gefaßt, aber während der Prahlerei des Breda auf dem Tische des Bornemann in seiner männlichen Seele zum unerschütterlichen Entschlusse gereift war. Und dieses Project? Nichts Geringeres, als den kaiserlichen Feldmarschall im morgigen Kampfe aufzusuchen und ihm mit einer Kugel den Garaus zu machen, es koste, was es wolle! Da staunte der Gouverneur mit seinen Herren Unterbeamten und meinte, das könne im Falle des Mißlingens die Stadt und das ganze Hessenland in die drohendste, gefährlichste Lage bringen. Aber diesen Fall kannte eben der Meisterschütze von Ziegenhain nicht, und stolzen Selbstbewußtseins den Zaghaften den Rücken kehrend, rief er aus: „Lieber Alles gewagt, als unsere Vorstadt abbrennen und unsere Weiber den Wüthrichen preisgeben lassen!“

Der Morgen des 15. November brach an, und Rosen, der schon am Nachmittag des vorigen Tages eine von Oberst Müller und Generaladjutant Charloune commandirte, aus 750 Reitern bestehende Verstärkung erhalten, rückte mit seinem, dem des Breda immer noch lange nicht gewachsenen Heere dem übermüthigen Feinde entgegen. Hinter Niederprenzebach – eine halbe Stunde von der Breda’schen Hauptarmee – stößt er auf die feindliche Vorhut. Sie angreifen und über die Steine (Nebenflüßchen der Schwalm) zurücktreiben, ist ihm das Werk eines Augenblicks. Auf dem linken Flügel die kleine beherzte Schaar der Bürgerschützen, rückt er unaufhaltsam dem Feinde entgegen, bis er, aus dem Walde vor Riebelsdorf hervortretend, die stattlichen Schaaren des Breda in trefflichster Schlachtordnung vor sich sieht.

„Gott mit uns!“ ruft Reinhold von Rosen, und seine Soldaten,

  1. Eine rein silberne, mit dem landgräflichen und dem Wappen der Stadt und Grafschaft Ziegenhain, einem Laubkranz und mancherlei vergoldeten Figuren gezierte Platte von 8 Zoll Länge, 5 Zoll Breite und einem Gesammtgewicht von 1 Pfund 3 Loth – bei feierlichen Auszügen die Brust des besten Schützen schmückend.
  2. Die weniger geschützte Vorstadt von Ziegenhain
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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_478.jpg&oldid=- (Version vom 13.8.2020)