Seite:Die Gartenlaube (1862) 490.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Erinnerungen.

Von Franz Wallner.
Nr. 4. Aus der Czarenstadt.

„Gott ist hoch und der Czar ist weit,“ sagt ein altes russisches Sprüchwort, aber wenn der Czar auch noch so nahe ist, Eines kann selbst er nicht ändern: die Bestechlichkeit der Beamten, die in Rußland so zur Regel gehört, wie bei uns in Deutschland zu den Ausnahmen. Der Glaube an diese feststehende Norm fällt dem Ausländer schon an der Grenze in die Hand und begleitet ihn bis in die fernsten Provinzen des ungeheueren russischen Reiches. Als in Kronstadt das Tauwerk eines großen Schiffes gestohlen wurde, sagte der Kaiser: „Sie würden auch die Schiffe stehlen, wenn sie wüßten, wo sie selbe verbergen könnten.“ Einige Jahre später wurde wirklich ein ganzes der Krone gehöriges Schiff gestohlen – natürlich stückweise – es war während des Winters nach und nach verschwunden, und es mußte also doch noch ein verborgener Ort aufgefunden worden sein, um das kaiserliche Wort zur Wahrheit zu machen.

Ich hatte mir in Königsberg einen hübschen Reisewagen gekauft und fuhr mit Extrapost nach Riga. Ein kaiserlicher Extrapostpaß, wenn ich nicht irre, heißt dies Document Podroschne, giebt gegen Erlegung einer bestimmten Summe dem Reisenden das Recht, auf jeder Station gegen eine feste Taxe Extrapostpferde zu verlangen. Aber auch nur zu verlangen; denn ob er sie geben will, hängt ganz von dem Belieben des Postmeisters ab, dessen Pferde angeblich fast nie zu Hause sind, bis ein tüchtiges „na Wódku" (auf Schnaps) diese wie auf Windesflügeln heim bringt.

Na Wódku" ist der Zauberspruch, der in Rußland das Unmöglichste ermöglicht, „na Wódku" fordert Alles, was da lebt und athmet, von dem besternten Beamten bis zum bärtigen Muschik; und nach einer alten Legende soll Adam den lieben Gott für die Gefälligkeit, daß er sich erschaffen ließ, sofort ein „na Wódku" ersucht haben.

Obgleich meine Podroschne ausdrücklich auf zwei Pferde für meinen leichten Wagen lautete, so wurden mir ganz nach Willkür drei oder vier vorgespannt. Auf meine Weigerung, die Gebühren für eine so totale Prellerei zu bezahlen, ließ mir der Postmeister in Schaulen den Wagen ausspannen und gab mir ganz ruhig den Rath, „ihn selbst zu ziehen.“ Zwischen Schaulen und Mitau war der Weg gar nicht chauffirt – wenigstens vor acht Jahren noch nicht – und wie die Bewohner gewisser Küstenstriche um einen gesegneten Strand bitten, so beteten die Bauern dieser Strecke um recht viel Regen und Schmutz. Jeder Wagen blieb dann in dem achsenhohen Kothmeer stecken, und der Besitzer mußte mit den darauf Lauernden unterhandeln, wie hoch der Preis sei, um wieder flott zu werden. Dieser wurde voraus entrichtet, bereit gehaltene Hebebäume in Kraft gesetzt, schmutzige Hände griffen über den Rand des Wagens, er wurde heraus gehoben, um eine Viertelstunde später wieder stecken zu bleiben. Bis zur nächsten Stadt war auch die dauerhafteste Equipage so gründlich ruinirt, daß eine vollständige Reparatur nöthig war. Durch die weise Maßregel, den Weg grundlos zu erhalten, gewann Alles, die Kothstrandbauern, die Postmeister, die Schmiede etc. Das war die Hauptstraße nach St. Petersburg.

In Mitau angekommen, kam ein junger, hübscher Mann an meinen Wagen, stellte sich mir als den Sohn des Postmeisters vor und drückte mir seine außerordentliche Freude aus, meinen Namen in dem Paß gelesen und die Hoffnung zu haben, mich morgen, wie die Zeitung bereits annoncirt hatte, in Riga auftreten zu sehen. Froh, endlich einen gebildeten, civilisirten Menschen zu finden, bat ich ihn, die Pferde recht schnell vorlegen zu lassen, damit ich noch vor Einbruch der Nacht nach Riga käme.

„Ja, werther Herr, das wird wohl heute nicht mehr gehen. Ihr Paß muß hier vom Herrn Gouverneur visirt werden, die Kanzlei ist Nachmittags geschlossen, kein Beamter aufzutreiben. Sie werden wohl heute Nacht hier bleiben müssen.“

Als ich ihn versicherte, daß dies unmöglich sei, da ich am anderen Morgen um neun Uhr in Riga zur Probe erwartet würde, und daß ich im Nothfall den Herrn Gouverneur persönlich um sein Visa ersuchen würde, meinte er, das könnte mir nur eine Menge Weitläufigkeiten verursachen und doch nichts nützen. Er wolle das in Gottes Namen auf sich nehmen und mich mit seinen eigenen Pferden fahren lassen, dann brauchte ich keine Podroschne. Herzlich dankend nahm ich den freundlichen Antrag an; wer beschreibt aber mein Erstaunen, als mir der junge Kunstfreund für die Fahrt mit „seinen eigenen Pferden“ einen ganz enormen Preis abnahm, „da in einem solchen Falle die Taxe natürlich nicht in Anwendung käme“! Das war des Pudels Kern. Der Theaterenthusiast wollte aus mir wenigstens so viel herauspressen, um meine Gastrollen unentgeltlich sehen zu können.

Am Tage nach meiner Ankunft gab ich meine Empfehlungsschreiben ab, unter andern eines von dem braven Oberpostmeister Nerest in Tilsit an den Generalpostdirector von Kurland und Liefland. Bei Tafel frug mich Se. Excellenz, wie ich mit der Reise zufrieden gewesen, und ich gab nun, mit allerdings nicht schmeichelhaften Farben, aber mit deutscher Ehrlichkeit ein Bild meiner Fahrt zum Besten; vergaß auch nicht als Curiosum zu erzählen, daß ich auch zwei Pferde, die man mir auf einer Station hinten an den Wagen angehängt hatte, weil sie dem nächstfolgenden Postmeister gehörten und zurück mußten, hätte extrapostmäßig bezahlen müssen.

Ich schloß mein Genrebild mit den Worten: „von der Grenze bis hierher sind alle Postmeister eine wohlorganisierte Diebsbande.“ Eine Todtenstille folgte dieser leichtsinnigen Aeußerung, nach einer langen Pause sagten Se. Excellenz sehr gedehnt: „Ja, sie sind alle Spitzbuben.“

Ich hatte ganz das „na Wódku" vergessen, das die Spitzbuben wahrscheinlich an den Chef abgeben mußten, um ihre kleinen Scherze mit den Reisenden ungefährdet ausführen zu dürfen. Zur Tafel wurde ich aber von Sr. Excellenz nie mehr eingeladen.

In Petersburg muß sich jeder Fremde von einiger Distinction einige Tage nach seiner Ankunft persönlich in der „eigenen Kanzlei Sr. Majestät“ vorstellen. Je nach seinem Range wurde er dann entweder von dem Chef dieser eigenthümlichen Anstalt, dem Grafen Orloff selbst, oder von einem Adjutanten desselben, der aber auch Generalsrang hatte, in leutseligster Weise empfangen und nach allen Seiten hin – ausgeforscht. Nicht etwa plump und rücksichtslos, nein, die Krallen waren mit den elegantesten Glacêhandschuhen bedeckt. Wie es dem Fremden in Rußland gefiele? Ob er Ursache zu irgend einer Klage habe? die Regierung wünsche alle Mängel des Landes kennen zu lernen, um ihnen abzuhelfen etc. Kurz, in artigster Weise suchte man den Fremden zutraulich und zahm zu machen. Mit mir zugleich wurde ein junger Franzose dort empfangen, den man zur Erbauung der Moskauer Eisenbahn als Techniker verschrieben hatte. Nachdem ihm der Adjutant, ich glaube es war General Polosoff, ungemein viele Schmeicheleien über den ihm vorangehenden Ruf seiner großen Geschicklichkeit in den Bart geworfen hatte - im strengsten Sinn des Wortes in den Bart, denn der Künstler trug einen mächtigen und prachtvollen schwarzen Vollbart – warf er die Frage hin: „Werden Sie Ihren Bart behalten?“ „Freilich,“ antwortete der Franzose ganz erstaunt, „warum sollte ich ihn nicht behalten?“

„Der Kaiser liebt solche Bärte nicht,“ entgegnete mit starker Betonung der General.

„Nun,“ erwiderte mit komischem Phlegma der Fremde, „wenn der Kaiser solche Bärte nicht liebt, so braucht er sich ja keinen wachsen zu lassen, dazu kann ich ihn eben so wenig zwingen, als er mich, mir den meinen abzunehmen. Ich liebe solche Bärte.“

Ich habe den jungen Mann nicht wieder gesehen, zweifle aber daran, daß er in Rußland Carrière gemacht. – Der Kaiser Nikolaus, so streng er sonst im Allgemeinen auch war, nahm ein zu rechter Zeit gesprochenes freies Wort, einen guten Scherz, doch selten übel auf. So brachte er in Erfahrung, daß der Komiker Karaligin der Jüngere des Kaisers Sprechweise und sein Stimmorgan täuschend nachahme. Er ließ ihn im Zwischenacte einer Vorstellung zu sich in die Loge rufen und befahl ihm, seine Kunst zu zeigen.

„Ich höre, Du copirst mich so täuschend, ich will Das hören!“

„O Majestät, wie könnte ich das wagen?“

„Ohne Umstände, ich ersuche Dich, nöthigen Falls befehle ich es.“

„Was befehlen Ew. Majestät, daß ich sprechen soll?“

„Was Du willst, das Nächstbeste, was Du glaubst, daß ich sagen würde.“

Im Augenblick wendet sich Karaligin zu dem in der Loge befindlichen Hausminister, Fürst Wolkonsky, und spricht in genauer Nachahmung der kaiserlichen Manier: „Iwan Iwanovitsch, der Karaligin hat mir gestern sehr wohl gefallen, laß ihm morgen tausend Silberrubel auszahlen.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 490. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_490.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)