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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

In der Nußbaumallee von Interlaken.
Originalzeichnung von H. Jenny.


Europa’s, die Schweiz, in der alle erforderlichen Bedingungen sich vereinigen, zur Aufnahme der nach Erholung lechzenden Pensionäre des civilisirten Welttheiles. Als eine Republik von großer Toleranz vereinigt sie die feindlichsten Parteien in ihren Cantonen und gewährt ihnen sämmtlich durch die Reinheit ihres politischen Dunstkreises, durch die Abwesenheit aller ansteckenden Miasmen und die friedliche Bürgerlichkeit ihrer Wohnstätten auch Gelegenheit zu moralischer Erfrischung. Wir sehen daher nicht allein die gequälten Kasten der monarchischen Staaten, sondern auch hoch- und höchstgestellte Personen, Minister, Prinzen, ja selbst Könige, zeitweilig ihren Aufenthalt in der Schweiz, wenn auch eben nicht in den für gewöhnliche, nicht mit blauem Blute versehene Creaturen bestimmten Pensionen wählen und eine Reihe von Bädern in der Fluth der allgemeinen Gleichheit des herrlichen Landes nehmen.

Das verständige Volk der Schweizer ist sich der Wichtigkeit seiner Mission gar wohl bewußt. Die Natur hat ihm die schneeigen Berggipfel, die blauen Seen, die blühenden Matten und stäubenden Wasser in weisem Vorbedacht als ein nationalökonomisches Hülfsmittel gegeben, und es war von jeher eifrig bestrebt, nach der Vorschrift der Bibel mit seinem Pfunde zu wuchern.

Begeben wir uns sofort an den Hauptort des europäischen Pensionssystems, wo wir am leichtesten seine hauptsächlichen Grundzüge kennen lernen werden; versetzen wir uns auf dem Feenteppich des Zauberers aus Tausend und eine Nacht unmittelbar nach Interlaken, in das Paris der Pensionen.

Zwischen dem Thuner und Brienzer See, am linken Ufer der Aar, hat die Natur im Verlaufe vieler Jahrhunderte ein Stück Land trocken gelegt, wie es in ähnlicher Anmuth kaum noch einmal zwischen der Nordsee und dem Mittelmeere gefunden werden dürfte. Aus dem üppigen Wiesengrund, den riesige Nußbäume beschatten, blicken tiefdunkele Vorberge, grüne Alpen, kahle Felsgipfel und zuletzt die weißen Gipfel der Jungfrau, aus dem Hintergrunde des Brienzer See’s ragen die Sustenhörner empor, allerlei malerisches Steingezack begrenzt den Horizont gen Westen, nur die Nordseite wird durch eine hohe steile Felswand gegen alle rauhen und nachtheiligen Winde geschützt. Was Himmel und Erde Süßes und Liebliches uns zu schenken vermögen, findet sich an dieser Stätte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 509. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_509.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)