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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

beisammen, Wärme und Wohlgerüche, Klarheit und herrliche Farbenspiele in der Luft, Kühle und Reinheit der Luft. Der Ort gleicht einer stummen Einladung an den Menschen, sich hier niederzulassen, alle seine vergangenen Leiden zu vergessen und in Anschauung der herrlichen Natur sich auf sein ursprüngliches besseres Selbst zu besinnen. Diese Vereinigung der glücklichsten Umstände erklärt, weshalb die pensionsbedürftigen Creaturen sich von jeher gerade nach Interlaken hingezogen fühlten.

Wenn in den nordischen Landen in den Gärten der großen Städte die Gurke und an den Abhängen der Alpen die duftende Erdbeere heranreift, wenn das Parlament in London vertagt ist, und der arbeitsscheue Bundestag von seinen Auftraggebern aus Frankfurt a. M. in die Ferien entlassen wird, wenn bei den erschöpften Gerichten alle Processe nothgedrungen eine Unterbrechung erleiden müssen und nur das heilige Recht des Wechsels unverkümmert bleibt, wenn alle Diplomaten, Minister und Generäle gleich Fliegen und Mücken umherschwärmen, der fleißige Arbeiter aber die Früchte des Feldes im Schweiße seines Angesichts einzuheimsen beginnt: dann strömt das von den Anstrengungen der Wintersaison, von der Arbeit an den Actentischen, in den Studirstuben, am Wechseltisch, durch das Gerede von den Tribünen aufgeriebene Volk in Interlaken zusammen und sucht seine Kräfte in dem unvergleichlichen Thalgrunde zu erneuern. Die Mitglieder der verschiedenartigen Kasten und Rangclassen entledigen sich weislich ihrer Abzeichen, die Uniformen werden abgelegt, die Ordensbänder aus den Knopflöchern gelöst, die Reiterstiefeln mit Sporen von den Füßen gezogen, die martialischen Schnurrbärte, da sie nicht mehr unglücklichen Philistern, Portiers und Hausknechten in Hotels Schrecken einzuflößen brauchen, auf ein menschenähnliches Maß reducirt, Säbel und Galanteriedegen, Epauletten und Schärpen läßt man zu Hause; sämmtliche Pilgrime zu den Schweizer Pensionen suchen sich einen Anstrich von bürgerlicher Gleichheit, von bescheidener Anspruchslosigkeit zu geben und, wenn irgend möglich, das, was sie in der Wirklichkeit vorstellen, unter einer unscheinbaren oder gewinnenden Maske zu verbergen. Der Präsident des Criminalgerichts bedeckt sein buschiges, von graublonden Haarbüscheln umwölktes Haupt mit einem grauen oder braunen Schützenhütchen, um welches sich ein breites grünes Band schlingt; der bejahrte Banquier kleidet sich in eine leichtsinnig nach englischem Muster anfertigte Reisetracht, wie sie beurlaubte Officiere auf Reisen anzulegen lieben, Rock, Hose und Weste Grau in Grau oder Colorit dünner Milchchocolade; der vergilbte, fast schon der Bücherlaus verfallene Professor Ordinarius sucht für Geld und gute Worte eines Gemsbartes habhaft zu werden und befestigt ihn an seinem Calabreser; Obristlieutenants christlicher Staaten bekleiden sich mit rothen Garibaldihemden; Jedermann strebt nach einem poetischen, den Alpen entsprechenden Anhauch und sucht seinen alltäglichen bürgerlichen Beruf dahinter zu verbergen.

Der weise Schweizer leidet in dieser Hinsicht an keiner krankhaften Neugierde, seine Beamten lassen die Ankömmlinge ohne peinliche Beschnüffelung der Pässe und des Gepäcks über die Grenze, der Hausbesitzer fragt nicht nach Namen und Stand, sondern gestattet tolerant genug seinem Gaste, sich nach Belieben in die Fremdenliste zu schreiben; nur in einem Punkte soll der Tourist sich legitimieren können: im Achsenpunkte. Sein Geldbeutel muß mit dem nöthigen Vorrathe von Napoleonsd’or, Franken und Rappen versehen sein, von welcher letzteren, bekanntlich in Billon geprägten Scheidemünze, nach den jüngsten philologischen Untersuchungen, der neuerdings sehr in Aufnahme gekommene Ausdruck „berappen“ stammt. Die ganze Ebene zwischen den genannten beiden Seen ist mit „Phalansterien“ bedeckt, deren Anblick im ersten Augenblicke den großen Socialisten Fourier in Erstaunen versetzen müßte. Ob diese Anstalten nun Villen, Hotels, Pensionen oder Chalets genannt werden: sie sind sämmtlich von Angehörigen europäischer Staaten bewohnt, die sich der naturphilosophisch entworfenen schweizerischen Hausordnung gefügt und ihre persönlichen Angewohnheiten und Liebhabereien ganz an den Nagel gehängt haben. Nur zwischen den Pensionen selber bestehen hinsichtlich der Abstammung, der Sprache ihrer Insassen, der Preise und Hausgebräuche einige Unterschiede; einmal in eines dieser Institute einrangirt, hat sich Jeder seinen bestimmten Gesetzen zu fügen, oder das Haus zu verlassen und ein ihm zusagenderes Unterkommen zu wählen. Im Innern der Phalansterien oder Pensionen werden keine Unterschiede mehr gemacht. Nachdem die Koffer von dem Dache des Omnibus abgeladen und die nothwendigen Präliminarverhandlungen zwischen dem Besitzer des Hauses und seinem Pensionär beendet worden sind, scheidet Letzterer aus der bisherigen Welt. Die Aufhebung der irdischen Ungleichheit, wie sie sich in den sibirischen Bergwerken, in den Zuchthäusern und im Grabe von selbst einfindet, wird in den Pensionen in voller Absichtlichkeit auf die liebenswürdigste Weise vollzogen. Man läßt dem Gaste zwar seinen Namen, aber in dem Wirthschaftsbuche des Pensionsvorstehers ist er nur eine Nummer. Von Seinesgleichen unterscheidet er sich höchstens durch eine bessere Flasche Wein, durch eine Nachmittags genossene halbe Tasse Kaffee, durch etwas mehr Leibwäsche, durch zwei Lichte; größere Excesse in Ehrgeiz und Luxus kann ein Pensionär kaum begehen. Auch insofern gleicht er dem gezwungenen Bewohner eines Zellengefängnisses, dem von seinem Ueberverdienste höchstens die Anschaffung eines Härings erlaubt wird. Er hat keine Stellung mehr in der Gesellschaft; er steht nur noch auf der Liste seines Pensionsinhabers. Der Tag seiner Ankunft bestimmt allein über seinen Platz an der Mittagstafel. Und wenn er der Ministerpräsident des Königs von Dahomey, der Großadmiral der hannöverschen Flotte, ja wenn er ein Mitglied des preußischen Herrenhauses wäre: ist er erst am Donnerstag Morgen eingetroffen, so erhält er seine Stelle unterhalb des dritten Tenoristen von der Oper angewiesen, der sich schon seit Mittwoch Abend im Hause befindet. Der am längsten im Hause anwesende Pensionär behauptet stets den Vorsitz bei Tafel, und jeder Tag des Aufenthaltes hebt den Gast auf der Staffel empor. Bei einem solchen System kann selbst ein Junge von 18 Jahren sich zum Alterspräsidenten emporschwingen. Auch außer dem Hause herrscht vollkommene Gleichheit, wie aus der Zeichnung unseres Künstlers auf das Deutlichste hervorgeht. Die geschätzten Vierfüßler der Gegend werden ihres Nutzens wegen den Einwanderern nicht nachgestellt und dürfen sich gleichfalls der Promenade bedienen. Von jenen peinlichen Brunnenvorschriften in deutschen und französischen Bädern, die den Landmann und seine jüngeren Angehörigen, den Hund und die Tabakspfeife ausschließen, findet sich keine Spur. Die herrliche Nußbaumallee von Interlaken gehört Allen, dem italienischen Vetturin, der seine Rückfracht über die Alpen, und dem kleinen Schweizerbuben, der einen Käufer für den eingefangenen Hirschkäfer oder die große Ligusterraupe sucht, durch deren Anblick er den vorübergehenden Damen Krämpfe verursacht, dem abgezehrten Schwindsuchtscandidaten und dem fetten Consul aus Smyrna, der Pariser Lorette und dem armen Fischer vom Thuner See, dem kleindeutschen Prinzen und dem nicht amnestirten Flüchtling, der hier an jedem Morgen mit dem apanagirten Vetter seines gestrengen Landesherrn zusammentrifft und schwermüthige Betrachtungen über die Langmuth der Vorsehung anstellt.

Exclusive Festlichkeiten, bei denen Ehrgeiz und Großthuerei zum Vorschein kommen können, werden nicht veranstaltet, ebenso wenig sind gewisse moderne Vergnügungen erlaubt, die in den deutschen Gauen sogar noch zum guten Tone der Gesellschaft gehören. Die Prytanen in Bern haben sich in ihrer väterlichen Weisheit der beabsichtigten Anlage eines „Alpenbänkchens“ widersetzt, auf das sich einige strebsame Schüler des großen Fazy aus Genf schon gefreut hatten. Die ehrwürdigen Väter der Schweiz hielten es der moralischen und leiblichen Gesundheit ihrer Gäste für zuträglicher, dem Genuß der Ziegenmolken, als dem der Roulette und Trente et Quarante obzuliegen, und verscheuchten die Gauner aus dem friedlichen Thale. Gewiß ist es besser, wenn die Sparpfennige der Touristen von Europa in die Hände der Wirthe, Führer, Kutscher, Pferdeknechte, Träger und Sennen, als in die der Croupiers aus der Schule Blanc’s und Benazet’s übergehen. Geistig aufregende Beschäftigungen werden auch sonst kaum begünstigt. Hat sich der Pensionär nicht mit einem Büchervorrath schon von Hause her versehen, die Bibliothek von Interlaken vermag nur die mäßigsten Ansprüche zu befriedigen. Interlaken darf nicht zu einer Spielhölle, einem Cur- oder Badeorte gemacht werden; nach der Intention der Schweizer soll es nach wie vor die erste aller Sommerfrischen des Continents bleiben. Die eiserne Consequenz des Pensionssystems wird es trotz der zunehmenden Strömung der reichen und vornehmen Gesellschaft hoffentlich dauernd vor ihren Plagen bewahren.

Die Grenzen der Schweiz sind weit ausgedehnt, und aus allen vier Weltgegenden strömen in den warmen Sommermonaten die Flüchtlinge der monarchischen Staaten in die Pensionen der Republik.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 510. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_510.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)