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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Sie führen, Sir!“ sagte sie eilig und schritt ihm damit nach dem anstoßenden offenen Speisezimmer voran, von wo aus eine kurze Treppe nach der erleuchteten Vorhalle des Hauses hinauf führte. „Hierher, Sir!“ flüsterte die Führerin, als Beide die letzte Stufe leise erstiegen, und legte ihre Hand an das Schloß der nächsten Thür; kaum aber war er ihr gefolgt, als sie diese rasch öffnete und ihn mit einem lauten: „Mr. Zedwitz, Ma’am!“ in das Zimmer schob.

Jessy saß an dem von einer bronzenen Gaslampe erleuchteten Mitteltische, im Durchblättern einer Anzahl elegant gebundener Bücher begriffen, und blickte auf, als habe sie die Meldung nicht verstanden; kaum war aber ihr Auge auf den Dastehenden gefallen, als sie sich mit einem tiefen Erröthen erhob, in der nächsten Secunde aber, erschreckend bleich geworden, nach dem Tische griff, als wolle sie sich daran halten. „Mr. Zedwitz!“ sagte sie nach einer kurzen Weile, in welcher sie theilweise Meisterin ihrer Ueberraschung geworden zu sein schien, in welcher ihr aber auch Hugo, unvermögend ein Wort zu sprechen, gegenüber gestanden hatte.

„Ich habe Sie erschreckt, Ma’am,“ sagte der Letztere jetzt langsam herantretend; „ich konnte aber die Stadt nicht verlassen, wie ich es morgen thun werde, ohne Sie noch einmal gesehen zu haben – und vielleicht hätten Sie mir, der auf Ihre Zeilen nicht einmal geantwortet hat, weil er nicht daran glaubt, der nur Auge in Auge zu Ihnen reden wollte, ein letztes Wort nicht bewilligt!“ Den Eingetretenen hatte bei dem Anblick ihrer Züge, bei der Fassungslosigkeit, welche sie bei seinem Erkennen überkommen, eine Erregung ergriffen, die ihn jetzt Worte sprechen ließ, an die er vorher kaum gedacht. „Und nicht wahr, Sie weisen mich nicht weg, da ich Sie nach diesen letzten Worten doch niemals wieder sehen werde? – nicht wie damals, als Sie ein ähnliches Wort zu mir sprachen,“ unterbrach er sich mit einem Lächeln, das wie ein tiefes Weh in sein Gesicht trat; „ich werde selbst dafür sorgen, daß ich Ihren Weg nicht wieder kreuze!“

„Was haben Sie mir noch zu sagen, Mr. Zedwitz?“ fragte sie leise, während ihre bleichen Züge eine eigenthümliche Starrheit annahmen; „ich habe mich in voller Aufrichtigkeit gegen Sie ausgesprochen und hätte jetzt kein Wort hinzuzusetzen noch wegzunehmen.“

Er blickte ihr einige Secunden lang schweigend in die großen Augen, die jetzt in völlig ausdrucksloser Ruhe den seinigen begegneten. „Es mag so sein!“ sagte er dann, sich sammelnd; „und ich kam auch nur hierher, um Abschied zu nehmen und noch einmal Ihre Hand zu drücken. Da es doch aber ein Abschied für’s Leben ist, so möchte ich gern Ihr Bild in voller Klarheit und Sicherheit in meiner Seele mit mir nehmen – und nicht wahr, Sie möchten ebenfalls, daß, wenn ich auch an Sie nur zurück denken darf, wie an eine Todte, ich dies doch ohne trübende Zweifel thun könne?“

„Was ist es, Sir?“ fragte sie mit leise bebender Stimme.

„Sie haben zu mir von einer unabweisbaren Nothwendigkeit gesprochen, die Sie in Ihre jetzigen Verhältnisse geführt,“ fuhr er jetzt in völliger Fassung fort. „Es ist ja völlig richtig, was Sie mir früher angedeutet, daß ich kein Recht zum Fordern einer Erklärung habe; später aber sind Sie mir als Freundin entgegengetreten, welche, um der vollen Achtung des Freundes willen, sich ihm mit ganzer Offenheit gab – darf dieser Freund nun wohl nach dem, was ihm noch dunkel ist, fragen? Sie mögen nichts in Ihrem Handeln zu bereuen haben; dennoch weiß ich ja, daß bei allen Gaben, mit welchen der Himmel Sie überschüttet, Ihr Leben ein unglückliches und verfehltes geworden ist. Und soll ich nun mit diesen Widersprüchen gehen, die mich peinigen, die mir Ihr ganzes Wesen in ungelöste Zweifel hüllen und mir nie eine ungetrübte Rückerinnerung gestatten werden? – Aber ich will Sie nicht quälen,“ setzte er mit leisem, traurigem Kopfschütteln hinzu, als es jetzt wie der Ausdruck eines peinlichen Kampfes in ihre Augen stieg, „sagen Sie mir, daß ich gehen soll, und ich gehe auch ohne Antwort!“

Sie richtete langsam den gesenkten Kopf auf, ihr Blick ward ruhig und sicher, und ein Hauch von Röthe trat wieder in ihre Wangen. „Ich werde Ihnen sagen, was zu Ihrer Zufriedenheit so nothwendig scheint,“ sagte sie langsam, „vielleicht bin ich es Ihnen sogar schuldig, und es ist mit zwei Worten abgethan. Dann aber gehen Sie und – gedenken Sie meiner wie einer Todten!“

Sie schien einen Augenblick ihre Kraft zusammen zu nehmen. „Mein Vater gilt für reich,“ fuhr sie dann leiser fort, „er ist es nicht, und im letzten Jahre verbarg er nur mühsam durch Graham’s Unterstützung seine Verlegenheiten. Ich habe zwei Geschwister, und mit einem Bruche von Mr. Winter’s Geschäfte wäre ihre Zukunft sowie die meiner Eltern ruinirt gewesen. Da bot Graham dem Vater eine gegenseitige Verbindung an, die diesen nicht nur aller augenblicklichen Gefahr entreißen, sondern ihm auch mit der Zeit den frühern Wohlstand zurückgeben und die Zukunft meiner Familie sichern mußte; der Preis dieser Rettung aber war eine Verbindung Graham’s mit mir –“

Hugo schüttelte in einer ihn plötzlich überkommenden Erregung so heftig den Kopf, daß die Sprecherin mit großen, befremdeten Augen innehielt. „Das ist es, das ist der teuflische Streich!“ rief der junge Mann, wie in gänzlicher Selbstvergessenheit die Faust gegen die Stirn pressend. „O, Miß Jessy – Sie haben mir ja erlaubt, Sie so zu nennen,“ fuhr er in einer Art Ekstase fort, „lassen Sie uns einen Augenblick ruhig reden – ich weiß ja wohl, daß Alles zu spät ist, aber Sie müssen klar werden um Ihrer selbst willen!“ Er griff nach einem Stuhle und zog ihn nach dem Tische, während Jessy, ihn wie in einer plötzlichen beängstigenden Ahnung anblickend, mechanisch ihren früheren Sitz wieder einnahm.

„Um Mr. Winter vom finanziellen Ruin zu retten, sagen Sie, haben Sie sich geopfert?“ begann Hugo, sich niederlassend und mit Macht sein Aeußeres zur Ruhe zwingend, „und wer hat Ihnen von einer solchen Lage Ihres Vaters gesagt?“

„Mein Vater selbst, Sir!“ erwiderte sie, ihn groß anstarrend. „O, Henderson hatte Recht!“ rief Hugo kopfschüttelnd und, auf’s Neue von seiner Erregung übermannt, die Hand gegen die Augen drückend. „Ihr Vater, Miß Jessy, hat sich, seit es auf Sie hätte einen Einfluß üben können, noch nie in einer Geldverlegenheit befunden,“ fuhr er dann fort, „hat jedes Jahr mit vergrößertem Vermögen abgeschlossen, und seine bedeutenden festen Geldanlagen sind heute noch so wenig angegriffen, als sie es seit vielen Jahren waren, und wenn Mr. Winter heute für reich gilt, so ist er das auch in dem vollen Maße, als es nur angenommen werden mag!“

Ihr Gesicht nahm eine marmorne Blässe und Unbeweglichkeit an. „Aber was können Sie von Mr. Winter’s Verhältnissen wissen?“ sagte sie mit hörbarer Anstrengung, obgleich die Worte, alles Tones beraubt, kaum vernehmlich waren. „Er hatte mir sein Wort an Eidesstatt gegeben, daß nur in seiner Verbindung mit Graham noch ein Heil für ihn sei –“

„O, weil er völlig in den Schlingen dieses Menschen hing,“ unterbrach sie der Deutsche mit dem vollen Ausdrucke seiner innern Bewegung, „oder wohl auch nur, weil er vom Teufel der Gewinnsucht geblendet war, denn er mag sich nicht so leicht umgarnen lassen. Haben Sie denn gar nichts gehört von den letzten Geschäften der Beiden, die den Comptroller der Gerechtigkeit überliefern und Mr. Winter nur frei ausgehen lassen werden, wenn jener schweigt? – Und woher ich den Stand der Geschäftsverhältnisse kenne?“ fuhr er fort, „hat mich denn nicht Ihr Vater zu seinem Geschäftsrepräsentanten machen wollen, habe ich denn nicht seit drei Wochen die Bücher vor mir gehabt und zu meinem eigenen Studium die Jahresabschlüsse, so weit sie mir nur zugänglich waren, Posten für Posten durchgenommen?“

Sie sah ihn einige Secunden schweigend und starr, mit fast unnatürlich weit geöffneten Augen an, dann erhob sie sich langsam, that zwei Schritte, seitwärts, wankte und brach, ehe noch Hugo aufspringen konnte, neben einem der Divans in die Kniee, mit dem Kopfe in die Polster fallend. Als sich ihr aber der junge Mann in peinlichem Schrecken nähern wollte, streckte sie abwehrend den Arm nach ihm aus, und im nächsten Augenblicke brach ein erstickter Wehruf, wie aus brechendem Herzen, aus ihrem Munde. „Betrogen, betrogen! geopfert um des Dollars willen, geopfert von dem eigenen Vater!“

„Jessy, um Gotteswillen, fassen Sie sich!“ bat Hugo, „es ist ja noch lange nicht Alles für Sie verloren, und wer weiß, ob Sie nicht Ihre ganze Kraft für das, was noch kommen mag, nöthig haben werden!“

Sie schnellte empor und drückte die Hände gegen ihre Schläfe. „O, es kann nichts Gräßlicheres kommen,“ rief sie mit halbgebrochener Stimme und begann einen raschen Gang durch das Zimmer, „und ich hätte auch nimmermehr daran glauben können, wenn sich nicht schon mir selbst eine bestimmte Ahnung aufgedrängt hätte.

Mein Gott, o mein Gott, warum denn mir das?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 531. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_531.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)