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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Der junge Mann stand rathlos vor diesem Ausbruche eines Schmerzes, der sein Echo, wenn auch in anderer Weise, in seinem eigenen Herzen fand – da klopfte es an die Thür; aber erst als diese sich hastig geöffnet und das Gesicht der Mulattin sich mit einem drängenden: „Mr. Graham kommt, Ma’am, Henderson sagt, er müsse sogleich hier sein – Mr. Graham, Ma’am!“ hereingesteckt hatte, blieb die Angerufene stehen und schien sich der äußern Eindrücke wieder bewußt zu werden.

„Mr. Graham?“ wiederholte sie wie mechanisch; dann aber blitzte es in ihrem Auge plötzlich auf. „Er kommt recht, er kommt recht!“ rief sie wie in neu ausbrechender Erregung. „Treten Sie hier herein, Sir, bis ich Sie als Zeugen rufen werde!“ wandte sie sich an den Deutschen, während sie nach der Thür zu dem hintern Parlor schritt und diese öffnete. Als aber jetzt Hugo in voller Besorgniß um ihren Zustand die Hand gegen sie ausstreckte und, ohne seiner schmerzlichen Bewegung Zwang anzulegen, sagte: „Ich stehe Ihnen mit meinem Leben zu Gebote, Miß Jessy, aber Sie reiben sich in dieser Weise auf – gehen Sie erst mit sich selbst zu Rathe, was Sie thun wollen!“ – da faßte sie seine Hand mit einem fast krampfhaften Drucke, und in ihren bleichen, erregten Mienen zuckte es, als halte sie mit Macht einen hervordringenden Thränenstrom zurück. „Ich weiß, wie Sie es mit mir meinen – die Ihnen nichts mehr danken kann,“ sprach sie, „aber lassen Sie mich jetzt handeln, ich würde irrsinnig werden, wenn ich Alles in mich verschließen müßte.“

Von außen klang das Geräusch eines Schlüssels im Schlosse der Hausthür und schien wie elektrisch auf die junge Frau zu wirken. „Das ist er, gehen Sie – er soll Sie erst sehen, sobald es nöthig ist!“ rief sie halblaut, und Hugo, der Nothwendigkeit folgend, trat in den völlig dunkeln Raum, dessen nur halb verschlossener Eingang ihm jedoch den freien Blick über das vordere Zimmer gestattete.

Nach wenigen Secunden öffnete sich dort geräuschvoll die Thür, und Graham trat ein, blieb aber bei dem Erblicken Jessy’s, die, sich leicht auf den Tisch stützend, ihn erwartete, stehen. Der Deutsche bemerkte auf den ersten Blick, daß der Comptroller aus einer Trinkgesellschaft kommen müsse. Sein Gesicht war stark geröthet, während seine Augen einen eigenthümlich schläfrigen Ausdruck zeigten; der Hut, welchen er erst jetzt abgenommen, hatte zum großen Theile auf dem Hinterkopfe gesessen, und zu alle diesem stimmte völlig das Gelächter, welches der Eingetretene nach dem ersten Blicke auf die ihn Erwartende aufschlug.

„Guten Abend, dear, Jessy! Sind Sie versteinert über mein zeitiges Heimkommen?“ begann er; „aber nur nicht so ängstlich, Kind, es ist nichts Besonderes passirt, ich habe nur ein paar liebevolle Worte mit Ihnen reden wollen.“ Er lachte von Neuem. „Sie wissen doch, daß wir morgen, der ganzen Untersuchungslumperei zum Trotz, hier große Gesellschaft haben werden? Nun, Dear, der möchte ich zum ersten Male meine Frau vorstellen, das heißt meine wirkliche Frau, verstehen Sie mich, Jessy? ich sage: meine wirkliche Frau – verstehen Sie mich?“

„Nein, ich verstehe Sie nicht!“ klang Jessy’s Stimme in voller Sicherheit. Hugo hatte, wenn er den Comptroller im Auge behalten und selbst einigermaßen gedeckt sein wollte, die Aussicht nach ihr aufgeben müssen. „Ich sehe aber, daß Sie in einem Zustande sind, der Sie am wenigsten fähig macht, Damengesellschaft zu suchen!“

„Zustand – pshaw!“ erwiderte er wegwerfend, „Winter war in einem ganz andern Zustande und ist doch zu seiner Frau gegangen. Sie verstehen mich also nicht? nun, so lassen Sie uns wenigstens setzen, um uns zu verständigen!“ fuhr er phlegmatisch fort, den nächsten Stuhl im Bereiche seines Arms herbeiziehend, sich schwerfällig darauf niederlassend und dann die Füße weit von sich streckend. „Sie wollen stehen bleiben? auch gut! Sie haben Ihren freien Willen; aber es wird doch für Sie selbst gut sein, wenn Sie mir jetzt aufmerksam zuhören!“ Er bog den Oberkörper vor, ließ die halbstieren Augen über die ganze Gestalt der vor ihm Stehenden laufen und brach dann in ein neues Lachen aus. „Ich denke eben an den alten Spitzbuben, dem Sie eine so verdammt gute Tochter gewesen sind – entschuldigen Sie, Jessy, ich meinte Ihren Vater; er hat mir heute Abend erst richtig erzählt, wie ich dazu gekommen bin, Sie zur Frau zu erhalten – was Sie eben „Frau sein“ nennen! Das geht aber nun nicht länger so, und da Sie eine gute Tochter sind, so werden Sie sich fügen! Die Sache steht also folgendermaßen: Die Lumpen, die sich das Untersuchungscommittee nennen, sind mir wegen einiger Privatgeschäfte, die ich zusammen mit Ihrem Vater gemacht habe, auf den Fersen und sie möchten mich und ihn am liebsten aufhängen, wenn sie es könnten. Der alte Fuchs, das heißt Ihr Vater, Jessy, hat sich aber vorgesehen, und sie werden ihn aus dem Garne lassen müssen, wenn ich nicht rede. He, Kind, verstehen Sie das? es können immer ein zehn Jahre Staatsgefängniß dabei herauskommen, wenn ich mir nichts daraus mache. Und ich mache mir nichts daraus, wie ich überhaupt auf mein ganzes Leben, das Sie zu Grunde gerichtet haben, nichts mehr gebe. Niemals eine ordentliche Heimath, niemals eine Familie, vom Morgen bis zum Abend unter Fremden, damit man nur sein eigenes Hans nicht zu sehen braucht – was soll ich endlich mit einem solchen Leben? – Er ist in schwerer Sorge, Ihr Pa,“ fuhr er mit einem häßlichen Lächeln fort, „die Sache mag allerdings unangenehm in seiner Lage sein, und so habe ich ihm gesagt, daß, wenn sich nur mein Leben anders gestaltete, ich sowohl ihn frei halten, als für meine eigene Freiheit sorgen würde, müßte ich auch mit meiner Frau ein paar Jahre außer Landes gehen – und er hat mir gesagt, daß sein Haus für eine Tochter, die ihn in’s Unglück bringe, nie einen Schutz bieten werde, ich solle nur meine Rechte geltend machen. – Aber mir kann nichts helfen, was erzwungen ist,“ fuhr er fort, seine aufglühenden Augen auf die Dastehende geheftet, „entweder kann ich mir morgen sagen, daß ich eine wirkliche Frau und eine wirkliche Häuslichkeit habe, oder ich kümmere mich um das ganze Leben nicht mehr, und Sie mögen dann wenigstens als Vergeltung fühlen, was es heißt, wenn der Mann und der Vater im Staatsgefängnisse sitzen!“ Erblickte sie mit dem gleichen Ausdrucke zwei Secunden lang schweigend an, dann erhob er sich plötzlich und schritt mit halb wankendem Schritte ans sie zu. „Jessy, seien Sie vernünftig und machen Sie uns nicht Alle unglücklich – geben Sie mir einen Kuß!“

„Zurück, Sir!“ klang Jessy’s halb entsetzte Stimme, „oder ich rufe um Hülfe!“

Hugo stand, mit nervös bebenden Gliedern, zu irgend einer That fertig.

„Zu Hülfe? gegen einen liebevollen Mann im eigenen Hause?“ höhnte der Trunkene, „jetzt, Täubchen, ziere Dich nicht, die Zeit des Spaßens ist vorüber!“

Hugo sah ihn die Arme erheben, und im nächsten Moment war auch der Hausherr in der ganzen Breite des Zimmers zurückgeschleudert, während die stattliche Figur des Deutschen zwischen ihm und der Bedrohten hoch aufgerichtet stand.

Graham schien von dem plötzlichen Angriffe völlig seiner Gedanken beraubt zu sein; er blickte die unerwartete Erscheinung eine Zeitlang wie geistesabwesend an, bis ihm mit einem Male das Gefühl seines Hausrechts zu kommen schien. „Wer ist das? wer sind Sie? mit welchem Rechte sind Sie hier, Sir?“ fragte er, mit stierem Auge näher kommend, während sich langsam seine rechte Hand in die Brusttasche seines Rockes schob.

„Mit dem Rechte, das jeder Gentleman hat, wenn er eine Lady von Brutalitäten bedroht sieht!“ erwiderte Hugo fest. „Wünschen Sie indessen meine nähere Bekanntschaft, so stehe ich Ihnen jeden Augenblick zu Diensten! – Gehen Sie, Ma’am!“ wandte er sich mit einem kurzen Blicke nach Jessy, die noch immer, Entsetzen in ihren Zügen, an den Tisch gelehnt stand, „mit dem Herrn Comptroller werde ich selbst ein weiteres Wort reden!“

„Nein, gehen Sie!“ schrie Graham, in dessen Gesichte eine plötzliche Wuth aufloderte, und im gleichen Moment starrten dem Deutschen die sechs Mündungen des von Jenem hervorgerissenen Revolvers entgegen; Jessy ließ einen Angstschrei hören und machte eine Bewegung, als wolle sie sich vor ihren Beschützer stürzen; dieser aber hatte, noch ehe Graham sich eines Angriffs hatte versehen können, mit einem windschnellen Griffe das Handgelenk seines Gegners gepackt und hielt es mit eisernem Drucke fest.


(Fortsetzung folgt.)

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 532. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_532.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)