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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

morgen früh nicht allein, ich habe Niemand, Niemand weiter!“ Dann schritt sie, ohne Flora’s Unterstützung anzunehmen, aus dem Zimmer. –

Hugo hätte am liebsten schon an diesem Abende nicht mehr in Winter’s Geschäftshause geschlafen und wäre sofort ausquartiert; er fühlte einen unwiderstehlichen Widerwillen, noch den kleinsten Vortheil aus seiner bisherigen Stellung zu benutzen; Henderson wollte indessen für alle Fälle die Nacht in der Nähe der jungen Frau zubringen, und so mußte seine Abneigung seiner noch nicht beendeten Pflicht weichen.

Er ging mit dem Tischler, der sich ihm angeschlossen, aber nicht den Muth zu haben schien, des Freundes gedankenschweres Stillsein zu unterbrechen, nach Hause. Als sie einen der offenen Plätze, auf welchem der dunkle Horizont mit seinen hell flimmernden Sternen sich frei dem Auge bot, überschritten, blieb Hugo Plötzlich stehen und faßte mit einem Drucke des Schulgefährten Hand. „Heinrich,“ sagte er halblaut, in den nächtlichen Himmel hinaufblickend, „es ist etwas wunderbar Großes um die Wissenschaft für den Verstand, aber dem Herzen giebt sie doch nimmermehr Genüge. Heinrich, ich konnte heute Abend beten!“ – –

Es war lange nach Mitternacht, ehe der aufgeregte junge Mann diesmal den Schlaf finden konnte, und am andern Morgen erwachte er nach wirren, schweren Träumen von einem Pochen an seiner Thür, als bereits die Sonne hell in sein Fenster schien. Erschrocken sprang er auf, warf nur die nöthigste Bekleidung über sich und öffnete.

Henderson, mit sonderbar bleichem Gesichte, sah ihm entgegen. „Gott segne Ihren Schlaf,“ sagte dieser mit geheimnißvollem Tone, während er sich durch die Thür schob und diese wieder vorsichtig schloß; „kommen Sie denn wirklich erst jetzt aus den Federn und haben noch nichts von den neuen Vorgängen gehört?“

„Noch etwas?“ fragte der Deutsche, mit einer plötzlichen Spannung den seltsamen Ausdruck in des Alten Zügen studirend; „ich war vor Morgengrauen nicht eingeschlafen –“

Henderson nickte, während sich seine Augen eigenthümlich erweiterten. „Noch etwas!“ erwiderte er langsam, „er hat sich diese Nacht im Gefängnisse erhängt!“

„Graham?“ rief Hugo in einem jähen Schrecken, während es ihn doch dabei plötzlich wie ein Gefühl von Glück durchzuckte, dessen er sich im nächsten Momente vergebens zu schämen versuchte.

„Graham!“ wiederholte der Alte, „und es ist schon überall in der Stadt bekannt. Ich konnte Mr. Winter die Nachricht geben, gerade als er hier ankam!“

„Nun?“ fragte der junge Mann in einer neuen Spannung.

Henderson trat dicht an ihn heran. „Er sah mir wohl eine halbe Minute, wie von. Blitz getroffen, in’s Gesicht, nachher holte er tief Athem und sagte: „Gott sei Dank! Henderson, in die Klemme gerathen wir nicht wieder!“ und ich hätte auch beinahe Gott sei Dank! gesagt, so schlecht es mir auch zu Muthe war. Er fuhr gleich nach Graham’s Hause, und ich ging hinterdrein – aber Miß Jessy hat ihn nicht angenommen; es muß da noch etwas Anderes zwischen Vater und Tochter liegen, was ich nicht weiß und auch nicht wissen mag! Aber Ihnen wollte ich sagen, daß sie bereits nach Ihnen gefragt hat. Sie ist schon von Allem, was geschehen, unterrichtet und wird eine andere Unterstützung nöthig haben, als ihr der alte Henderson gewähren kann!“

Hugo machte in einer ihn überkommenden Erregung, die ihm fast den Athem nahm, einen raschen Gang durch das Zimmer. „Sie sind mir ein wirklicher, wahrhaftiger Freund gewesen,“ sagte er dann, wie von einem besondern Gedanken erfaßt, vor dem Alten stehen bleibend und dessen Hand fassend, „sagen Sie mir jetzt nur Eins, wenn es auch wohl die unpassendste Zeit ist, einen solchen Punkt zu berühren. Sie oder Flora wollen Mancherlei von meinem Namen gewußt haben, noch ehe ich hierher kam – wie ist das?“

„Ich sehe durchaus keinen Grund, warum es jetzt eine unpassende Zeit zu der Frage sein soll,“ erwiderte der Alte, während ein leichter Schatten über sein Gesicht ging; „ich denke, Niemand in unserm Kreise hat den Mann zu betrauern, der sich vor seinen Sünden und seiner Schande davon gemacht hat, anstatt die rechtschaffene Strafe auf sich zu nehmen!“ Er strich langsam mit der Hand über sein Gesicht. „Es gab eine kleine Karte mit dem Namen „Hugo Zedwitz“, Sir,“ fuhr er dann fort, „die oft die einzige Gesellschaft von Miß Jessy war, die sie vor sich hinlegen und darüber brüten konnte, als wandere sie mit ihren Gedanken in einem fremden Lande, wo der Name nicht ein bloßer Klang war. – Das ist Alles, Sir, ich denke aber,“ setzte er hinzu, während es einen kurzen Moment wie ein Schein seines gewöhnlichen Humors über seine Züge glitt, „wir haben den richtigen Sinn darin gefunden! Und jetzt eilen Sie, daß Sie in Ihre Kleider kommen!“ – –

Eine Viertelstunde darauf stand Hugo vor dem Hause des Comptrollers, und auf sein Klingeln blickte nach einer Weile das halbverstörte Gesicht der Mulattin aus der Thür, das sich indessen schnell aufklärte, als sie den Deutschen erkannte. Nur mit einem hastigen Winke ging sie ihm die Treppe hinauf voran und öffnete dort ohne jede Meldung die Thür zu dem Zimmer der jungen Frau, sie hinter ihm wieder schließend. Der erste Blick zeigte dem Eintretenden eine Menge rings umherliegender Garderobestücke und zwei offene Koffer; sein zweiter traf Jessy, die sich marmorbleich, aber mit ungeschwächtem Feuer in dem großen, dunkeln Auge von einem Sessel neben dein Tische erhob.

„Ich muß fort, Sir, fort aus diesem Hause, fort aus der Stadt!“ sagte sie hastig. „Verlassen Sie mich nicht,“ fuhr sie fort, die Hand nach ihm ausstreckend, „Sie haben mich gelehrt, in den schlimmsten Lagen auf Sie zu rechnen, und ich bin allein, ganz allein, wenn Sie von mir gehen. Ich will nach dem Osten, wo ich in einer bekannten Familie zu bleiben gedenke, bis hier alle Verhältnisse geordnet sind, an die ich jetzt nicht einmal zu denken vermag. Helfen Sie mir, ich kann den Mann, der sich meinen Vater nennt, nicht wieder sehen und darf am allerwenigsten diesem todten Körper, den sie vielleicht in’s Haus bringen werden, begegnen–“

Ein plötzlicher Schauer schien ihren Körper zu überlaufen, und Hugo drückte warm und beruhigend ihre Hand. „Ich verstehe völlig Ihre Lage, Miß Jessy, und Sie wissen, daß Sie Ihren treuesten Freund neben sich haben,“ erwiderte er, seine eigene Bewegung möglichst unterdrückend. „Werde ich aber nicht zu viel Recht beanspruchen, wenn ich jetzt völlig in Ihrem Namen handele?“

„Zu viel Recht?“ fragte sie, wie verwundert aufblickend. Plötzlich aber verdunkelten sich ihre Augen, wie unter aufsteigenden Thränen, sie hob die Arme und schlang sie im nächsten Momente um seinen Hals. „Da hast Du mich zum vollen Eigenthum, Mann, und nun thue mit mir und Allem, was mir gehört, nach Deinem Gefallen; ich habe ja keine andere Heimath mehr, als bei Dir!“ rief sie im ausbrechenden Weinen und schmiegte sich in seine Arme, als wolle sie Schutz suchen vor Allem, was bis dahin auf ihre Seele eingestürmt war. Bald aber, wie sich ihrer drängenden Lage bewußt werdend, schnellte sie wieder empor und griff mit einem Gesichte, das wunderbar unter ihren noch immer strömenden Thränen aufleuchtete, nach einem starkgefüllten Portefeuille auf dem eleganten Schreibtische. „Hier ist genügend für Alles, was im Augenblicke nothwendig werden wird,“ rief sie, ihm das Taschenbuch in die Hand pressend, „und nun sorge, daß ich bald an nichts mehr denken darf, als an Dich! – Noch das Eine aber,“ setzte sie unter dem sichtlichen Einflusse eines in ihr auflebenden Glücks hinzu, „Henderson mag aus dem Spiele bleiben, er hängt noch fest an dem Glauben an seinen Brodherrn, und ich will ihm nicht die Zuversicht seiner alten Tage rauben.“ Nur eine Secunde lang war dabei ein neuer Schatten über ihre marmorweißen, durchsichtigen Züge gegangen; dann hatte sie mit einem nervösen: „Und nun geh!“ hastig den Kopf des jungen Mannes zwischen ihre Hände genommen, einen Kuß auf seinen Mund gedrückt, und in der nächsten Minute sah sich Hugo aus dem Zimmer geschoben.

Auf der halben Höhe der Treppe stand die Mulattin wartend, und ihr gespannter Blick zwang Hugo, seine aus all ihren Angeln gerissenen Gedanken zusammen zu raffen. „Vorwärts, Flora, Ihre Mistreß braucht Sie,“ rief er, an ihr vorüber eilend, „in zwei Stunden reisen wir!“

Als er mit noch schwirrendem Kopfe in’s Freie trat, sah er den Tischler von der andern Seite der Straße auf sich zueilen, und erst jetzt meinte, er ganz zu empfinden, wie sein Herz zum Springen voll Jubel war. Mangold hatte bei der ersten Nachricht von Graham’s Tode es nicht mehr bei der Arbeit aushalten können und den Freund im Geschäftshause aufgesucht, wo eben Winter mit der Ordre abgefahren war, Jeden, der nach ihm frage, erst für den nächsten Tag wieder zu bestellen. Hugo aber hörte von den eifrigen Worten nur die Mittheilung über Winter’s Abwesenheit, die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_546.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)