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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

als eine gewisse Grobheit des Auswanderers ansehen, der ihnen dadurch sagt: es gefällt mir nicht mehr bei Euch, ich gehe in ein anderes Land. Sie vergessen dabei ganz, oder wissen es vielleicht nicht einmal, daß eine Masse wackerer Deutsche in fremden Welttheilen leben, die sich als nichts weniger als Auswanderer betrachten, sondern die weite Reise nur unternommen haben, um deutschen Handel da draußen zu fördern und später daheim im Vaterland die Früchte ihrer Arbeit zu verzehren.

Und was hat England denn so groß gemacht und ihm die prachtvollen Colonien gegeben? Was anders als seine Auswanderung und seine große Politik, jeden im Auslande lebenden Engländer noch als heimathsgehörig zu betrachten und zu schützen und nicht, wie unsere Regierungen, sich augenblicklich und ängstlich von ihm loszusagen und ihn der Willkür anderer Staaten zu überlassen.[1]

Das Alles zeigt deutlich, daß derartige von den heimischen Staaten selber unbesoldete und deshalb auf ihren eigenen Verdienst angewiesene Consuln die Rechte unserer Landsleute nie vertreten können und werden, sondern daß wirkliche Gesandte oder für die kleineren Staaten wenigstens Legationssecretaire, die eine vollkommen unabhängige Stellung einnehmen, dazu verwandt werden müssen – wenn das Ganze nicht eine bloße Farce bleiben soll.

Etwas Derartiges ist aber durch alle unsere einzelnen kleinen Staaten nicht denkbar, denn wirklich angenommen, daß wir das Geld für solche enorme Ausgaben hätten – was wir aber nicht haben – könnten wir uns nicht so bloßstellen, einige dreißig Gesandte für Deutschland nach einem fremden Staat zu schicken, während Frankreich und England nur einen einzigen haben.

Gesandte dürfen deshalb nur von dem ganzen deutschen Land und also – wenn es denn einmal nicht anders sein kann – vom deutschen Bund geschickt werden, und Deutschland muß dann auch entschlossen sein, irgend eine seinen Landeskindern angethane Unbill aufzunehmen und zu strafen. – Wenn das der deutsche Bund aber nicht kann, wenn er die Vertretung der Deutschen jedem einzelnen kleinen Staate überlassen muß, dann frage ich, im Namen jedes gesunden Menschenverstandes: wozu ist er dann überhaupt da? – und das haben noch viele Andere gefragt.

Es muß einmal ein Ende nehmen, daß jeder kleine deutsche Binnenstaat sich als Großmacht gerirt, und dabei nicht sieht oder nicht sehen will, daß darüber nicht einmal das ganze Deutschland eine Großmacht werden kann – wenn man dem Kind auch dann und wann den Namen giebt.

Für deutsche Schiffe deshalb die deutsche Flagge (in der sich, oben in der Ecke am Flaggenstock, jeder verschiedene Staat sein eigen Wappen oder seine Farben wahren kann) für deutsche Interessen aber eine einige Vertretung Deutschlands. Beides ist eine Nothwendigkeit, und gebe Gott, daß deutsche Regierungen sie endlich einsehen und danach handeln wollen.


Blätter und Blüthen.

Bunte Plaudereien aus London, Paris und vom Meeresstrande. Nr. 1. Weil uns auf dem Festlande ein Vergleichsmaß fehlt, wird jede Schilderung der Wunderwelt Londons ungenügend und dürftig ausfallen. Von dem Gewirre der zahllosen Wagen jeder Gattung, der Tausende von Fußgängern, die hier die unabsehbaren Wege hin- und wieder eilen, können sich nur Augenzeugen einen Begriff machen. Dies Wogen wird in dem Augenblick noch vermehrt durch die Hunderttausende von Fremden, welche die Ausstellung nach der Weltstadt zieht. Die erste auffallende, wohlthuende Erscheinung sind die Mitglieder des prachtvollen Institutes der Policemänner. In ihrer netten, kleidsamen Uniform streifen diese Hüter der öffentlichen Ordnung rastlos auf und nieder, gefällig und dienstfertig gegen Jedermann. Bald sieht man Einen einer alten Dame beim Aussteigen auf gefährdeten Wegen dienstfertig aus dem Wagen helfen, bald mit dem Anstande eines Gentleman höflich Auskunft ertheilen, stets artig, bescheiden und uneigennützig, denn ein etwa angebotenes Trinkgeld für kleine Dienste wird stets artig, aber entschieden abgelehnt. Statt des nutzlosen Säbels unserer Polizeihelden trägt er, nebst der starken Waffe des Gesetzes, einen aufgerollten Wachstuchmantel gegen Wind und Wetter, eine feste Blendlaterne, die ihm dient beim Aufsuchen gefährlicher und verdächtiger Schlupfwinkel, und ein paar starke Schnüre, um Widerspenstige, die gegen die bestehende Ordnung verstoßen, mit starkem Arm unschädlich zu machen. Eine durchdringende schrille Pfeife gilt als Noth- und Hülfssignal, und vervollständigt die praktische Ausstattung des Dieners der Gesetze. Nie wird sich ein Policemann unnütz machen oder sich in Dinge mischen, die ihn nichts angehen, und trotz ihrer energischen Strenge gegen alle Ungehörigkeit erfreuen sich die Mitglieder dieses segensreichen Institutes doch der größten Beliebtheit beim Publicum.

Sehr komisch ist die Art und Weise, auf welche die öffentliche Mildthätigkeit auf den Straßen Londons in Anspruch genommen wird, und in wie verschiedener Weise die Bettler dort ihr Brod verdienen. Eine Anzahl Jungen mit geschwärzten oder roth und grün bemalten Gesichtern, Händen und Füßen, in den abenteuerlichsten Lumpen herausgeputzt, laufen neben den Wagen einher, indem sie die Aufmerksamkeit der Fahrenden durch Radschlagen und andere, mitunter sehr possirliche und halsbrecherische Jongleurkunststückchen auf sich zu ziehen und ihrem Publicum einen Penny aus der Tasche zu locken suchen. Das viel bewunderte Geschlecht der englischen Clowns in den Kunstreiterbuden tritt hier im Embryo auf. Mit Stentorstimme brüllt ein ganz anständig gekleideter Mann ein französisches Lied oder eine italienische Arie herab, geduldig abwartend, ob ihm seine zweifelhafte Kunstfertigkeit aus der Hand eines mitleidigen Enthusiasten einige Groschen zuwirft. Dort, wo an der Straßenecke etwas mehr Raum zur Entwicklung ihres Repertoirs sich findet, hat sich eine Gesellschaft sogenannter Negersänger mit geschwärzten Gesichtern etablirt, ihre grellen Schwänke auf offener Straße zu produciren. Soldaten benutzen spazieren wandelnd die Zeit ihrer Muße, dürfen jedoch außer ihrer Dienstzeit nie Waffen tragen, so wie der Officier nichts Eiligeres zu thun hat, als nach Erfüllung seiner dienstlichen Pflichten sich sofort in die bequemen Civilkleider zu werfen.

Eine Menge Leute durchstreifen mit riesengroßen Theaterzetteln und andern Affichen behangen die Straßen, da Theaterannoncen größtentheils nur auf diese Weise verbreitet werden, während nicht wie bei uns die Zeitungen und Straßenecken das Publicum von den zu erwartenden Kunstgenüssen in Kenntniß setzen. Nachts tragen diese Burschen großen Theils ihre Ankündigungen in Cylinderform und Transparent-Beleuchtung auf dem Kopfe, was sehr possirlich aussieht. Ein neues Stück im Prinzeßtheater und die am Strande ausgestellte einbalsamirte Leiche der Pastrana, die Teufelskünste des Seiltänzers Blondin im Krystallpallaste und die Predigt eines beliebten Seelsorgers in einer Modekirche werden in gleicher Weise angekündigt.

Abends setzen die Theater in strahlendem Gaslicht durch riesengroße flammende Lettern das Publicum in Kenntniß, wie viel Hundert Aufführungen eine der beliebten Vorstellungen bereits erlebt habe. Nach wenig Stunden bringt Jedermann eine Masse Verkaufsankündigungen und fromme Tractätchen heim, die ihm in die Hände gedrückt worden. Mahnungen zur Gottesfurcht und Frömmigkeit und Einladungen zum Besuche sehr zweideutiger lebender Bilder erhält er auf demselben Wege nur wenig Schritte auseinander. Ein frommer Begeisterter predigt auf offener Straße und donnert gegen die Sündenlust der Welt, während an der nächsten Ecke von Haymarket in der wirklich frommen Hauptstadt von Old-England ein weiblicher Sclavenmarkt geduldet wird, wie ihn die schmutzige Phantasie eines ausschweifenden französischen Romanschriftstellers nicht widerlicher ersinnen könnte.

Es fällt Dir ein, daß Du etwas zu Hause vergessen hast; wenige Schritte lang, und eine der zahllosen Telegraphenstationen bringt die gewünschte Nachricht um einige Pfennige zu Dir in die weitentfernte Wohnung. Fast sinnverwirrend wirkt das wilde bunte Treiben auf uns ein, wir flüchten uns in eine Restauration, wo sich wieder des Ungewohnten viel findet. Der Engländer ist in Bezug auf seine Tafelfreuden und die Anforderungen an selbe überaus mäßig. Sich hermetisch von seinem Nachbar abschließend und durch Seitenwände von ihm getrennt, wie bei uns im Theater durch Logen, genügt ihm eine dünne, ungesalzene Suppe, ein Stück Fleisch, welches der schneeweiß gekleidete Koch auf einem Rädertischchen zu ihm hinrollt, und von einem mächtigen Rückenstück oder einer Keule absäbelt, so viel der Gast wünscht, und das er mit riesengroßen, in Wasser gekochten Erbsen genießt, so wie Käse und Butter, ersterer ebenfalls in großen Blöcken vorgesetzt und mit Senf genossen, vollständig zu einem ausreichenden Mittagsbrod. Als Getränk zieht der Londoner sein gutes Bier dem Weine vor, der meist nur stark mit Wasser gemischt getrunken wird. Der billige Seefisch, der Hummer, oder als Dessert die große westindische Ananas, welche das Stück mit fünf Silbergroschen bezahlt wird, gehören schon zu den lucullischen Ausschreitungen des englischen Feinschmeckers.

Nach kurzer Rast setzen wir unseren Spaziergang fort, oder wir besuchen einen der in massenhafter Zahl etablirten Vergnügungsorte für die Menge. Nicht die prachtvolle Alhambra oder Cremongarden, gegen welche


  1. Es giebt allerdings ein Mittel für deutsche zeitweilige Auswanderer, sich ihre Rechte als deutsche Unterthanen zu wahren, Wenn sie sich nämlich ihren Paß stets von daheim Verlängern lassen. Hier nur ein solches Beispiel, wie unbequem und lächerlich zugleich das ist: Ein deutscher Gastwirth in Valparaiso, ein preußischer Unterthan, hatte aus irgend einem Grunde das Verlangen, anerkannter preußischer Unterthan zu bleiben. Sein Paß war abgelaufen, und er schickt ihn zur Verlängerung nach Deutschland zurück. Dort wird ein solcher Paß nur auf zwei Jahre ausgestellt, auf dem Amt geht es aber auch nicht so rasch, die Reise ist ebenfalls lang, und als der auf zwei Jahre verlängerte Paß endlich wieder nach Chili zurückkommt, war er in wenigen Wochen zum zweiten Mal abgelaufen. Der arme Teufel von Wirth läuft jetzt zum preußischen Gesandten und bittet den, ihm zu helfen, denn er könne doch den Paß nicht umgebend zurückschicken, der auf diese Art ja nur immer unterwegs bliebe. Der preußische Gesandte zuckt aber die Achseln, und der Wirth mußte richtig wieder seinen aufs Neue abgelaufenen Paß an die heimische Behörde zurückgehen lassen.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 591. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_591.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)