Seite:Die Gartenlaube (1862) 602.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

der rein thierischen Existenz, auf der ich vor einer Viertelstunde den tobenden und trägen Knaben in der Spielclasse gesehen hatte, den der Director das „A“ sprechen lehrte. Es schien mir oft momentan unbegreiflich, das; der kleine „Baron Fritz“ vor drei Jahren noch Steine und Erde gegessen und sich unter thierischen Lauten auf der Erde gewälzt halte.

Es war zwölf Uhr. Der Schulunterricht war zu Ende. Die Kinder liefen sämmtlich nach dem hinter dem Hause befindlichen Garten. Wir traten noch für einige Minuten in die Werkstätten, welche zu ebener Erde in dem hübschen Schweizerhause lagen. Es war eine Korbmacher- und eine Tischlerwerkstätte. In jeder waren mehrere Knaben in dem Alter von vierzehn bis sechszehn Jahren unter der Aufsicht von zwei Meistern beschäftigt. In der Tischlerwerkstätte wurde die letzte Hand an eine recht gut gearbeitete Gartenbank gelegt, ein Gartentisch stand bereits fertig da. In der Korbmacherwerkstätte war ein äußerst zierlicher Kinderwagen fertig geworden. Kein Meister hätte sich seiner zu schämen brauchen. Mehrere von den hier arbeitenden Zöglingen sollten nächstens die Anstalt verlassen, um als Gesellen bei einem Meister einzutreten und sich selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Der Garten bot, als wir nach dem Hause zurückkehrten, einen sehr lebendigen Anblick. Alle Kinder spielten und tummelten sich in demselben umher. Einige der größern machten Uebungen an einem Klettergerüst und an einem Barren. Die Uebungen zeugten von Kraft und Geschicklichkeit der Glieder. Auf der kleinen Treppe, welche nach dem Rondeau hinaufführte, stand ein junger Mensch von einigen zwanzig Jahren, vor sich ein Notenpult, eine Violine in der Hand. Seine Gesichtszüge hatten einen unverkennbar thierischen Ausdruck; er gehörte zu den häßlichsten Zöglingen der Anstalt. Seine Stellung war gebückt. Neben ihm stand der Musiklehrer der Anstalt. Er spielte mit ziemlicher Fertigkeit nach dem Notenblatt einen Walzer, und ein Dutzend Kinder tanzten fröhlich vor ihm herum nach dem Takte der Musik. Selten griff er falsch, der Bogenstrich war ziemlich rein. Ich sah erstaunt das Schauspiel an. „O, er kann noch andere Sachen spielen, lassen Sie ihn Etwas aus einer Oper vortragen,“ rief der Director, und nun wurde dem armen Idioten ein anderes Notenblatt hingelegt, und er spielte mit nicht zu leugnender Fertigkeit einige leichtere Piècen ans dem Don Juan.

Eine Klingel ertönte. Es war der Ruf zum Mittagessen, und nach einigen Minuten saßen sämmtliche Zöglinge in den beiden Zimmern, wo ich sie erst hatte unterrichten sehen, an weiß gedeckten Tischen, um ihr Mittagsmahl einzunehmen. Die Frau des Directors, welche der ganzen ökonomischen und häuslichen Einrichtung der Anstalt mit ungemeiner Sorgfalt und Ausdauer vorsteht, und das hübsche junge Mädchen präsidirten bei Tisch. Alle Kinder saßen, die Servietten vorgesteckt, ruhig an ihren Plätzen, aßen allein und selbstständig und schienen ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihre Teller gerichtet zu haben, auf denen eine kräftig zubereitete Fleischbrühe umhergegeben wurde. Zwei Kinder sprachen an beiden Tischen nacheinander das Tischgebet, alle anderen falteten die Hände. Warm und hell blickte die Mittagssonne durch die hohen Fenster in den Saal. Wer hier eintrat, ohne zu wissen, wo er sich befand, konnte unmöglich auf den Gedanken kommen, daß fast alle diese armen Kinder noch vor kaum drei Jahren auf der tiefsten Stufe körperlicher und geistiger Entwickelung gestanden hatten.

Ich glaube meine Schilderung des Idiotenhauses nicht besser schließen zu können, als mit den Worten eines edlen Menschenfreundes, des Pastors Disselhof, Predigers an der Diakonissenanstalt zu Kaiserswerth am Rhein, in seinem Aufruf für arme Idioten. „Jedes Uebel,“ sagt er, „woran die Menschheit leidet, ist Gegenstand der Forschung geworden, und man hat Mittel und Wege gesunden, um es zu heilen und zu verbessern. Die Krankheiten des Auges, des Ohres, der Zunge, des Fußes haben ihre eigenen Heilmethoden; der Verstümmelte, der Kranke, der Wahnsinnige haben ihre Zufluchtsstätten; nur die unterste und schlimmste Classe – die Blödsinnigen – wurden bisher übersehen eben weil man nicht an die Möglichkeit dachte, etwas für sie zu thun. Doch dies Vorurtheil ist nun glücklich widerlegt, die Versuche der jüngsten Tage sind mit Erfolg gekrönt, um die Idioten der geistigen Verdumpfung zu entziehen, und es ist eine hohe Pflicht für jeden Menschenfreund, kräftige Hand an’s Werk zu legen.“ [1]

Möge auch meine Schilderung des Idiotenhauses bei Berlin in dem gelesensten Blatte der Erde, in der „Gartenlaube“, dazu beitragen, das Interesse für die unglücklichen Idioten rege zu machen und zu einem thatkräftigen Handeln anzufeuern!

G. R.




Ein Colporteur.

Skizze aus einem italienischen Tagebuche.
Von G. St.[2]

Es war in den letzten Tagen des März vorigen Jahres, da ich früh am Morgen in Mailand die Post besteigen wollte, die mich über Lodi nach Bologna führen sollte, als ich, in den großen Hof tretend, worin der Wagen zur Abfahrt bespannt wurde, zwei Knaben wahrnahm, die bei einem Manne in schlichter Kleidung standen. Er war reisefertig, von mehr kleiner als mittler Statur, etwas hager; von den Knaben mochte der eine fünfzehn, der andere dreizehn Jahre alt sein. Der Mann reichte, als ich eben herzukam, dem ältern die Hand; dieser machte eine Wendung mit dem Gesicht nach mir zu; ich sah eine Thräne über die Wange hinabrollen. Offenbar nahm ein Vater von seinen Kindern Abschied. Thränen erregen Mitgefühl, zumal die eines Kindes, wenn man selbst die seinigen daheim verlassen hat. Also trat ich der Gruppe näher und fragte den Vater, was die Knaben während seiner Abwesenheit in Mailand thun würden. Da langte der Mann aus einem gefüllten Koberchen, das er übergehängt an der Seite trug, ein kleines Buch hervor und reichte es mir mit den Worten: „Sie sollen solche Bücher in der Stadt verkaufen, wie ich nach Toscana und an die Grenzen des Kirchenstaats reise, um sie dort zu vertreiben.“ Ich warf einen Blick in das Büchlein; es war ein Neues Testament in italienischer Sprache mit französischer Uebersetzung daneben. „So sind Sie Protestant?“ sagte ich. „Nein,“ erwiderte er, „weder Protestant, noch Katholik, noch Calvinist, sondern Christ, ein biblischer Christ.“

Er verabschiedete sich dann von seinen Kindern und bestieg mit mir denselben Wagen, in dem sich noch ein junger Mann, wie ein Bauernbursch in kurzer Jacke, zu ihm hielt, von gutmüthigem, ehrlichem Gesichtsausdruck. Wir saßen zu sechs oder acht Personen in der Diligenza. Als ich nun einige Zeit mich still den Gedanken über jene Aeußerung und die Reisezwecke des Mannes mir gegenüber überließ, griff derselbe abermals in seinen Kober und reichte mir „zur Kürzung der Zeit und zur Belehrung“, wie er sagte, ein anderes Buch von mäßigem Umfange dar. Es trug den Titel: „La Confessione, saggio dommatico-storica di L. de Sanctis riveduto ed accresciuto dall' autore. Torino 1858“, d. i. „Die Beichte, ein dogmatisch-historischer Versuch von L. de Sanctis, durchgesehen und vermehrt vom Verfasser. Turin 1858.“ Der Verfasser, fügte mein Reisegefährte bei, sei ein gelehrter Geistlicher, der früher in Rom gelebt habe, dort aber seiner freisinnigen religiösen Ansichten halber verfolgt, in Turin ein Asyl gefunden und nun in reger schriftstellerischer Thätigkeit es sich zur Aufgabe gestellt habe,

Italien über die Mißbräuche der Kirche, die unerträgliche Gewaltherrschaft

  1. Wir werden nächstens schon einen mehr pädagogisch eingehenden Artikel über diesen Gegenstand aus der Feder des Herrn Doctor Herz bringen, der bekanntlich im Buschbade bei Meißen in Gemeinschaft mir seiner geistreichen, auch als Erziehungsschriftstellerin bekannten Gattin eine Anstalt für Blödsinnige leitet, die bereits mehrere Male in der Presse große Anerkennung fand.
    D. Red.
  2. Der Verfasser dieses Artikels ist ein ebenso verdienter als hochgeachteter Universitätslehrer, dessen gediegene Denkungsart ihn vor dem Verdachte sichert, als ob er gegen die katholische Kirche einen Angriff beabsichtige. Die angeführten Thatsachen sprechen deutlich genug dafür, daß er sowohl, wie de Sanctis, nur gegen die Auswüchse des italienischen Pfaffenthums ihre Lanzen einlegen. Wir erinnern an die letzten Wort des sterbenden Cavour: „Pater! Pater! Freie Kirche im freien Staat!“
    D. Red.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 602. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_602.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)