Seite:Die Gartenlaube (1862) 655.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

welch ungeheuerer Schaden dem Mädchen aus der hastigen, ungeregelten Lectüre erwächst, die seine Phantasie unnatürlich früh erregt und die Entwicklung des gesunden Verstandes in jedem Falle hemmt. Ganz gewiß läßt sich mindestens die Hälfte weiblicher Verschrobenheit und Verkehrtheit auf das vorzeitige Lesen von Romanen und sonstigen ungeeigneten Büchern zurückführen. Man hütet seine Kinder vor schlechter Gesellschaft, aber mit unbegreiflicher Gedankenlosigkeit läßt man sie oft Jahre lang unbewacht in der noch verderblicheren Gesellschaft von unpassenden Büchern, welche dem Papa und der Mama wohl nichts mehr schaden, aber die Reinheit einer jugendlichen, Seele auf immer untergraben können. Die meisten Mütter sind sich, wie in vielen andern Dingen auch, zwar oft dunkel bewußt, daß sie es verhüten sollten, aber einestheils sind sie zu schwach, den Bitten des Töchterchens um Mamachens Buch zu widerstehen, und sie trösten sich und besorgte Warner mit dem trefflichen Argument: „Ach, das Kind versteht es ja noch gar nicht, was es liest!“ Ausgezeichnet, wozu liest es dann die Dinge überhaupt? und wird es aus diese Weise nicht ganz gewiß bald verstehen lernen, was es noch gar nicht wissen sollte? Zweitens sind sie zu bequem, dem leselustigen Mädchen für eine passende Lectüre zu sorgen, und lassen es lieber unbesprochen hingehen, wenn sie, ohne lange zu fragen, die ungehörigen Bücher zur Hand nimmt. Drittens sind sie auch oft so gedankenlos und zerstreut, es gar nicht zu bemerken, wo ihr Buch des Tages über hinkommt und wer es mit ihnen liest.

Es brauchen dies nun noch keineswegs frivole oder unsittliche Bücher zu sein, kein Roman, vielleicht der einzige Walter Scott ausgenommen, taugt für das Aller von 12–16 Jahren. Die erste unausbleibliche Folge der Romanlectüre in diesem Alter ist vor allen Dingen diese, daß sie jedes ernstere geistige Streben, jede Anstrengung, die Nachdenken erfordert, dem Mädchen verleidet. Die Wenigsten wollen dann noch ernstlich lernen, wenn sie die Süßigkeit geschmeckt haben, mit unglücklich liebenden Heldinnen zu weinen und mit glücklichen Bräuten zu schwärmen. Dies mag uns Jedermann auf’s Wort glauben: aus allen Romanen, selbst wenn es die strengsittlichen und mit genug hausbackener Weisheit verbrämten Werke deutscher und schwedischer Schriftstellerinnen sind, oder das Product einer puritanischen englischen Feder, die Vierzehnjährige liest mit Interesse nur die Liebesverhältnisse und Liebesscenen heraus; alles Uebrige, sei es auch noch so moralisch und lehrreich, geht spurlos an ihrem unreifen, noch unempfänglichen Verständniß vorüber. Was nun die für die Jugend vielgepriesenen Geschichtsromane betrifft, so möchten wir hier an den Ausspruch von Michelet erinnern: „Meine Tochter wird, ehe sie vollständig erzogen ist, nie einen Geschichtsroman lesen, weil dadurch nur der Geschmack für wirkliche Geschichte verloren geht!“ Das ist ein wahres, tüchtiges Wort, und wenn wir oben Walter Scott ausnahmen, so geschah dies nur, weil Mädchen, die im zarten Alter W. Scott gerne lesen, es wohl auch ungestraft thun dürfen. Die modernen deutschen Geschichtsromane hingegen, welche gegenwärtig fast jedes Haus überfluthen, die sollten in den Händen von jungen Leuten nie gefunden werden. Wenn die Alten daraus eine verkehrte und entstellte Geschichtsbelehrung schöpfen wollen, so mögen sie sich diese unschuldige Unterhaltung gönnen, die Jugend aber sollte man um Gotteswillen davor behüten. Durch solche und ähnliche Werke wird das wahre Verständniß, der wahre Sinn für Geschichte mir erstickt, nicht gefördert und so das Mädchen schon in früher Jugend um ein geistiges Gut betrogen, aus dem sie in reiferen Jahren unendlichen Genuß schöpfen könnte.

Fast ebenso verhält es sich mit den classischen Producten unserer Literatur. Mit nur wenigen Ausnahmen gehören sie nicht in die Hand unreifer Kinder; auch hier lesen sie nicht das Schöne, nur das Unterhaltende und Leidenschaftliche heraus. „Wie sollen wir es aber machen,“ klagen manche Mütter, „die lesewüthigen Mädchen von den Büchern zurückzuhalten, die sich denn doch einmal in dem Hause befinden?“ Man thut gewiß am besten, wenn man in diesem Falle an den eignen Verstand und an das Ehrgefühl der jungen Mädchen appellirt. Wir haben eine vortreffliche Mutter gekannt, in deren kleiner Bibliothek sich nichts Geringeres als Schiller und Goethe befand. Sie sagte ihrer vierzehnjährigen, phantasievollen und von Lesewuth entbrannten Tochter nur das Eine: „Diese Bücher taugen noch nichts für Dich, mein Kind, ich wünsche, daß Du dieselben erst kennen lernst, wenn Du sie auch verstehst und wahren Genuß davon haben kannst. Ich schließe sie nicht weg, aber ich verlasse mich darauf, daß Du weder diese Bücher, noch ein anderes in die Hand nimmst, welches ich Dir nicht erlaube!“ Die Bücher blieben unberührter, als wenn sie hinter Schloß und Riegel gelegen hätten. Daß diese nämliche Frau sich zugleich bemühte, der Tochter für eine passende Lectüre zu sorgen, versteht sich von selbst, und zwar war dies zu einer Zeit, wo man mit guten populären Schriften, interessanten Reisebeschreibungen und faßlichen Geschichtswerken noch nicht so wohl versorgt war, als heutigen Tages.

Als ihr Kind das 18–19. Jahr erreicht hatte, da ließ sie derselben die Wahl ihrer Lectüre unbekümmert frei; sie konnte es ruhig thun, denn das Frivole war dieser nun von selbst zuwider, und ihr einfacher, gebildeter Geschmack verwarf das Unwahre und Unpassende aus eigner Machtvollkommenheit. Die Zahl der Mütter, welche so vernünftig handeln, ist leider nicht groß, vielleicht gelingt es diesem schlichten Wort, manche derselben auf die Gefahr aufmerksam zu machen, vor der sie mit ein wenig Achtsamkeit und Strenge ihr Kind so wohl behüten könnten. Die leichteste und angenehmste Art dies zu thun wäre es gewiß, wenn sie selbst recht viel mit den heranwachsenden Töchtern Bücher lesen wollte, die ihnen ersprießlich sind. Dieser Vorschlag erinnert uns zugleich an einen andern Mangel der weiblichen Bildung, der sich oft sehr störend geltend macht und um so auffallender hervortritt, je mehr eine junge Dame anscheinend wohl erzogen ist. Warum giebt es so wenig Frauen und Mädchen, welche angenehm, fließend und ausdrucksvoll vorlesen? Eine der angenehmsten Gaben für den Familien- oder Freundeskreis findet sich nur selten ausgebildet, während fast jedes junge Mädchen Clavier spielen oder singen kann. Es wäre doch viel natürlicher, daß man erst sprechen lernte, ehe man singt, abgesehen davon, daß für einen wirklich ausdrucksvollen Gesang dies die erste Vorbedingung ist. Dennoch giebt es unter einem Dutzend jüngerer und älterer Damen oft kaum Eine, die eine Seite ruhig, unbefangen und mit der richtigen Betonung herunterlesen kann, ohne entweder anzustoßen oder affectirt zu sein. Erröthend reicht man das Buch der Nachbarin, die es kaum besser macht. Uns däucht, gut, d. h. verständlich und ungenirt vorlesen zu können, sei bei einem gebildeten Menschen eben so unerläßlich als richtig zu sprechen. Die fehlende Uebung ist wohl in der Regel die Hauptursache dieses Mangels, nicht minder der Umstand, daß die jungen Leute eben darum zu selten gut vorlesen hören. Die Lesekränzchen, wo mit vertheilten Rollen gelesen wird, helfen dem Uebel nur wenig ab. Erst muß man fließend Prosa vorlesen können, ehe man sich an die gebundene Sprache wagt, und die Meisten lernen dort nicht mit Geschmack lesen, sondern nur declamiren. Ueber die Art dieser Declamation, über das falsche Pathos, das dabei gewöhnlich in Anwendung kommt, breite sich schweigend die Decke der Duldung. Wir wollen nur daran erinnern, daß für das Ganze durch diese Leseübungen wenig gewonnen wird. Die Hauptrollen fallen schließlich doch immer, und zwar mit dem größten Recht, an die zwei oder drei guten Leser, welche in der Regel den Kern dieser Vereinigungen bilden.

Eine weit zweckmäßigere Uebung für die jungen Mädchen würde es sein, wenn die Mutter sie an gemüthlichen Winterabenden im traulichen Wohnzimmer um sich versammelte und sie dann der Reihe nach ein gutes Buch laut vorlesen müßten und der Vater oder die Mutter ihnen auch einmal ihrerseits ein Gedicht oder eine Stelle aus einem Drama mit dem richtigen Ausdruck vortrügen. Da darf im Interesse der erwachsenen Mädchen auch schon einmal ein Roman mit unterlaufen; in solcher Weise gehört, von erklärenden Bemerkungen und Gesprächen begleitet, schadet er auch der Vierzehnjährigen nichts. So lange es aber die meisten Frauen vorziehen, ihre Abende in Thee- und Kaffeekränzchen zuzubringen, statt einen so reinen und beglückenden Genuß zu suchen, werden die Töchterchen in einer Ecke kauern und die ungestörte Ruhe dazu benutzen, mit fliegender Hast und fieberheißen Wangen die Romane zu verschlingen, deren sie habhaft werden können, werden aber stottern und stammeln und sich scheu zurückziehen, wenn sie drei zusammenhängende Zeilen laut vorlesen sollen. Gut zu lesen ist ein schönes, herrliches Talent und verdient gewiß nicht weniger Pflege als die Musik, verdient sie um so mehr, als sich bis zu einem gewissen Grade jeder Gebildete diesen Vorzug aneignen kann. Die größere geistige Empfänglichkeit, die Fülle und Biegsamkeit des Organs werden natürlich auch hierin, wie bei jedem andern Talent, die größere oder geringere Leistungsfähigkeit bestimmen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 655. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_655.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)