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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

„Hast also gar nicht geschossen?“ fragte Sepp, der ihn etwas befremdet betrachtete und einen Seitenblick auf Gewehr und Ranzen warf, die Melcher auf dem Boden des Wägelchens im Stroh verbarg.

„Nein,“ erwiderte Melcher, „bin nit dazu gekommen … aber morgen wollen wir miteinander hinaus; ich weiß einen prächtigen Platz, wo uns sicher ein Bock anläuft …“

„Du kannst es thun, Melcher,“ sagte der junge Bauer, „aber ich geh nicht mehr mit. Ich hab’ mir’s vorgenommen, ich geb’ das Wildern auf – wegen dem Bissel Wildpret ist nicht der Mühe werth, daß ich mich der Gefahr aussetz’ … es schickt sich auch nicht mehr recht, wenn man heirathen soll!“

„Hab’ ich mir’s nicht gedacht,“ rief Melcher mit widrigem Lachen, „daß Du auch ein Duckmäuser wirst, wie ein Weib über Dich kommt! Wegen dem Wildpret ist’s freilich nicht der Mühe werth – aber das lustige Leben im Wald und daß man’s den hochmüthigen Jägern abgewinnen kann, ist das nichts? – Aber so geht’s, wenn man sich mit den Weibsleuten einläßt! Ich will d’rum von Keiner was wissen … Deine Schwester wär’ die Einzige gewesen, für die ich vielleicht auch zum Kreuz gekrochen wär! Mit der ist’s aus – also soll der Stutzen mein Schatz sein und bleiben!“

Jetzt rollte der Wagen aus dem Walde auf die Feldflur des Stürzerhofs; wenige Schritte seitwärts stand die Eiche mit dem Schauerkreuz. „Schau nur,“ rief Sepp die Pferde anhaltend, „was giebt’s denn da drüben? Es ist schon dämmrig … aber siehst Du nicht, daß Leute hin und wieder laufen und jammern … Häng’ die Gäul’ an den Zaun, Melcher, ich will hin, da ist ein Unglück geschehn …“

Er war rasch vom Wagen gesprungen und eilte dem Kreuze zu. „Jesus Christus,“ rief er schon von Weitem, „Schwester, bist Du’s? Was ist denn passirt?“ Er erhielt keine Antwort, aber er mußte sich zusammen nehmen, nicht umzusinken, als er das ganze Bild des Schreckens überschaute. Einer Wahnsinnigen gleich lief Annemarie hin und wieder und schrie um eine Hülfe, die längst überflüssig geworden war, dann warf sie sich wieder über den blutigen Leichnam, zerraufte sich das Haar und heulte verwirrte Gebete zu dem schweigenden Kreuzbilde empor. Der blinde Knabe saß daneben und schrie seinen thränenlosen Schmerz, daß es einen Stein erbarmen mochte, hinaus in die taub und stumm herabsinkende Nacht. „Adrian,“ schrie sie verzweifelnd, „Adrian – wach’ auf! Es kann nicht sein, daß Du todt bist … höre mich … ich bin’s! – Das Ameile ist da! … Helft, helft, um Gotteswillen helft … er wird ja schon ganz starr … Adrian, wach’ auf. … Es ist ja nicht möglich, daß Du … Du, der kein Kind beleidigt hat, so schrecklich zu Grund gehn sollst …“

Erschöpft blieb sie endlich auf dem Todten liegen. Im Gehöfte war man indessen auf das Rufen aufmerksam geworden, und die Dienstboten eilten mit Fackeln und Laternen herbei. „Bringt die Schwester heim,“ befahl ihnen Sepp, „lauft zum Bader und zum Vorsteher hinüber … das Bübel nehmt auch mit auf den Hof; – der alte Ueberrheiner erfährt’s immer noch früh genug. Macht ein Feuer an … ich und der Melcher wollen den Todten hüten, bis die Gerichtsleute kommen. …“

Sie gingen; bald war es grabesstill um den Todten und seine Wächter; nur das Feuer knisterte und warf seinen rothen Schein über den blutigen Grund. Sepp saß auf der Fußbank des Betschemels, Melcher hatte sich unter das finstere Laubdach der Eiche zurückgezogen.

Es fing leicht und naß zu schneien an.

„Da hilft unser Herrgott auch wieder einem Spitzbuben durch,“ rief Melcher aus dem Dunkel herüber. „Bis morgen ist Alles verschneit und keine Spur zu finden, wer dem armen Rheinschnacken das Lebenslicht ausgeblasen hat …“

„Schweigend stand Sepp auf, trat zu dem Knecht und führte ihn am Arm aus dem Schattenkreise des Baumes an das Feuer neben den Todten, auf dessen Gesicht die Schatten und Lichter wie gespenstisches Leben zuckten. „Schau den Todten an,“ sagte er, „den hat kein anderer Mensch auf dem Gewissen, als Du!“

„Ich glaub’, Du schnappst über!“ rief Melcher, indem er heftig dessen Arm zurückschleuderte.

„Ich bleib’ dabei,“ fuhr der Andere fort. „Ich hab’s vorhin wohl bemerkt. Dein Gewehr ist frisch abgeschossen und brandig …

Warum hast Du mir’s geleugnet, wenn Du nichts zu verbergen hast?“

„Das ist ja wunderschön!“ rief Melcher wild. „Sei so gut und bring’ Deinen besten Freund in’s Gered’ wegen nichts und wider nichts! Ich hab’ nit geschossen, sag’ ich Dir … und wer dem Adrian Eins hinauf gebrannt hat, ist nit schwer zu errathen, … mein’ ich Der Forstner hat’s gethan … er hat ihn für den Unrechten gehalten; der Schuß ist Einem von uns Beiden vermeint gewesen!“

„Nein, nein, Du hast es gethan, Melcher … Du hast ihn weggeschafft, weil er Dir im Weg war bei meiner Schwester …

Tritt hin zu ihm, leg’ ihm die Hand auf die Wunden und sag’s, wenn Du kannst, daß sie nit von Dir sind!“

„Laß mich mit Deinen Faxen in Ruh’! Ist das wohl der Dank für die lange und treue Cameradschaft? Lauf’ hin auf’s Landgericht, Du Narr, und bring’ mich in’s Unglück … aber sei nur gewiß, daß ich unsre Stückeln auch erzähl’ … und wenn ich zum Weveld muß, geht der Stürzerbauernsohn mit mir!“

„Ich geh’ nicht zum Gericht,“ sagte Sepp nach einigem Schweigen und klemmte die Lippen übereinander … „ich weiß leider Gott, daß ich an Dich gebunden bin … es thät’ auch den armen Burschen nit wieder lebendig machen … aber Eins merk’ Dir, Melcher! – Wenn Du etwa noch an meine Schwester denkst und meinst, Du wolltest Dich wieder an sie machen … das schlag’ Dir aus dem Sinn … es ist mir leid genug, daß ich in der Gemeinschaft sein muß mit einem Wilddieb, aber einen Mordschützen will ich nit zum Schwager!“

„Will mir’s merken!“ rief Melcher höhnisch. „Und wenn’s mir etwa nit behagen thät, was der gestrenge Herr anschafft?“

„… Dann geh’ ich zum Landrichter und sag’ Alles, was ich weiß … und wenn’s mich meinen eigenen Kopf kosten sollt’!“

Die herbeieilenden Bewohner der Umgegend trennten Beide. Melcher ging auf den Hof und anscheinend ganz ruhig in seine Kammer im Pferdestall. In der Nacht aber stand er geräuschlos auf und kroch über den ihm wohlbekannten Heuboden bis unter’s Dach. Dort versteckte er die aus der Waidtasche genommene Jacke, die er getragen, unter den Sparren und Steinen. „Es ist doch gut gewesen,“ sagte er für sich, „daß ich nicht meinen eigenen Janker angezogen hab’ … der Blinde hat gehalten, als wie mit Klammern … ich spür’ seine Finger noch am Gelenk. … Da kann der alte Fetzen liegen, da sucht ihn Niemand … und wer kann wissen, wozu er noch zu brauchen ist? …“

– Der Frühling war herangekommen, als Annemarie sich von dem tödtlichen Fieber, in das sie vom ersten Schmerz verfallen war, völlig erholt hatte und das Bett wieder verließ. Sie war wieder gesund und kräftig; sogar die Blüthe ihrer Schönheit begann wieder sich zu entfalten, aber jeder Zug von Milde, jeder Schimmer des Frohsinns war auf immer von dem versteinerten Antlitz gewichen. Jetzt hatte die wilde Natur des Vaters in ihr gesiegt; finster und ohne Worte ging sie wie früher der Besorgung des Haushalts auch, denn wegen der ungewöhnlichen Ereignisse und wegen ihrer Krankheit war die Hochzeit des Bruders bis zum Frühjahr aufgeschoben worden. Noch stand daher die Breterabtheilung im Haus und Garten, denn sie sollte feierlich erst mit der feierlichen Gutsübernahme fallen, und wenn Adrian zurückgekommen wäre und hätte über die Planke geschaut, er hätte sein liebes, gutes, herziges Ameile nicht wieder erkannt! – Wenn sie jetzt durch den Garten ging, hatte sie keinen anderen Gedanken als Vergeltung, keinen anderen Wunsch, als Rache. So oft sie konnte, war sie daher bei Gericht, um sich nach dem Gang der Untersuchung zu erkundigen, aber dieselbe blieb ohne Erfolg. Der in der Hand des Blinden zurückgebliebene Sammtfetzen war das einzige Beweisstück; die Auffindung anderer Spuren hatte, wie Melcher gehofft, der gefallene tiefe Schnee verhindert. Umsonst wurde überall nach dem Kleidungsstücke gespürt, das zu dem Lappen paßte, und der Criminalrichter mußte bald seine vergebliche Thätigkeit einstellen. Annemarie wurde darüber von unsäglicher Verachtung über das Treiben weltlicher Gerechtigkeit erfüllt; das unschuldige Blut durfte nicht ungerächt bleiben, und sie hielt es nun für unantastbares Recht, für ihre heilige Pflicht, den Thäter zu ermitteln und selbst die Rache an ihm zu vollziehen. Oft saß sie stundenlang am Fenster neben dem Nelkenstock, der eben anfing, frische Blätter zu treiben, las in der Bibel, die sie aus Adrian’s Rücklaß erhalten hatte, und brütete über dem furchtbaren „Aug’ um Auge, Zahn um

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 658. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_658.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)