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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Es war einsam und stille auf dem Friedhofe; nur eine wanderbereite Schwalbe schwirrte manchmal aus den Schalllöchern des Thurms, oder eine Eidechse schlüpfte zu den Schädeln und Knochen durch das Gitter des Beinhauses, über welchem Christus am Oelberg mit den schlafenden Jüngern in lebensgroßer buntbemalter Steingruppe angebracht war. Unbeweglich wie diese Gestalten kniete eine steinalte Bauersfrau auf der Bank davor und ließ als einziges Lebenszeichen manchmal eine Perle ihres Rosenkranzes niedergleiten.

Die Alte war so in ihr Gebet versunken, daß sie es kaum gewahr wurde, als der eiserne Drücker der Freithofthüre sich öffnete und Annemarie, in tiefe Trauer gekleidet, eintrat. Todesbleich schritt sie an dem Grabe des Bruders vorüber und schlug die Augen zu Boden, um dessen Grabkreuz nicht zu erblicken; ihr Herz war mit dem Mörder Adrian’s noch nicht versöhnt, wenn auch ihrer Rache genug geschehen war. Als sie den Hügel des Geliebten erblickte, überkam sie ein krampfhaftes Zittern, sie vermochte kaum den frischen Kranz, den sie mitgebracht, unter der Holztafel aufzuhängen. Er war reich und voll aus den Purpurnelken gebunden, die im Fenster des Stürzerhofs brannten, und die Trauernde schien den ganzen Stock bis an die Wurzeln beschnitten zu haben. Zusammenbrechend sank sie in die Kniee, beugte sich über den Hügel und barg den glühend heißen Kopf in dem kühlenden Grase. Bei dem Zustande steter Abspannung und Ueberreizung, in welchem sie dahin lebte, war es nicht zu verwundern, daß ihre Seufzer nach und nach in Worte übergingen und sie mit dem Begrabenen ein leidenschaftliches Gespräch begann. „Du weißt, warum ich da bin,“ flüsterte sie, „Dir brauch’ ich nit erst zu sagen, was ich ausgestanden hab’ die ganze schrecklich lange Zeit, seit Du mich verlassen hast … Dein armselig’s Ameile soll Abschied von Dir nehmen … Aber ich thu’s nit, Adrian, ich thu’s nit! Ich bleib’ bei Dir mit Herz und Sinn … ach, warum lieg’ ich nit neben Dir da drunten … warum hast Du mir nit die Lieb’ gethan und hast mich nachgeholt? … Bet’ wenigstens droben für mich … Du bist ja längst ein reiner Engel im Himmel; bet für mich, daß ich aushalten kann, was noch kommt … daß ich wenigstens wieder weinen kann … ich muß sonst verbrennen von inwendig heraus! Erbitt’ mir’s bei den heiligen Engeln, bei denen Du bist, daß ich bald erlöst und ausgespannt werd’ … und zu Dir komm!“

Lange mattete und rang sie sich ab in vergeblicher Qual; ohne Trost war sie gekommen, ohne Trost ging sie wieder – ihr Inneres war wie ein gluthversengtes Land, in dem kein belebendes Grün zu wurzeln und zu keimen vermag. Verwundert hatte die Alte am Oelberg ihrem Treiben zugesehen und sah ihr kopfschüttelnd nach. „Das ist ein g’spaßiges Leut, die Stürzerbauern-Mirl … sie sieht völlig darein, wie geschreckt!“

Wenige Tage später ging es desto lauter und lebhafter auf dem stillen Kirchhofe zu. Ein Hochzeitszug schritt aus dem Kirchenportale; die Musikanten bliesen und trompeteten, die Böller krachten, und der weißgraue Pulverdampf wölbte sich in den glänzend blauen Septembertag empor, als wetteiferten sie, das Freudenfest zu verkünden, das da begangen werden sollte.

Der alte Stürzer kam auch hinter den Musikanten und dem Hochzeitlader mit einem Antlitz dahergeschritten, das von Freude strahlte, so weit ein solcher Ausdruck in den strengen Zügen sich auszuprägen vermochte. Mit der freudigen Miene stand aber die Haltung des Körpers in Widerspruch, denn der hohe Mann hatte Mühe sich aufrecht zu halten, und es war keineswegs zum Schein, daß er der neben ihm schreitenden Ehrenmutter den Arm gegeben hatte, denn er bedurfte Führer und Stütze, wenn das Herzdrücken kam und ihm die Kniee zittern machte. Das Siechthum war nicht wieder von ihm gewichen, und der Tod des einzigen Sohnes hatte die letzte Kraft des Widerstandes gegen dasselbe gebrochen. Er war nahe daran gewesen, der Gewalt dieses Stoßes zu erliegen, aber die Zähigkeit seiner Eigensucht überdauerte ihn: war auch die Hoffnung verloren, den vereinigten Stürzerhof in seinem Hause und mit seinem Namen zu vererben, so blieb ihm doch noch die Aussicht, Annemarie auf das Gut zu verheirathen … der Stürzerhof war doch wieder ganz, und das Gut selbst, der ganze Hof war es ja, was ihm von jeher am Herzen gelegen, mehr als die eigenen Kinder.

Nach ihm kamen die Brautführer, die Beiständer und Kränzeljungfern, dann das Brautpaar und dahinter der nicht enden wollende Zug der Gäste. Der Bräutigam bot einen stattlichen Anblick dar; trotz des unkleidsamen langen Rocks trat das kräftige Ebenmaß seines Körpers hervor, und wer ihn so durch die Reihen der neugierigen Dorfbewohner fest und mit lächelndem Angesicht dahin schreiten sah, ahnte nicht, welche Schauer ihm das Herz zusammenschraubten, als er zwischen den Gräbern derer dahin ging, die er kaltblütig geopfert hatte, um die Hand fassen zu können, die nun am Altare in seine blutbefleckte gelegt worden war.

Die Braut gab sich nicht die Mühe, anders auszusehen, als es ihr um’s Herz war; sie war schön, aber die Schönheit hatte etwas Unheimliches, und der fahlgrüne bräutliche Rosmarin-Zweig in dem dunklen Haare stand zu dem bleichen Gesicht, wie ein Todtenkränzchen; sie durfte nur die Augen schließen, um einer Gestorbenen zu gleichen.

Unter Musik, Schießen, Jauchzen und Hüteschwenken bewegte sich der Zug dem Wirthshause zu, an dessen Thüre eine grüne Ehrenpforte aus Tannenzweigen, mit bunten Streifen umwickelt, emporstieg, während oberhalb ein riesiges „Vivat“ angebracht war, aus aneinandergereihten purpurrothen Vogelbeeren geformt. Dort hatte sich die ganze Einwohnerschaft des Dorfs versammelt, die nicht zu den Gästen gehörte; auch die alte Beterin vom Oelberge war darunter. „Gott soll mich behüten,“ flüsterte sie einer Nachbarin zu, „daß ich einem Christenmenschen was Uebles wünsche. … aber das ist eine traurige Hochzeit! Da wird nit viel Gutes herauskommen … schaut nur die Braut an, ob sie nicht wie tiefsinnig ist!“

„Sie ist halt ernsthaft,“ erwiderte die Nachbarin, „das bedeutet einen guten Ehstand. Heißt es nicht: „Eine traurige Braut, eine lustige Frau“?“

„Sagt das nicht, Nachbarin,“ murmelte die Alte wieder, „Ihr werdet auf meine Worte kommen! Ich versteh’ mich auf solche Sachen! Ich bin bei der Copulation nahe am Altar gestanden und hab’ es gut geseh’n, wie die Kerzen so unruhig gebrannt und hin und wieder geflackert haben, und hat sich doch kein Lüftchen geregt in der Kirche … Glaubt mir, das bedeutet Unfrieden in der Ehe!“

Das Mahl im Wirthshause hatte indeß bereits begonnen und nahm den gewohnten Verlauf mit den Tänzen zwischen den einzelnen Richten (Gerichten) bis zum unerläßlichen Ehrenkraut, zum Abdanken und Weisat; allein so reichlich die Geschenke der Gäste ausfielen, so sehr der Hochzeitlader sich anstrengte und die besten seiner Sprüche auskramte, wie sie sich für eine so „große Hochzeit“ gebührten, es gelang ihm nicht, Annemarie’s herbgeschlossenem Munde ein schwaches Lächeln abzugewinnen. Desto lauter lärmte und lachte der alte Stürzerbauer, und sprach dem Bierkruge wie den Weinflaschen so weidlich zu, daß er wie der munterste Bauernbursche zu singen anfing. „Hui!“ schrie er, und schlug auf den Tisch, daß die Gläser tanzten und klirrten, „ich werd’ völlig wieder jung! Der ganze Hof macht mich wieder zu einem ganzen Mann – ich könnt’ mich selber nochmal copuliren lassen! Und auch das Herzdrücken ist weg, als wenn’s nie dagewesen wäre!“

Er hielt Annemarie sein Glas hin, um anzustoßen, aber sie weigerte sich, in dem rothen Weine Bescheid zu thun, der sie wie Blut gemahnte; sie schützte Unwohlsein vor und trank nur Wasser. „Aber mir wirst doch Bescheid thun?“ fragte sie Melcher, der, um sich zu beruhigen und zu betäuben, ebenfalls den Wein nicht schonte. „Jetzt sind wir Mann und Frau – jetzt wirst doch einmal anfangen und wirst mir ein freundliches Gesicht machen? … Oder muß ich einen andern Namen nennen, daß Du’s kannst? Muß ich Ameile zu Dir sagen?“

Er hatte die Worte in seiner Weinlaune noch kaum ausgesprochen, als ihn aus Annemarie’s Augen ein Blick traf, der ihm wie ein Blitz in die Seele fuhr. „Nenn’ mir den Namen nicht wieder!“ stammelte sie mit mühsam unterdrückter Stimme. „Ich hab’ Dir versprochen, Dein Weib zu werden … Das hab’ ich gehalten … jetzt sind wir Zwei fertig miteinander! Nenn’ mir den Namen nit wieder … ich kann ihn nit hören aus einem solchen Mund!“

Sie stieß den Stuhl zurück, gab gesteigertes Uebelbefinden vor und eilte aus dem Saale.



(Schluß folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 660. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_660.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)