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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

nur bis Hundert fließend zu zählen vermochte. Die aristokratischen Wüstlinge des Westend, die wie ihr vor die Irrencommission gestellter Genosse die Atmosphäre des Haymarket zu athmen und sich im Schmutze jener ekelhaften Prostitution zu wälzen pflegten, fürchteten für die Sicherheit ihrer congenialen Passionen und schlugen Alarm. Kurz, die öffentliche Meinung verlangte so stürmisch und drohend die Freisprechung des jungen Mannes, daß Jury und Irrengericht sich diesem Verlangen nicht zu entziehen vermochten. Die Petition wurde zurückgewiesen, und W. Windham hatte für die Genugthuung, daß er sich als geistesgesund betrachten konnte, etwa 50,000 Pfd. Sterl. zu zahlen, die übrigen 20,000 Pfd. Sterl. der Gerichtskosten wurden seinen petitionirenden Oheimen auferlegt oder vielmehr von diesen, um der öffentlichen Entrüstung ein Sühnungsopfer zu bringen, freiwillig übernommen.

Somit war die Sache eigentlich abgemacht. Publicum und Jury waren darüber einverstanden, daß Mr. Windham nicht verrückter sei, als ein so reicher Mann das Recht dazu habe, und weder durch ein Nervenfieber, noch durch einen Fall vom Pferde seinen Verstand verloren haben konnte, schon aus dem einfachen Grunde, weil er keinen zu verlieren hatte. Wenn er nach Aussage der medicinischen Belastungszeugen mehr, als mit gesunder Vernunft verträglich, zum Maulaufsperren geneigt war, so konnte ihm John Bull kein Verbrechen daraus machen, denn er stand selbst mit weit aufgesperrtem Munde und starrte in den bodenlosen Abgrund der Entsittlichung, dessen Dasein er bisher wohl geahnt hatte, der aber noch nie mit so schamloser Rücksichtslosigkeit vor seinen erstaunten Augen enthüllt worden war. Die Vertheidigung hatte sich darauf beschränkt, den befriedigenden Beweis zu liefern, daß die Laster des angeschuldigten Mannes Gemeingut der vornehmen Jugend seien und nicht sowohl für eine Abirrung des Verstandes, als für standesgemäßes Betragen sprächen. Die verpesteten Kneipen des Haymarket, die Tempel einer Prostitution, von der keine Stadt der Welt auch nur ein annäherndes Beispiel auszuweisen hat, waren die fashionablen Aufenthaltsorte der fashionablen Jugend. Wenn Mr. Windham der Held des Gesindels von Dieben und Prostituirten war, das von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang jenes verpestete Stadtviertel bevölkert, so war er nur erfolgreicher in seinen Bemühungen gewesen, als seine rivalisirenden Alters- und Standesgenossen; wenn er eine der gemeinsten Straßennymphen geheirathet hatte, so wurde nachgewiesen, daß solche Heirathen mit all den schmutzigen Details, die diesen Fall bezeichneten, keineswegs ungewöhnlich, sondern vielmehr fashionable und comme il faut, seien.

Die sittliche Entrüstung hinderte das Publicum jedoch nicht, das zärtlichste Interesse an dem Thun und Lassen seines Helden zu nehmen. Anstatt den Vorhang über einen Scandal fallen zu lassen, der Alle beschmutzen mußte, die mit ihm in Berührung kamen, anstatt den Hauptdarstellern in diesem ekelhaften Drama zu gestatten, sich in das Dunkel schweigender Verachtung zurückzuziehen, folgten die Berichterstatter der englischen Presse ihrer populären Berühmtheit auf Schritt und Tritt. Das Publicum erfuhr, wie Mr. Windham am Tage seiner Freisprechung 300 Pfd. Sterl. verausgabt hatte, um das ganze Gesindel des Haymarket zu bewirthen, wie bei diesem mitternächtlichen Feste begeisterte Toaste auf den Helden der Prostitution ausgebracht wurden, mit welcher Liberalität Mr. Windham den Wirth und mit welcher Grazie Mistreß Windham die Wirthin gemacht hatte. So oft Letztere, einem neuen Abenteuer zu Liebe, wie dies schon wenige Tage nach der Hochzeit der Fall gewesen zu sein scheint, ihrem Gatten durchgegangen war, wurde das Publicum pflichtschuldigst davon benachrichtigt und die Erscheinung der jungen Frau, die Scene ihrer neuen Triumphe mit der graphischen Umständlichkeit geschildert, die dem englischen Penny-a-liner eigenthümlich ist.

Officiell vor die Oeffentlichkeit trat der unsterbliche Windham abermals in der jüngstvergangenen Zeit und diesmal in einem neuen Costüme, nicht als Held der Straße, als tragisches Opfer einer großen aristokratischen Familienconspiration, sondern als liebender Gatte im Vollgenusse des häuslichen Glückes, dem er bereits den größten Theil seines Vermögens geopfert zu haben scheint. Er ist nicht mehr der reiche Windham, obgleich er noch immer neben seinem prachtvollen Landsitz eine Stadtresidenz und so viel gepuderte Livreebediente, Pferde, Equipagen, Jagdhunde und „Freunde“ aufrecht erhält, als sein geschwächter Credit und die etwas erschütterten Reize seiner liebenden Gattin ihm zu halten gestatten. Aber er ist immer noch der berühmte Windham, und als solcher gab er vor einigen Wochen dem Publicum eine Scene seines glücklichen Familienlebens zum Besten. Mistreß Windham stand vor dem Polizeigerichtshofe von Hammersmith als Klägerin gegen ihren Gatten, „weil derselbe gedroht hatte, ihr den Hals abzuschneiden“. Das Gemälde seines häuslichen Glückes, das zur Begründung dieser Anklage vor dem ehrenwerthen Polizeirichter entrollt wurde, bietet mehrere sehr anziehende Punkte dar. Auf den Wunsch seiner Gattin hatte der verbindliche Gemahl zwei ihm fremde „Gentlemen“ eingeladen, ihn mit ihrem Besuche in seiner Stadtresidenz, Nr. 7, Westbourne Terrace, zu beehren. Die jungen Gentlemen, von denen der eine als ein Student der Rechtspflege und der andere als „ohne bestimmte Beschäftigung“ bezeichnet wird, rechnen es sich zur Ehre, dieser Einladung Folge zu leisten. Man scheint sich wenig genirt zu haben. Die Gäste mit Mistreß Windham gehen ihre eigenen Wege, und Mr. Windham verfolgt die seinigen. Jene kommen von einer ihrer Excursionen spät nach Mitternacht nach Hause und finden den Gemahl, der den Abend in verschiedenen Musikhallen zugebracht und die Scenen seiner früheren Triumphe wiedergesehen hatte, total betrunken und in tiefem Schlafe auf dem Sopha liegen. Um ihn zu erwecken, gießen sie ein Glas kaltes Wasser über sein Gesicht. Mr. Windham scheint diesen gefühlvollen Scherz anfangs mit dem besten Humor aufgenommen zu haben, und die zwei „Freunde“ sowohl, als Mrs. Windham, ziehen sich in ihre Schlafcabinete zurück. Plötzlich jedoch scheint ein gewisser unklarer Verdacht in dem unklaren Kopfe des Gatten aufgetaucht zu sein. Er umgürtet sich mit einem gewaltigen Tranchirmesser der Rache, erscheint vor dem Schlafzimmer seiner Ehehälfte, pocht als mahnendes Schicksal an die Thür und droht unter einem fürchterlichen Schwure, „allen Dreien die Hälse abzuschneiden“. Aufgelöstes Haar, flatterndes Nachtgewand, durchdringende Hülferufe der erschreckten Gattin, herbeieilende Retter in der Gestalt der beiden „Freunde“, rasche Worte, Geschrei, vorbereitende Puffe, allgemeine Prügelei, die mit dem Herbeieilen der Domestiken und möglichst gegenseitigem Zurtreppehinunterwerfen geendet zu haben scheint. Die verschiedenen Phasen dieses häuslichen Drama’s sind natürlich und logisch genug; auffallend dabei nur ist, daß der reiche Windham außer Stande war, die 500 Pfd. Sterl. Caution, die ihm der Polizeirichter als Bürgschaft des friedfertigen Betragens gegen die klagende Ehehälfte für den Zeitraum von sechs Monaten auferlegte, zu zahlen, und daher von dem Gefangenwärter in’s Districtsgefängniß abgeführt werden mußte. Mr. Windham ist also nicht mehr reich, und es darf uns daher nicht wundern, wenn die Einladungen interessanter „Freunde“ sich mehren sollten. Unter allen Umständen haben wir noch nicht die letzte Scene des „großen Windham-Falles“ hinter uns. Alle englischen Journalisten spitzen bereits ihre Federn für diesen „nicht uninteressanten Fall aus den höheren Schichten der Gesellschaft“.






Deutsche Bilder.

Nr. 9. König Enzio.
Von Wilhelm Müller.

Vorbemerkung der Redaction. Eine der herrlichsten Heldengestalten unserer Geschichte ist des großen Kaisers Friedrich II. Sohn und Ebenbild Heinrich, sein Heinz, nach welcher Namensverkürzung ihn das Land seiner Geburt, seiner ersten und seiner letzten kriegerischen Triumphe, seines Liebens und seines langen Leidens „Enzio“ nannte. Trotz dieses fremden Namens, an den die Geschichte sich gewöhnt hat, gehört auch dieser Hohenstaufe in seinem äußeren wie in seinem innersten Wesen ganz unserem Volke an, er ist eine seiner vollendetsten Erscheinungen, ein Mensch, wie ihn des Dichters Auge – „im schönen Leib die schöne

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 665. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_665.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)