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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

des Knaben. Der Blinde aber, erschreckt, als er auf seine Frage keine Antwort erhielt, fühlte und ahnte dennoch, daß etwas Unheimliches in seiner Nähe sei. Instinctmäßig griff er vor sich hin und faßte Melcher’s Hand, gerade über der Verderben drohenden Faust. Melcher zuckte zusammen – gerade so hatte ihn der Blinde an Adrian’s Leiche gehalten; er schleuderte dessen Hand zurück, denn auf den entsetzten Schrei des Knaben ließen sich von oben Annemarie’s heraneilende Tritte hören.

Der ganze Vorfall war das Werk eines Augenblicks gewesen.

„Was ist Dir, Davidle?“ rief die Bäuerin, die gleich beim Eintreten den Schrecken und die Aufregung des Kindes bemerkte.

„Was hast Du?“

Der Knabe schmiegte sich zitternd an sie und schlang ihr die Hände um den Hals. „Du bist’s, Ameile!“ rief er. „Ich bitt’ Dich, geh’ nicht mehr fort von mir … er ist wieder dagewesen.“

„Wer?“ fragte die Frau erstaunt.

„Der Mann, der meinen Adrian erschossen hat … er ist dagewesen … er will mich auch umbringen …“ ächzte das Kind.

„Das bild’st Du Dir ein, Davidle,“ begütigte sie, „Du bist halt krank – der Unglückselige – der das gethan hat, kommt nicht wieder!“

„Nein, nein, Ameile,“ rief der Knabe wieder, „er war da! Er ist’s gewesen – ich kenn’ ihn ganz genau!“

„Du kennst ihn?“ schrie Annemarie auf, und ein Schauder überflog sie. „Ist es nicht derjenige, dem Du das Stück vom Janker gerissen?“

„Derselbe,“ flüsterte der Knabe, sich enger an sie anschmiegend … „ich will es Dir sagen, aber ganz still, damit er es nicht etwa hört und wieder kommt … Er ist es gewesen, Ameile, ich weiß es ganz gewiß, denn ich habe ihn wieder an der Hand gehalten, wie damals … siehst Du, gerade hier über dem Gelenk … Da hab’ ich etwas unter meinen Fingern gefühlt, wie eine Narbe, oder wie ein Ueberbein … und doch war’s wieder nicht so, denn es zuckte und bäumte und bewegte sich, wie eine Natter, die man gefangen hat …“

„Weiter, weiter!“ drängte Annemarie.

„Wie Du vorhin fort warst, Ameile, da ging ganz leise die Thür’ auf, und der Mann kam herein und auf mich los und streckte den Arm nach mir aus … ich hab’ es gehört und gespürt, und in meiner Angst hab’ ich vor mich hin gegriffen und hab’ ihn am Handgelenk’ erfaßt, wie damals den Mörder … da hab’ ich die Narbe wieder gespürt und die Fiber, die sich wie eine Natter strecke und wand …“

Annemarie bebte, ihre Augen rollten und ihr Athem flog.

„Es kann nit anders sein, Davidle,“ sagte sie, „Du hast geschlafen, und da hat Dir das Alles geträumt. …“

„Nein, Ameile, ich bin wach gewesen … so munter wie jetzt …“

„Dann laß es gut sein; bet’ ein Vaterunser, daß Du vor bösen Anmuthungen Ruh’ hast … Sag’ keinem Menschen ein Wort; ich will unter der Hand nachforschen!“

Sie brachte den Knaben zu Bett; sie selber konnte an keine Ruhe denken und eilte in fieberischer Aufregung hin und wieder. Es war kein Zweifel möglich an der klaren und bestimmten Aussage des Knaben; wer konnte es also sein, der sich in die Stube geschlichen hatte und dessen Hand das verhängnißvolle Erkennungszeichen trug? Das Haus war geschlossen und wohl verwahrt; ein Fremder hätte nicht einzudringen vermocht, es mußte also einer der Hausgenossen sein. An die Knechte war nicht zu denken, sie waren alle fremd und erst kurze Zeit in der Gegend, denn seit den traurigen und geheimnißvollen Begebenheiten, die sich in seiner Nähe zutrugen, war der Stürzerhof in Verruf gekommen, und nur Bursche aus ferner liegenden Orten ließen sich herbei, dort in Dienst zu treten. Der Verdacht konnte nur auf Melcher fallen – aber hatte er nicht die unwiderleglichsten Beweise gebracht, wer Adrian’s Mörder gewesen? Hatte er sich nicht selbst hergegeben zum Werkzeug der Rache für den Mord? Und dennoch – wer das vermochte, war er nicht auch im Stande, eine noch grausigere That zu begehen? Annemarie mußte Gewißheit darüber haben, und das so bald als möglich – aber wie war dieselbe zu erlangen?

Sie hatte das Licht ergriffen, um zu Melcher zu eilen, sie wollte ihm die ganze Last der Beschuldigung auf einmal in’s Gesicht schleudern, wollte von seiner Bestürzung das unfreiwillige Geständniß erhaschen – aber sie stand auf halbem Wege still. War der Argwohn wirklich begründet, dann war Melcher ein Scheusal, wie die weite Erde kein zweites trug, dann war von ihm nicht zu erwarten, daß eine menschliche Regung ihn zum Verräther an sich selbst machen werde.

Im Umwenden fiel ihr Blick auf Melcher’s Thüre; sie war nur angelehnt.

Annemarie öffnete und warf einen Blick hinein; von Trunkenheit und tiefem Schlafe gebunden, lag der Bauer halb ausgekleidet auf dem Lager.

Er regte sich, als der Lichtschein auf ihn fiel, und murmelte unverständliche Worte, aber er erwachte nicht; nur eine dunkle, traumartige Vorstellung tauchte in ihm auf.

Wie ein Schatten huschte Annemarie näher; sie hoffte zu verstehen, was er murmelte; da machte der Schlafende wieder eine unruhige Bewegung, sein rechter Arm glitt von der Decke und hing schlaff über das Bettgestell herab.

Ueber dem Handgelenke war eine weiße Narbe sichtbar; vermuthlich hatte Melcher sich einmal bei der Arbeit verletzt; Sense oder Schnitzmesser schien tief eingedrungen zu sein und einen Theil der Sehne durchschnitten zu haben …

Ein Gedanke durchzuckte Annemarie und war ebenso schnell ausgeführt; sie hatte die Hand über’m Gelenke gefaßt und hielt sie fest. Selbst die Möglichkeit des Erwachens schreckte sie nicht zurück – sie wollte Gewißheit haben.

Melcher erwachte nicht; der starke Körper erbebte und rang, sich von dem doppelten Banne zu befreien, der auf ihm lag – es gelang nicht; stöhnend wand und wälzte er sich auf dem Lager und strebte, seine Rechte zu befreien.

Annemarie hielt noch fester … ein eisiger Schauer drang ihr zum Herzen, denn unter dem Drucke ihrer Finger fühlte sie es sich regen, wie der Blinde beschrieben hatte – das zerschnittene Stück der Sehne zuckte und schien sich wie ein selbständiges Leben zu bäumen. Der Schlafende wurde unruhiger und stöhnte und lallte: „Verdammter Blinder … laß los! Es ist nicht wahr! … Was willst Du mit dem Fetzen… ich hab’ nicht meinen Janker angehabt …“

Mit einem Aufschrei des Einsetzens stürzte Annemarie aus dem Gemach.

Die Nacht verging in Verzweiflung; der Morgen fand sie in trostlosem Jammer auf ihrem Lager sitzen. So klar, so unerbittlich hell, wie der Morgenstrahl, dessen Lichter blutroth durch die kleinen Scheiben glitzerten, stand Alles vor ihrer Seele! Adrian war von Melcher’s Hand gefallen; er hatte ihn bei Seite geräumt, weil er ihr bei seiner Bewerbung um ihre Gunst im Wege gestanden. Sie gedachte der drohenden Worte, die er an jenem Abend zum Fenster hereingerufen; sie begriff nicht mehr, warum sie dieselben vergessen, warum sie nicht sogleich auf ihn gedacht, ihn allein beschuldigt hatte! Um sie zu erringen, hatte er die Schuld auf Sepp gewälzt, vielleicht um zugleich einen Mitwisser zu beseitigen … mit unsäglicher Wehmuth gedachte sie, wie der Bruder trotz aller Rauhheit und ungeachtet seines Hasses gegen die Ueberrheiner doch ein so gutes Herz gehabt … ein Herz, das niemals, wie sie verzweifelnd erkannte, einer solchen That fähig gewesen! Adrian’s Blut war also ungerächt – sie selbst hatte furchtbare Blutschuld auf sich geladen … durch unerhörten Betrug war sie das Weib dessen, dem ihre volle Rache gelten sollte! – Vor ihr lag Adrian’s Bibel neben dem ausgebrannten Wachsstock; die Blätter leuchteten und die Buchstaben brannten – aufstehend schlug sie das Buch zu und erhob sich entschlossen, ihr gewohntes Tagwerk zu beginnen.

Kalt und finster wie bisher schritt sie in Haus und Hof hin und wieder; ihr Benehmen gegen Melcher war dasselbe, während er sie scheu betrachtete; ein dunkles Gefühl des Geschehenen lastete auf ihm, wie die verworrene Erinnerung eines Traums.

So kam der Martinstag heran. Die Festgans war unter die Hausgenossen vertheilt und verzehrt; alle entfernten sich nach dem gemeinsamen Tischgebet, und auch Melcher wollte in gewohnter Weise mit kurzem Gruß die Stube verlassen, als ihn Annemarie zurückrief. „Bleib noch einen Augenblick,“ sagte sie, „ich hab’ mit Dir zu reden … ich hab’ eine Bitt’ an Dich.“

„Du an mich?“ rief Melcher, der überrascht stehen geblieben war. „Ich hab’ Dich wohl nit recht verstanden? Du hätt’st eine Bitt’ au mich?“

„Es ist nit anders,“ erwiderte sie. „Du weißt, was heut für ein Tag ist, Du siehst die Kränz’ dort, die ich gebunden hab’.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 675. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_675.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)