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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

auch ein wahrhaft stolzes Selbstbewußtsein; allein von dem, was man Adelsstolz heißt, was man in einem „Junker“ zu suchen und als „Junkerthum“ zu bezeichnen pflegt, habe ich trotz meines langen und intimen Umgangs nie auch nur eine Spur gefunden. Er legte im Ganzen wenig Werth auf seinen Adel und die Reinheit seines Stammbaums; ich, der ich nicht einmal aus einem patricischen Geschlecht stamme, war ihm als „Vetter“ eben so lieb und gültig, wie einer der adeligen Verwandten. „In unserer Zeit,“ pflegte er zu sagen, „begründet nur noch die Bildung die Ebenbürtigkeit, und wer es anders will, ist ein Thor.“ – Herab sah er nur auf diejenigen, welche etwa aus Geldstolz und Prunksucht sich neuerdings den Adel verschafft hatten; gegen solche konnte er bei Gelegenheit den „alten Edelmann“ auf das Herbste herauskehren, und niemals wären derartige Leute in seinen oder seiner Familie Umgang gekommen. Er konnte zuweilen starr und hart wie Stahl sein, und von seinem entschieden ausgesprochenen Willen sah kein Mensch ihn jemals abweichen.

Von meinem ersten Besuch, von meinem späteren Verkehr mit ihm habe ich eigentlich nichts zu erzählen. Wir lebten dies erste Mal vierzehn Tage lang auf das Behaglichste mit einander, wiederholten das im nächsten Jahr und kamen, zumal ich demnächst in eine Garnison kam – ich war Auditeur –, welche der alten Heimath viel näher war und mir häufigere Besuche daheim erlaubte, immer tiefer in die beste und treueste Freundschaft hinein. Mein Gefühl sollte ich vielmehr verehrende Liebe nennen, denn diese erfüllte mich je länger, desto tiefer für den alten wunderlichen Gesellen. Was ihn zu mir zog und mich ihm sichtbar lieb machte, weiß ich noch heute nicht. Aber er ließ mich, wie schon bemerkt, nicht wieder los, er suchte mich sogar in meinem damaligen Wohnorte heim, um dies und jenes mit mir zu bereden oder mich und gelegentlich eins meiner Kinder zu sich hinüberzuholen. Es kann wohl sein, daß ihm die Einsamkeit in seinem Hause zuweilen gar zu groß wurde, zumal er jetzt, in seinem Alter, nicht gerade ruhiger, aber doch – vernünftiger, muß ich sagen, und maßhaltender wurde und nicht leicht mehr die Ruhe des täglichen Lebens und die Stille seiner Umgebung durch einen jener tollen Streiche unterbrach, die ihn vordem und noch bis vor kurzem häufig genug in Nähe und Ferne berufen gemacht. Ich zum mindesten habe nur noch wenig von dergleichen gehört und bin kaum ein oder zwei Mal Zeuge jener Extravaganzen gewesen, die früher in Hohensee und an seinem Herrn zur Tagesordnung gehörten.

Neben aller Rührigkeit und Rastlosigkeit steckte in dem alten Herrn seltsamer Weise auch eine gehörige Portion von – wie sage ich nur? – Ruhelust und Träumerei. Es gab ein paar Plätze auf Hohenseeer Gebiet, wo er häufig und lange zu weilen und – eben zu träumen pflegte, stundenlang, friedlich und herzlich, zur ruhigen Unterhaltung aufgelegt, oder auch nachdenklich, still und versunken, so daß er dann hin und wieder zu keinem Wort zu bringen war. Und so wenig ein oberflächlicher Bekannter eine solche Stimmung bei ihm gesucht haben würde, ebenso wenig wäre selbst ein Freund zu errathen im Stande gewesen, wo der Junker sich diese Plätze ausgesucht hätte.

Eine Viertelstunde vom Hofe, rechts neben der Buchenallee, lag die alte kleine Kapelle mit dem Friedhof umher einsam in den Gefilden; das Dorf hatte sich von ihr weggezogen, und nur die Schullehrer-Wohnung war noch in ihrer Nähe geblieben. Das Gebäude wurde nur vier bis fünf Mal im Jahre zum Gottesdienst benutzt – gewöhnlich gingen die Hohenseeer in ein nicht fernes Dorf zur Kirche hinüber – und wenn Nachmittags die Schule geschlossen war, lag die Gegend umher und der Platz selbst in einer Stille und Einsamkeit, als sei weit und breit kein Mensch zu finden. Besonderes zeigte sich an der Stelle nichts. Die Kapelle war alt und unscheinbar; es fehlte ihr sogar der Thurm, und die beiden Glocken hingen in einem sogenannten „Stuhl“, der, aus Holzwerk einfach genug errichtet, nahe der Hauptpforte auf der Westseite stand. Auch der Friedhof selbst war wie alle Seinesgleichen, und zum Schmuck dienten ihm nur einige schöne alte Bäume und der überall üppig angesiedelte Epheu.

Man hatte für die Kapelle und ihren Hof vordem die trockenste Stelle der Umgegend ausgesucht – eine Bodenerhebung, die, so unbedeutend sie sein mochte, dennoch einen weiten Um- und Ausblick über das flache Land gestattete. Und wer diese Ausschau haben wollte, ging in die äußerste Ecke des Kirchhofes gegen die See zu, wo eine prachtvolle uralte Eiche ihre Zweige ausbreitete und den Platz zwischen ihren moosigen Wurzeln mit dichtem Schatten überwölbte. Da ruhte mein alter Freund und erfreute sich der Aussicht, die in der That, wenn auch beschränkt, doch anziehend genug war. Seitwärts, gegen das Dorf zu, schnitt die Allee jeden Fernblick ab; an ihr vorüber sah man in der Entfernung einer starken Viertelstunde die oben erwähnte hohe, mit Wald bewachsene Düne und neben derselben die See, welche hier mit einem tiefen Busen sich in das Land hineindrängt. Die Hügeldüne begrenzt wie ein Vorgebirge die linke Kante, vorn hinaus ist ein ungemessener Horizont, rechts geht der Strand unabsehbar fort, und man blickt bis tief in’s „preußische“ Pommern hinein. Es ist möglich, daß auch das fast gar zu einfach erscheint. Man muß eben Sinn für die Natur und ein Herz für die See haben, um den leisen, leisen Zauber zu spüren, der da heraus zieht und den Schauenden unwiderstehlich umschlingt und ihn festhält bis an’s Ende seines Lebens.

Der Raum, welcher zwischen der Friedhofsmauer und dem Strande ausgedehnt lag, zeigte jetzt ziemlich weite Wiesen. Doch sah man noch an vereinzelten Büschen und Bäumen, welche hie und da an Grabenrändern und auf kleinen Erhöhungen wieder aufgeschlagen oder erhalten waren, daß vordem auch hier der Wald geherrscht habe, und der Alte bestätigte das auf meine angelegentliche Frage, indem er hinzusetzte, daß meistens er selber erst die Rodungen vorgenommen habe, weil die Waldung in Abnahme gekommen sei und die Wiesen einen höheren Ertrag gewährten. Es kam dazu, daß er eine Aussicht haben wollte und freie Luft, wie er sich ausdrückte, im Leben und im Tode. Denn obgleich er niemals auch nur eine Faser von Sentimentalität an sich hatte und der Ansicht war, daß es dem Menschen sehr gleichgültig sein kann, wo seine todten Knochen vollends zerfallen, wollte er dereinst doch nicht bei seinen Ahnen in der Kapelle begraben werden, sondern hier, vor der weiten See, unter dem alten Baume und unter der unermeßlichen Höhe mit ihren ewigen Lichtern.

Es war einer jener Tage, die im Herbst, aber auch nur dann, nach stürmischer Nacht und wildem Morgen ziemlich häufig sich zur vollsten Schönheit aufzuheitern pflegen und an Glanz und Klarheit, an Milde und zugleich an Frische und Elasticität Alles übertreffen, was ich zu solcher Jahreszeit jemals anderwärts kennen gelernt. Die Sonne macht es dann so warm, daß man zwar den Schatten sucht, in diesem wird es einem aber auch wohl bis in’s Herz hinein. Die Luft ist goldklar und goldrein, der Seewind ist nur ein frischer Hauch, in dem man alle Glieder sich kräftigen fühlt, der alles Schwere und Dumpfe aus uns und von uns fortnimmt.

Nie im Jahre sonst hat der Himmel dieses reiche, glänzende Blau gezeigt, die See niemals so mild und fröhlich gelächelt. Das Land kleidet sich erst jetzt in lebhafte Farben – tiefes Grün, goldiges Gelb, glühendes Roth.

Am Morgen war trotz des noch ungestümen Wetters Frau von Brederloo, wie häufig, mit ihrem ältesten Knaben zu Pferde nach Hohensee herüber gekommen und bald nach dem Mittagsessen wieder fortgeritten. Ein paar Stunden später hatte der Junker mich dann zum Ausgange aufgefordert und war mit mir nach dem Friedhofsplatze geschlendert, wo wir nun ruhten, schauten und plauderten. Der Alte war den ganzen Tag über ungewöhnlich still gewesen und selbst durch die Anwesenheit der Nichte nicht erheitert worden. Erst hier, unter dem alten Baume, vor der glanzvollen See war er, so zu sagen, aufgewacht und nach und nach wieder so munter geworden, wie ich ihn meistens sah. Man konnte heut hier auch nicht träumen und still bleiben, es war gar zu freundlich rings, und ganz überwältigt von diesem Eindruck meinte ich: hierher solle man einen Ernsten und Traurigen führen, damit er einmal allen Druck und alle Banden plötzlich von sich abfallen fühle.

„Das ist richtig,“ sprach der Junker und zog den weißen Bart, dessen Spitzen bis auf den Rockkragen hinabstarrten, lang durch die Finger. „Ich kann’s durch mein eigen Beispiel beweisen, Vetter. Ich habe hier einmal an solchem Tage – es war sogar gleichfalls der zwanzigste September, und auch die Stunde trifft beinahe zu – gesessen, nach den schwersten Minuten, meines ganzen Lebens, borstig wie ein Eber, und doch auch bis in den Tod betrübt, wie zerschlagen und zerbrochen. Da steht die Birke noch, an der ich damals mein Pferd anband. Ich kam nämlich von Liebenhagen, von Eurem Vater, wollte zu den Meinen und mochte doch Niemand von ihnen sehen und umritt zögernd Hof und Dorf

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 691. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_691.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)