Seite:Die Gartenlaube (1862) 708.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

bei der damaligen Advocatenwirthschaft noch lange hinziehen konnte. Hohensee war zu fern, und im Uebrigen – wer von dort hätte ihr auch recht was nützen können? Doch erzählte sie nur, daß meine Mutter ein paar Mal herüber gekommen sei und sich – wir hatten keine Geheimnisse vor einander – in der That über Erwarten liebevoll und freundlich erwiesen, besonders auf den armen Vater des Mädchens einen sichtbaren und zwar für jetzt wohlthätigen Einfluß gewonnen habe. Ich schüttelte dazu den Kopf. Die knabenhafte Opposition gegen die Mutter hatte sich freilich aus mir verloren; sie zu lieben aber vermochte ich um so weniger, da ich sie noch immer in der alten intimen Verbindung mit ihrem Bruder wußte.

Ihr seht daraus, daß hier in Hohensee selber noch alles in der alten Weise weiter ging. Wie mein Vater und der Baron sich nach jener Affaire mit mir wieder zusammengefunden, erfuhr ich niemals. Es ist aber auch gleichgültig, denn jetzt lebten sie ganz wie vordem, ja, die Wahrheit zu sagen, eher noch verträglicher als sonst. Man erzählte mir, daß Baron Gerold sich mit meinem Vater sehr in acht nehme, und dieser letztere, nunmehr sechszig Jahre alt, war gleichfalls ein wenig stumpf geworden, daneben wegen seiner großen Stärke wenig beweglich und augenscheinlich mehr als je unter dem klugen Regiment meiner Mutter. Wo er noch gereizt werden konnte, wußte sie besser als irgend jemand, und da sie das auf’s sorgfältigste vermied, konnte sie thun und lassen, was sie wollte.

Er hatte eigentlich nur einen lebhaften Wunsch – daß mein Bruder nach Hause kommen und sich in die Landwirthschaft eingewöhnen möge, denn er hing an seinen Gütern mit einer Art von wirklicher Liebe, und der Gedanke, daß sie in schlechte Hände und damit aus dem für damals musterhaften Zustande kommen könnten, war ihm ein gar peinlicher. Er wollte dem Julius für’s erste Sollnitz geben, damit er dort lerne und zugleich nahe und fern genug von Hohensee sei, um sich nöthigenfalls stets schnell Rath und Hülfe verschaffen zu können und anderntheils doch auch selbständig zu bleiben. Julius hatte aber bisher noch nicht gewollt; das Leben in Berlin, wo sein Regiment stand, gefiel ihm gar zu gut. Er war achtundzwanzig Jahre alt, hatte Geld, so viel er wollte, und gab sich nicht, wie ich, mit „wissenschaftlichen Grapsen“ ab, sondern lebte ein rechtes Lieutenants-Leben.

Für mich und meine Zukunft hatte der Alte bisher weder Pläne noch Wünsche; er mochte sie für gegeben halten, denn er deutete ein paar Mal darauf hin, daß ich dereinst wohl in Liebenhagen sitzen werde. – Gegen meine Reise hatte er nichts, und da, was ich sonst gefürchtet hatte, die Mutter keine Einwendungen machte, so erhielt ich, was ich wollte, und reiste baldmöglichst ab – von der Mutter zum ersten Mal in meinem Leben mit einer Art von Freundlichkeit entlassen – ich erfuhr es später, was dahinter steckte! – vom Alten mit den Worten: „bleib’ nicht zu lange aus, Junge. Möcht’ Dich doch auch noch gern wiedersehen.“ – Mein guter, alter Papa hatte mich eben in seiner Weise wahrhaft lieb und bewies mir das auch diesmal wieder.

Es wird Euch nicht darnach verlangen, von meiner Reise zu hören, Vetter; genug, wenn ich sage: ich trieb mich fast drei Jahre lang in der Welt umher, da mich der eine Weg immer zu einem anderen lockte, und ich habe Fahrten gemacht, wie sie dazumal noch nicht gerade gewöhnlich waren. Die letzten zwei Jahre zumal war ich recht eigentlich ein Vagabund gewesen, ohne bleibende Stätte und Standquartier. Ich hatte wohl ein paar Mal an die Meinen einen Brief abgeschickt – Schreiben war übrigens nie meine Leidenschaft – aber selten genug war es geschehen, und von ihnen hatte ich gar nichts erfahren, weil selbst mein Hamburger Banquier mich nicht aufzufinden wußte und mir keinen Brief nachschicken konnte; es ging damals eben noch nicht wie heut zu Tage. Als ich nun im December 1790 mit einem Hamburger Schiff, das ich in Smyrna getroffen, direct zurückkam, fand ich doch mehr als ich gedacht, einen ganzen Haufen Briefe.

Es war eigentlich nur Eins darin, was mich wirklich, freilich aber auch um so ernstlicher berührte – das war die Nachricht, daß mein Bruder im vorigen December schon meine Cousine Livia geheirathet hatte und nun, dem Wunsch des Vaters gemäß, auf Sollnitz lebte und wirthschaftete. – Wie sich das gemacht, war nicht recht zu erkennen, nur fand sich in einem Briefe Eures Vaters, des Magisters, der eigenthümliche, mir ewig unvergeßliche Satz: „Ich kann das Verfahren der Ihren, so weit ich davon erfahren, nicht ganz in der Ordnung finden, mein lieber junger Freund. Der Mensch hat in so ernsten Lebensfragen sein eigenes unveräußerliches Recht, seine eigene, niemals zu übertäubende Stimme. Ich sehe nicht klar, mein Freund, aber ich glaube, beides ist hier gar zu wenig geachtet worden. Das theure Kind hat sich indessen gegen niemand geäußert und ist still in sein neues Leben hineingetreten. Gott gebe ihm denn seinen vollen Segen.“

Vetter, das machte mich außerordentlich nachdenklich, und zwar – offen gestanden – mehr als die Sache selbst. Es verletzte mich freilich, daß man die alten Pläne, daß man mich so unbekümmert auf die Seite geschoben; ich fand darin die Abneigung der Mutter, den Haß des Barons Gerold, und die Wange brannte mir, und ich fühlte noch einmal jenen einen Blutstropfen darauf wie geschmolzenes Blei. Allein, ehrlich gesagt, war dieser Verdruß dennoch gewissermaßen nur ein äußerlicher, und von einem tiefer gehenden, wahren Schmerz ward mir nichts fühlbar. Ich hatte meine Cousine nur als Kind gekannt und sie auch das letzte Mal nur als ein solches, wenn auch liebreizendes, kennen gelernt. Sie war, mit einem Wort, nicht dazu angethan gewesen, jene alten Plane der Anderen, die bei mir, dem Knaben, freilich Beifall gefunden, in der folgenden Zeit aber dem Heranwachsenden immer ferner und ferner getreten und aus dem Sinn gekommen waren, mir wieder nahe zu rücken, oder mich gar für sie zu begeistern. Vetter, ich war ein halb träumerisches, halb fideles, vor allen Dingen aber ein gesundes Menschenkind; ich sah die Frauen mit freundlichen, aber nicht mit begehrlichen Augen an, und ich wiederhol’s – so lieb ich die Livia hatte, als Braut oder Gattin, als mein volles Eigen hatte sie mir noch nicht erscheinen können, wie mir bis dahin überhaupt auch noch Keine in solchem Lichte erschienen war.

Aber, was hießen denn nun jene Worte Eures Vaters? Hatte das junge, in seiner Einsamkeit träumende Mädchen die Sache anders angesehen? Hatte Livia anders an mich gedacht? Ich verwarf diesen Gedanken, sobald er gefaßt war. Es war unmöglich! Sie war ja ein Kind, da wir uns zuletzt begegneten, und hatte seitdem so gut wie nichts mehr von mir gehört. Oder hatte sie jemand Anderes im Herzen, und hatte man sie gezwungen, den aufzugeben, und gegen ihren Willen meinen Bruder zu heirathen? Dies Letztere schien mir das Natürlichere zu sein, und wie ich auch zu dem Kinde stand – es regte sich in mir für dasselbe ein tiefes – nennt es: ritterliches – Gefühl; ich hatte mich stets, so lange ich in Livia’s Nähe, als ihren naturgemäßen Schützer betrachtet und sah mich auch noch jetzt so an. Hatte man sie gezwungen oder gequält zu etwas, was gegen ihren Willen? Vetter, ich ballte noch einmal die Faust, und noch einmal brannte der Blutstropfen auf meiner Wange. Ich kannte die Meinen und wußte, in wem von ihnen ich – deutsch heraus – Livia’s und meinen Feind zu finden haben würde.

Ich hatte keine Ruh’ noch Rast. Ich packte meine Briefe zusammen und meinen Koffer nicht aus. In der Nacht schon fuhr ich mit Extrapost der Heimath zu.


(Fortsetzung folgt.)





Die Judenstadt und der alte Judenfriedhof in Prag.


Wer jemals Gelegenheit hatte, die alte hundertthürmige Residenz der Böhmenkönige zu sehen, erinnert sich gewiß jenes erhebenden Eindrucks, den die ehrwürdige Moldaustadt Prag in ihm hervorgerufen. Und um wie viel großartiger muß der Anblick zu jener Blüthezeit Prags gewesen sein, als noch frisches Leben in ihren großartigen Palästen herrschte, vielseitige Industrie dem arbeitenden Bürger Reichthümer zuführte, Hoch und Niedrig der segensvollen Regierung Karl’s IV., welcher Böhmens goldene Zeit schuf, sich einstimmig bewußt wurde!

So wesentliche Spuren der Veränderung auf der „Kleinseite“, dem Stadtviertel der böhmischen Nobile’s und ihrer Paläste, sich unter dem Einflüsse der Jahrhunderte geltend gemacht haben, so


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 708. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_708.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)