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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)


nachdem ihm nur erst die ganze unverfälschte Wahrheit der Sachlage zur Kenntniß gekommen – sollte nicht zu Schanden werden. Am 19. August erschien eine königliche Verordnung, durch welche „das Gebot der allgemeinen Einführung des neuen Landeskatechismus aufgehoben wurde, so daß der Gebrauch desselben nur da stattfinden sollte, wo er mit Bereitwilligkeit aufgenommen werde.“ – Damit war denn der hauptsächlichste Sieg erfochten. Es war dieser freilich nicht so groß, als wenn die königliche Verordnung den neuen Katechismus durch ein Machtwort ganz und gar wieder abgeschafft und annullirt hätte; allein es war nun doch den Gemeinden (und damit allen Eltern) die Freiheit zurückgegeben, aus eigener Wahl und Entschließung, ob für, ob gegen das neue Religionsbuch und dessen Gebrauch für ihre Kinder sich zu entscheiden. Sie haben denn, Gott sei Dank! bis jetzt auch recht wacker von diesem ihnen neu zuerkannten Rechte Gebrauch gemacht. In den meisten Schulen, wo das Buch schon eingeführt worden, hat es, oftmals nicht ohne einigen Kampf gegen die renitenten Pastoren, wieder abgeschafft werden müssen, und wo dies bis jetzt noch nicht geschah, steht es doch zuversichtlich zu erwarten. Aber damit ist noch nicht Alles gethan zur Sicherung der Glaubensfreiheit im hannoverschen Lande und zur Verhinderung der Wiederkehr ähnlicher Vorkommnisse, wie dieser Katechismusstreit. Erst wenn der §. 23 der Landesverfassung, wonach dem Lande die Einführung einer Landessynode versprochen ist, zur Wahrheit geworden, darf auch in Hannover die Glaubensfreiheit und die vernünftige Fortentwickelung auf kirchlichem Gebiete als gesichert betrachtet werden. Dieses wohl erwägend und entschlossen, sein Werk nicht halb gethan zu verlassen, hatte Baurschmidt auf den 7. October nach Celle eine Versammlung aller ihm gleichgesinnten Geistlichen des Landes zusammenberufen. Dieselbe hat denn auch unter lebhafter Betheiligung des Publicums stattgefunden. Unter den von den versammelten 44 Geistlichen gefaßten Beschlüssen ist der dritte schließlich der wichtigste, welcher lautet: „Es ist ein dringendes Bedürfniß, daß die lutherische Kirchengemeinde zu einer festen und lebendigen Gemeindeordnung gelange mit genügendem Einfluß auf die Wahl der Prediger und Lehrer, und daß ein gemeinsames Band in einer Provinzial- und Landessynode gewonnen werde. Es soll zur Realisirung dieser Wünsche eine Versammlung von Geistlichen und Laien veranstaltet werden; ein zu wählender Ausschuß soll dieselbe vorbereiten und Ort und Zeit bestimmen.“ –

Wünschen wir denn, daß das so begonnene Werk fortan gedeihe und wachse, und insbesondere, daß auch ihm, dem ersten Werkführer desselben, dem braven Landprediger, unserm Baurschmidt, noch lange ungeschwächt die Kraft verbleibe, an diesem Werke weiter zu schaffen. Wer weiß, wohin es ohne ihn, der so kühn und unbekümmert um seine persönliche Existenz sich an die Spitze stellte, mit der Glaubensfreiheit und der religiösen Volksaufklärung des hannoverschen Landes gekommen wäre. Mit Recht betrachtet und ehrt das Volk ihn als seinen ersten Glaubenskämpfer in dieser Zeit.

Mögen dieser Ruhm und diese Bedeutung ihm ungeschmälert verbleiben!




Blätter und Blüthen.


Das neue Babylon von Eugen Pelletan. Der französische Märtyrer der Presse, Eugen Pelletan, neulich in allen Zeitungen als Redner im Congresse für sociale Wissenschaften in Brüssel genannt und excerpirt mit seinen Hauptstellen: „ganz Frankreich ein 300 Meilen weites Zuchthaus, – nichts mehr frei, als die Pflastersteine, – Freiheit nur durch Straßenfrechheit der Mädchen ersetzt – die französische Presse nur eine Form des Schweigens“ etc. – dieser Eugen Pelletan hat im Gefängnisse, wo er für einen im Courrier du Dimanche veröffentlichten Artikel büßte, das jetzige Napoleonische Paris in einem besondern Buche als „La Nouvelle Babylone“ geschildert. Dieses neue Babylon hat in Frankreich, wo man seit Jahren keine freie Herzens- und Gallenergießung in die Öffentlichkeit kommen ließ, ungemein viel eifrige Käufer und Leser gefunden.

Das Buch ist im Sinne eines „vieux provincial“ geschrieben, der Paris nach dreißig Jahren zum ersten Male wieder sieht und es natürlich kaum wieder erkennt in seiner furchtbaren innern Häßlichkeit unter äußerem koketten, lügnerischen Glanze.

Pelletan schildert seine Landsleute als eine entartete, verlebte Race, die für nichts mehr Sinn haben, als für die groben materiellen Genüsse, die man sich für Geld und allerhand unsittliche Kunststücke der Civilisation erkaufen kann, erschwindeltes oder in der Lotterie der Börse gewonnenes Geld im Café Anglais verprassend oder es mit gefräßigen Werkzeugen ihrer Lust verlotternd, die nach keiner Literatur fragen, wenn sie nicht aus dem Sinnlichkeitskitzel eines Flaubert oder Feydeau besteht – Menschen ohne Ehrgefühl und Selbstachtung, Freiheit als zur „Politik“ gehörig und deshalb als langweilig meidend und verspottend, Lakaienseelen in Affenkörpern, die nur noch von den niedrigsten Lastern eines orientalischen Sensualismus bewegt und bestimmt werden.

Diese Art von Charakteristik beschränkt er nicht etwa auf das männliche Geschlecht, nein, das weibliche besteht aus pflichtvergessenen Töchtern, schlechten Müttern und liederlichen Gattinnen. Kleiderluxus und Gefallsucht ist die große und ganze Arbeit ihres Lebens. Er giebt nicht blos zu verstehen, sondern stellt es geradezu als ausgemachte Thatsache hin, daß Frauen und Töchter schlechtbezahlter Beamten oder knickeriger Hausväter nicht anstehen, ihre Ehre zu verschachern, um die Rechnung eines unangenehm werdenden Modisten zu berichtigen und diese Art von Geschäften zu wiederholen, um sich einen neuen Hut oder einen neuen Kleiderstoff zu kaufen.

Die Presse ist dem Verfasser natürlich ein Hauptsymptom des sittlichen und intellectuellen Verfalles. Seine Schilderung des Journalismus ist so graphisch und, wie es scheint, richtig, daß wir sie möglichst treu wiedergeben wollen.

„Ein Fremder im Gasthof wacht auf, klingelt und fragt den Kellner, wie’s Wetter aussehe. Der Kellner öffnet das Fenster, sieht auf und antwortet: „sieht nach gar nichts aus, Monsieur.“ Das ist die öffentliche Meinung in Paris, Niemand bekümmert sich mehr um die politischen Zustände seines Landes, einige alte Narren ausgenommen, die immer noch von Freiheit faseln. Da kam mir neulich so ’n alter Raisonneur in die Quere, der mich als Mann der Presse etwa so abkanzelte: „Wer könnte sich heutzutage noch für ’n Zeitungsartikel interessiren? Einige alte Kerls, wie Sie selbst, Veteranen der liberalen Presse, quälen sich wohl noch gelegentlich einen Leitartikel ab, weil’s mal Ihr Geschäft war. Und statt nun auf den Straßen umherzubetteln – was mit der Polizei in Conflict bringt, ziehen Sie’s vor, sich durch Zeitungsschreiberei der Gefahr eines hypothetischen Verbrechens gegen die Februar-Ukase auszusetzen. Aber, ehrlich gestanden, worüber können Sie denn überhaupt schreiben, wenn Sie bei jedem Worte fürchten müssen, daß irgend eine Anklage darauf begründet werden könne? Sie schreiben in Räthseln, plagen sich mit dunkeln Anspielungen und verwahren und entschuldigen sich. Sie sagen nicht, was Sie meinen, und wenn wir sagen wollen, wir können lesen, müssen wir klar herausfinden, was Sie sorgfältig verschwiegen haben. Im besten Falle tischen Sie ein Bischen Wahrheit auf, niedlich in ein Räthsel eingepackt. Sie schreiben immer unter dem Fluche, Ihre wahren Gedanken verbergen zu müssen. Sie sind zu ehrlich, um mir nicht Recht zu geben, wenn ich sage, daß uns Ihre ängstlichen Sprünge auf dem gespannten Seile keinen Spaß machen. Wir lesen zwar immer noch Zeitungen, weil man doch einmal etwas lesen will, und – Gott sei Dank! Anzeigen giebt’s ja noch alle Tage. Frankreich fürchtet sich vor dem Denken, wie vor ’ner Krankheit, und trägt eine Chloroform-Binde um die Stirn.“

So sprach der alte Raisonneur. Hat er Recht? Ich weiß nicht. Alles, was ich sehe, ist, daß die Presse im Sterben liegt und daß die Zeitungsbogen bald mit nichts mehr bedeckt sein werden, als einem der französischen Sprache ähnlichen Kauderwälsch. Die halbofficielle Presse lebt von der Hand in den Mund und veröffentlicht ihre Meinungen und Grundsätze fertig geschnitten und mundgerecht, wie sie vom Hauptquartier geliefert werden. Sie legt sich schlafen auf das Bett des Schutzzolls und erwacht am Morgen in den Armen des Freihandels, ist bald für, bald gegen den Papst und bleibt immer ergebenst und unabhängig. Aber so wie sie ist, ziehe ich sie noch immer der Schein-Opposition jener feurigen Demokraten vor, die mit einer Hand dem Radicalismus die Hand schütteln und sich mit der andern an die Rockschöße der Regierung klammern, bald dem einen, bald der andern in’s Ohr flüsternd und beide belügend. Wir sind verflucht zu einer Art von Bastard-Journalismus, voll von Haß gegen die Jesuiten und tartüffischer als Tartüffe selber, am Morgen eine Verwarnung entgegennehmend und am Abend mit dem Beamten soupirend, der sie am Morgen brachte – feierlich gegen Regierungsschutz protestirend mit einem Regierungs-Anstellungs-Decrete in der Tasche. Diese amphibische Presse bringt dann und wann einen starken Freiheits-Artikel und meint damit das Publicum zu betrügen. In der That aber scheert sie sich um Freiheit ebenso wenig, wie eine Marquise unter den Ludwigs ihren Gatten liebte. – Sie lebte mit ihm unter demselben Dache, hatte aber mit ihm nichts gemein. Manchmal begegneten sie sich auf der Treppe, grüßten sich gegenseitig mit den studirtesten Höflichkeiten und gingen ab in entgegengesetzten Richtungen. So leben freie Presse und Freiheit mit einander. –

Die tägliche Zeitung wird alle Tage stummer – denn ihre Artikel sind blos verkapptes Schweigen. – Die Neugier und Leichtgläubigkeit des Publicums, just aufgestachelt durch dieses Schweigen – hat eine Art von anonymen Journalismus in’s Dasein gerufen, den man sich gegenseitig ganz dicht in’s Ohr flüstert und der von Mund zu Mund circulirt. Eine Art von Mund-Presse hat die gedruckte Zeitung verdrängt. Sie ist unsichtbar wie die Luft, schnell wie der Wind und weht, gleitet, dringt überall hin, sagt was und wie’s ihr beliebt und wird geglaubt. Die ganze Welt ist Redacteur und Herausgeber, und das Publicum schätzt sie um so höher, je eifriger es daran mitarbeitet. Wenn irgend ein mißmuthiger Geist eine scandalöse Anekdote hört oder erfindet, setzt er sie in seiner Gesellschaft in Umlauf, im Café, beim Diner etc., und die Anekdote fliegt auf den Fittigen der Conversation von Salon zu Salon in ganz Paris, und mit Hülfe der Briefmarken verbreitet sie sich schnell über ganz Europa.“

Das ist Alles sehr wichtig, wie in jedem Lande, wo die Presse unter polizeilicher Willkür schweigen, lügen und heucheln lernt. Besonders treffend

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 719. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_719.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)