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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

war gut eingeleitet, die Ausführung auf’s Beste vorbereitet, und im Uebrigen mußte man sich auf den Zufall und das Glück verlassen. Aber der Bote selbst war stark angetrunken, fing mit den anwesenden Soldaten Streit an, und ich sah den Augenblick herannahen, wo man ihn auf die Wache bringen würde, um ihn seinen Rauch ausschlafen zu lassen. Seine Strafe konnte indeß auch härter ausfallen, denn im Jahre 1850 hatte ein Conflict mit dem Militär stets sehr unangenehme Folgen, und in diesem Falle stand das Gelingen der ganzen Unternehmung auf dem Spiele. In dieser Verlegenheit erhob ich mich und bedeutete den Boten, mich auf mein Zimmer zu begleiten, wo ich ihm die Antwort auf seinen Brief gleich wieder mitgeben würde. Die Ueberraschung des Augenblicks spielte mir hier aber selbst einen Streich, denn ich vergaß ganz, daß kein Gefangener einen Besuch auf seinem Zimmer empfangen darf, ohne ausdrückliche Erlaubniß des Commandanten. – Ich hatte mich kaum zurecht gesetzt und den Brief zu beantworten begonnen, als der Aufseher in’s Zimmer trat und mich wegen meiner Uebertretung der Hausordnung ernstlich zur Rede setzte. Meine Lage in diesem Augenblick war durchaus keine beneidenswerthe, den betrunkenen Boten mußte ich sogleich aus dem Zimmer entfernen, wozu es lebhaften Zuredens von meiner Seite bedurfte, um nicht eine Scene zwischen ihm und dem Aufseher entstehen zu lassen, und auf der andern Seite durfte ich mich keinen Schritt von dem vor mir liegenden Briefe und meiner angefangenen Antwort entfernen, denn ich erblickte nur zu deutlich in den Augen des guten Aufsehers den Wunsch, zu wissen, welch wichtigen Brief ich denn mit dem expressen Boten zu beantworten habe. Freund Cußmann ließ sehr verdächtige Blicke auf meine Scripturen fallen, allein ich hatte gesetzlich freie Correspondenz, und somit lag kein Grund vor, meine Briefe einer Censur zu unterwerfen, daher der Aufseher sich begnügte, nach ertheilter Zurechtweisung meinen unberechtigten Besuch mit sich zu nehmen und zu Barth zu verweisen, wo er auf meine Antwort harren könne. Wie schnell war diese fertig! Wie beeilte ich mich, den Brief zu vollenden, zu siegeln, zu adressiren und ihn dem Expressen mit der strengsten Weisung zuzustellen, augenblicklich die Festung zu verlassen und den Brief pünktlich abzugeben! Ich schöpfte erst wieder ruhig Athem, als die Festungsthore sich hinter dem unseligen Boten geschlossen hatten.

Endlich kam der 22. Februar 1850 heran, der Tag, der über Rößler’s Glück oder Unglück entscheiden sollte. Ehe ich mich in die Einzelheiten vertiefe, wird es angemessen sein, den Schauplatz derselben etwas näher zu betrachten. Es ist dies die östliche Seite des Walles und der Umfassungsmauern, denn auf diesen Raum von 200 Schritten Länge und 15 Schritten Breite drängt sich der letzte Abschnitt unserer kurzen Geschichte zusammen.

Wenn man durch das auf der Westseite befindliche einzige Thor der Veste eintritt, so erblickt man gerade gegenüber eine Auffahrt, welche zwischen den den freien Platz umschließenden Gebäuden auf den Wall führt, und zugleich hat man die Aussicht auf einen Vorsprung der innern Mauer, welcher diese mit der mittleren Umfassungsmauer verbindet, und von welchem aus man unmittelbar in den Festungsgraben hinab sieht. Der Raum zwischen der mittleren und inneren Umfassungsmauer, ursprünglich zu wirksamerer Vertheidigung gegen Angriffe von außen bestimmt, ist jetzt friedlicherem Zwecke gewidmet: er ist in Gärtchen umgeschaffen, in welchen die Frauen der Festungsbeamten ihren Küchenbedarf pflanzen, und wo deren Eheherren ein lohnendes Feld für ihre Blumenzucht finden. Diese Gärtchen bilden zugleich die mittlere Terrasse, während der Wall die obere und der Festungsgraben die untere vorstellen. Von diesem letzten sind die Gärten durch eine kaum sechs Schuh hohe Mauer geschieden, welche gegen den Graben hinaus 16 bis 18 Schuh tief abfällt. Auf dieser Mauer und hart an dem erwähnten Vorsprung steht auf einer kleinen Plattform ein Gartenhäuschen, zu welchem 4 bis 6 Stufen emporführen, und von welchem man bequem in den äußern Festungsgraben hinabsehen kann, da die Mauer sich dort nur wenige Fuß über die Plattform erhebt. Von dem Vorsprunge selbst fuhrt eine steinerne Treppe in das Gärtchen links hinunter; durch einen gewölbten Gang unter dem Vorsprung hindurch gelangt man in das Gärtchen rechts von demselben, von welchem aus gleich vorn die schon genannten Stufen auf die Plattform, und also beinahe bis zur Höhe der Mauer führen. Wenn wir uns zu diesen sämmtlichen Localitäten noch den gegenüber auf dem Walle stehenden Gefangenenbau denken, zu dem man auf einer mit Geländer versehenen Treppe gelangt, so haben wir den ganzen Schauplatz vor Augen, auf welchem sich die nachfolgende Episode, äußerlich so ruhig, aber unter mächtigem Herzklopfen der Eingeweihten, überraschend schnell abwickelt.

Es war ein heller, milder Tag, wie man sie nach gebrochener Winterkälte oft erlebt, aber ein heftiger Wind stürmte über die noch kahlen Felder und trieb hier oben ein desto tolleres Spiel, da ihm von allen Seiten der Zugang offen stand. Die Gattin des Reichs-Canarienvogels, ein ebenso entschiedenes als entschlossenes Frauchen, die hier wirklich Heldenstärke zeigte, ist, wie schon oft, auch heute zum Besuch ihres Mannes von Ludwigsburg heraufgekommen und wartet auf der Staffel des Gefangenenbaues der Stunde, in welcher die Reihe des Spazierganges an Rößler kommt, um sich während desselben mit ihrem Gatten zu unterhalten. Endlich schlägt es elf Uhr, der dienstthuende Unterofficier erscheint, und die Thüre des Gemachs öffnet sich, um die beiden Gefangenen herauszulassen.

Rau und Rößler erscheinen oben auf der Treppe des Gefangenenbaues, wo Letzterer seine Gattin freudig bewillkommnet, welche eine „Halbe“ Bier neben sich auf der Treppe stehen hat, an welcher sich der Reichs-Canarienvogel hin und wieder labt und dadurch Gelegenheit findet, sich der unmittelbaren Aufsicht des begleitenden Obermanns zu entziehen. Dieser muß Rau folgen, der seinen Spaziergang heute unermüdet von einem Ende seines erlaubten Raumes bis zum entgegengesetzten wiederholt und dadurch den Unterofficier hinter sich herzieht, der seinen andern Gefangenen unter der Aufsicht seiner Frau und der unweit postirten Schildwache ganz in Sicherheit weiß. Aber der Reichs-Canarienvogel späht ängstlich in die Ferne, um das erwartete Zeichen zu erblicken; – ich sehe ihn noch heute, wie er dastand an der Mauer des Vorsprungs, in seiner hohen Gestalt sich deutlich vom hellen Horizonte abzeichnend, in flatterndem Schlafrocke (denn kein Zeichen durfte auf irgend eine besondere Absicht schließen lassen) und den Ausgucker vor dem Auge, die Gegend überblickend, ob das erwartete Signal sich zeige. – Jetzt erblickt er unten im Thale etwas Weißes – das Zeichen! Er sieht nicht um sich; in hastiger Flucht eilt er die Stufen zum Gärtchen hinunter, durch den gewölbten Gang des Vorsprunges und hinauf auf die Plattform. – Welche Enttäuschung! keine reitende Leiter streckt ihm ihre Arme entgegen, und weit und breit erblickt er kein helfendes Wesen; sein kurzes Gesicht hat ihm einen Streich gespielt und ihn vielleicht eine fliegende weiße Taube für das ersehnte Zeichen ansehen lassen. Er eilt jetzt eben so schnell wieder zurück, ehe er noch vermißt wird, aber wie er die Treppe zum Wall emporsteigt, kommt ihm auch schon der Wachposten entgegen, mit der scharfen Frage, was er da unten im Gärtchen zu schaffen habe? Der heftige Wind erleichtert ihm eine Ausrede: „sein Hut ist hinunter geweht worden, und er hat ihn so eben wieder heraufgeholt.“ Die Wache läßt den Grund gelten, aber die Sache scheint ihr doch nicht ganz geheuer, denn sie bedeutet den Gefangenen, sich nicht mehr vom Walle zu entfernen, und ermahnt den begleitenden Unterofficier, ein wachsameres Auge auf seinen Gefangenen zu haben.

Aber Freund Rau hat das Ohr des Begleiters in Anspruch genommen, er lauscht begierig dessen Mittheilungen, der heute zugleich einen unwiderstehlichen Hang hat, die ganze Länge des zum Spaziergang angewiesenen Raumes immer wieder zu durchschreiten, und der Reichs-Canarienvogel kann mit seinem Weibchen schwatzen oder nach den vier Weltgegenden ausschauen – Rau und der Unterofficier sind bereits wieder dort oben bei dem Belvedere, und die Schildwache hat wieder ihren einförmigen Gang vor ihrem Schilderhause hin und zurück begonnen. – Da – jetzt flattert wirklich das Signal! Der Obermann geht gemüthlich mit Rau den Wall hinauf, die Schildwache wendet gerade den Rücken – keine Secunde darf gezögert werden. Windschnell eilt Rößler in das Gärtchen hinunter, durch den gewölbten Gang auf die Plattform – o Glück! – die Leiter wird so eben an der Mauer angelehnt, und er kann sie mit den Füßen erreichen, während sie unten von vier kräftigen Armen gehalten wird. Ohne Zögern besteigt er die Sprossen, und rasch die Leiter abwärts – halt, sein Schlafrock ist zwischen der Mauer und einem Leiterarm eingezwängt, und er muß wieder hinauf, um ihn zu befreien! Jetzt ist es geschehen, er erreicht den Boden, die Leiter wird umgeworfen, damit sie den Nachsetzenden nicht zum Niedersteigen dienen kann, und nun geht es eilenden Laufes am Fuße der Mauer entlang, um vom Walle aus

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 777. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_777.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)