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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

nicht gesehen zu werden, der südöstlichen Ecke des Grabens zu, wo eine zweite Leiter bereit ist, sie aus dem Graben heraus in’s Freie zu bringen. Ein runder ausspringender Thurm und ein daneben stehendes Wohnhäuschen verwehren die Aussicht auf diesen Theil des Grabens, und ein Fluchtversuch am hellen Tage ist wirklich nur auf diesem Wege ausführbar. Auch begünstigt das Glück diesen Versuch – schon ist die äußere Wand des Grabens erstiegen, und sie eilen durch die Weinberge hinunter, um zu dem wartenden Wagen zu gelangen. Aber bereits ist auch die Flucht entdeckt! Die Patrouille, welche jede Stunde den Wall begeht, erblickt nur einen der beiden Gefangenen, und vergebens späht der Blick nach dem Andern. Da er nirgends zu sehen ist, dämmert ein Gefühl der Wahrheit auf, man eilt durch das noch offene Gartenpförtchen hinunter auf die Plattform und sieht über die Mauer in den äußern Graben. Jetzt ist Alles klar, dort unten liegt die Leiter, und der Reichs-Canarienvogel ist ausgeflogen!

Im Dauerlaufe eilt die Patrouille über den Hof hinüber der Hauptwache zu, um Lärm zu machen und die Soldaten der Garnison zur Verfolgung des Flüchtlings aufzubieten, der unmöglich weit entfernt sein kann, ja wohl noch im äußern Festungsgraben verborgen steckt. Plötzlich füllt sich der Wall mit Bewaffneten, die unglückliche Schildwache und der begleitende Obermann werden verhaftet, und einige Dutzend Unterofficiere und Soldaten eilen durch das Thor, um dem Flüchtling den Weg aus dem Graben von außen abzuschneiden. Wie der Wind sind sie da, sie umkreisen den Festungsgraben als eifrige Jäger und werfen in jeden Winkel ihre spähenden Blicke, um den Vogel zu entdecken. Vergebens ist ihre Mühe – unten im Graben liegen die beiden Leitern, still zufrieden mit ihrer erfüllten Pflicht, aber ein lebendes Wesen ist nirgends zu erblicken. Da wendet zufällig einer der Späher seine Augen nach der Außenwelt und läßt sie in’s Thal hinab schweifen. O weh! Dort unten auf den Wiesen, jede Verfolgung weit hinter sich lassend, eilt der fliehende Reichs-Canarienvogel, von seinen beiden Helfern gefolgt, dem harrenden Wagen zu – er erreicht ihn, sie helfen ihm hinein, und fort in sausendem Galopp geht es auf der Chaussee nach Eglosheim, über Ludwigsburg nach Waiblingen, wo frische Pferde vorgelegt werden; jetzt das Remsthal hinaus nach Schorndorf, und hier erst gönnt sich der Flüchtling so viele Rast, um seinen kennzeichnenden rothen Bart abnehmen zu lassen; dann weiter über Gmünd, Aalen, nach Nördlingen, von da über Augsburg nach Lindau, und in einem Fischernachen hinüber zum sichern Ufer der Schweiz, wo der so lang Gefährdete zum ersten Mal frei aufathmen und seiner vollständigen Sicherheit sich erfreuen durfte.

Und wie sah es indessen auf der Festung Hohenasperg aus? Der Schlag war so unerwartet gekommen und so keck ausgeführt worden, daß man sich von der Ueberraschung nicht so schnell erholen konnte. Alles, was nicht hinter Schloß und Riegel schmachtete, stand auf dem Walle und starrte lautlos in die Ferne, indeß hin und wieder Einer dem Andern leise seine Bemerkungen zuflüsterte. Das corpus delicti, die beiden unschuldigen Leitern, wurde in Gewahrsam genommen, und Rößler’s Frau strenge verhört. Es war sogar davon die Rede, dieselbe wegen ihrer unzweifelhaften Mithülfe hier oben zu behalten, aber die Frau hat ein säugendes Kind in Ludwigsburg, und man entläßt sie Nachmittags 4 Uhr, denn gegen eine Frau, die ihren Gatten befreit, kann und will man wohl nicht strafend einschreiten. Ihres Bleibens ist auch nicht lange mehr im Lande Würtemberg; sobald sie Nachricht von der glücklichen Ankunft ihres Mannes auf freiem Boden hat, eilt sie zu ihm; an den Ufern des Rheins treffen die so hart geprüften Gatten zusammen und eilen mit einander der neuen Welt zu. – Ihr wahrer Befreier und Postillon, der wackere Dr.l) R., wurde später ebenfalls verhaftet, entkam jedoch auf dem Transport von der verhaftenden zu der zuständigen Behörde seinem Civilconducteur auf so ergötzliche Weise, daß das ganze Land vier Wochen lang zu lachen hatte.

Der gute Reichs-Canarienvogel hat seinen Pilgerlauf schon lange vollendet, nur wenige Jahre durfte er sich seiner wieder errungenen Freiheit freuen. Ihm war es nicht vergönnt, den Anfang der erneuerten Bewegung für die Einheit und das Glück Deutschlands zu erleben, aber sein Geist wird unter uns weilen, und die Erinnerung an seine treue Liebe zum Vaterlande wird uns anspornen, unser Ziel fest zu verfolgen und durch Nichts uns abhalten zu lassen von dem betretenen Wege, der, wenn auch langsamer, doch desto gewisser zum Siege führt.




Ein Schweizer Staatsmann.

Von Johannes Scherr.

Donnerstags, den 25. Juli vor. J., um die achte Morgenstunde, hat im „Hof Ragaz“ an der rauschend dem Rheine zuschießenden Tamina, ein leidender Mann seinen letzten Athem verhaucht. Im Verlaufe des Vormittags trug der Telegraph die Todespost über die Berge und durch die Thäler der Schweiz. Am Nachmittag und Abend des Tages ist überall im Umfange der Eidgenossenschaft die herzliche Klage laut geworden: „Jonas Furrer ist todt!“ Selten mag ein Mensch so allgemein und aufrichtig betrauert worden sein. In das „Leicht sei ihm die Erde!“ welches diesem Todten nachgerufen ward, hat sich nicht ein Mißton gemischt. Beim Fahnenschwenkern über diesem Grabe haben auch die politischen Gegner nicht gefehlt; denn Niemand mochte, wollte, konnte dem Gefühle sich entziehen, daß in Furrer nicht nur der geachtetste und populärste Staatsmann der Schweiz hingegangen, sondern auch ein seltener, guter, treuer, wahrhaft humaner Mensch, brav bis ins Mark.

Wenn ich im Nachstehenden ein Lebens- und Charakterbild des Verewigten zu geben versuche, muß ich mich gegen die etwaige Unterstellung verwahren, mehr als eine flüchtige Skizze liefern zu wollen. Sie nimmt nur das eine Verdienst in Anspruch, auf Materialien zu beruhen, deren Zuverlässigkeit ich verbürgen kann und hier um so mehr betone, als in Betreff der Persönlichkeit Furrer’s manches Irrthümliche in der schweizerischen Presse laut geworden und in die deutsche übergegangen ist.

Jonas Furrer wurde am 3. März 1805 zu Winterthur im Canton Zürich geboren, der Sohn eines wackern Schlossermeisters, der zwar nur für sein Handwerk gebildet, aber voll gesunden Menschenverstandes und dabei durch seinen Fleiß in den Stand gesetzt war, seinen talentvollen Sohn tüchtig „schulen“ zu lassen. Eine Gunst des Geschickes, welche ungewöhnlichen Menschen selten abgeht, ward auch Furrer zu Theil: eine vortreffliche Mutter. Nur eine schlichte Bürgersfrau, aber doch eine Mutter von der Gattung jener, deren eine z. B. die Kindheit Schiller’s behütet und geleitet hat. In den mir freundlich zugestellten Aufzeichnungen eines vertrauten Jugendfreundes Furrer’s heißt es: „Den weitaus größten, ja wohl ausschließlichen Einfluß aus die Bildung des Gemüths und Charakters des Knaben hatte unstreitig seine Mutter, eine sehr bescheidene, einfache, jedoch sehr verständige, dabei äußerst gutmüthige Frau, die ihre ungeteilte mütterliche Liebe und Aufmerksamkeit der Erziehung ihres Lieblings widmete. Ihrem milden, wohlthuenden Einflüsse dankte Furrer ganz gewiß einerseits alle die edlen, liebenswürdigen Eigenschaften seines Charakters, durch die seine geistigen Vorzüge erst die wahre Weihe erhielten, so wie andererseits seinen vorherrschenden Sinn für trauliches Familienleben und häusliches Glück …“ Und wie für die Entwicklung Furrer’s als Menschen die Verhältnisse des Vaterhauses günstig lagen, so nicht weniger günstig die Verhältnisse der Vaterstadt für seine Entwicklung als Bürger. Wie ein wohlgeordnetes Elternhaus im Menschen die privatlichen Anlagen und Tugenden weckt und bildet, so ein wohlgeordnetes Heimathgemeinwesen die bürgerlichen. Ich stehe daher nicht an, den festen Ordnungssinn, die rastlose, aber stets maßvolle Thätigkeit, eine gewisse Bonhomie, Sauberkeit und Reinlichkeit, lauter Eigenschaften, die Furrer’s öffentlichem Charakter zukommen, auf den Umstand zurückzuführen, daß er in Winterthur aufgewachsen ist, – einer Stadtgemeinde, die hinlänglich charakterisirt wird durch die Thatsache, daß sie bei einer Anzahl von 7000 Einwohnern jährlich von Gemeindewegen an 100,000 Franken auf ihre Unterrichtsanstalten verwendet. Daneben ist die kleine Stadt der Sitz einer industriellen und commerciellen Thätigkeit, deren

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