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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

das „Schweigen!“ nicht immer gewissenhaft beobachtet. Fand der Eine oder Andere irgend eine interessante Notiz, so wurde sie mitgetheilt; ja, zuweilen entspann sich selbst politische Discussion, wo die sich entgegenstehenden Principien ihre Vertreter fanden. Spazier stand bei solchen Gelegenheiten stets auf der äußersten Linken. Ueberhaupt gerirte sich dieser auch in seiner äußern Erscheinung als Radicaler, wie die Demokraten damals genannt wurden. Spazier legte keinen besondern Werth auf die übliche gesellschaftliche Form und breitete sich, wenn Platz war, aus Bequemlichkeit mit dem halben Leibe über den Lesetisch. Er stand daher als Politikus, wie als Mann von feiner Sitte, bei den conservativen Elementen des Lesetisches nicht eben in besonderer Gunst. Der Professor Krug liebte es, seine Anschauungen über schwebende politische Fragen durch Broschüren der Öffentlichkeit zu übergeben. Diese Anschauungen waren aber in der Regel der Art, daß sie bei den liberalern und namentlich jüngern Politikern wenig Anklang fanden. Als sich daher Krug eines Tages eine Notiz auf ein Zettelchen schreiben wollte, stieß er aus Versehen das Tintenfaß um, so daß die schwarze Fluth die grüne Ebene überschwemmte. Spazier brummte ziemlich verständlich: „Er kann die Tinte nicht halten!“

Als der im Eingang erwähnte mittelgroße wohlbeleibte Herr mit dem gutmüthigen Gesicht am andern Tage zur selbigen Stunde wieder erschien und seinen Platz am Fenster einnahm, wandte sich der Kopf des Prinzen Emil zu Krugen und schien etwas zu fragen, worauf der Philosoph sein Haupt schüttelte. Auch Hamann, vom Prinzen später befragt, wußte keine Auskunft über den Fremden zu geben, da dieser sich nicht die Mühe genommen, seinen Namen in das Fremdenbuch einzuschreiben. Am dritten Tage endlich ward Licht. Der sehr sommerlich gekleidete Herr in gelben Nankinghosen war Niemand anders, als der aus den parlamentarischen Zeiten der zwanziger Jahre her bekannte würtembergische Abgeordnete und gegenwärtige nordamerikanische Consul, der Nationalökonom Friedrich List. Die conservativen Persönlichkeiten am Lesetische erinnerten sich jetzt mit bedenklichem Kopfschütteln, daß List wegen politischer Wühlereien, wie sie es nannten, in Würtemberg in Untersuchung gewesen, ja selbst auf dem Hohenasperg gesessen und später nach Amerika ausgewandert sei. Da indeß die Bestrebungen dieses Mannes in neuerer Zeit allein auf National-Oekonomie gerichtet waren, und er zugleich als Consul eine Art officielle Stellung bekleidete, gab man sich der Hoffnung hin, daß List von seinen früheren politischen Ausschweifungen curirt sei. Er ward darum bald, zumal er recht interessant von Amerika zu erzählen wußte, selbst in den conservativen Kreisen der Museenbesucher eine nicht ungern gesehene Persönlichkeit, wenn auch Mancher zuweilen den Kopf schüttelte, sobald List sich über deutsche Zustände mit rückhaltloser Offenheit aussprach.

Noch mehr aber gewann List an Interesse, als er mit seiner Idee, Leipzig und Dresden durch eine Eisenbahn zu verbinden, hervortrat und dieselbe in einer Schrift: „Das sächsische Eisenbahnsystem als Grundlage eines deutschen Eisenbahnsystems“ eines Weiteren entwickelte. Kein Tag verging, wo nicht diese Frage auch im Lesemuseum in Gegenwart von List selbst verhandelt wurde. Alle damals im Publicum gegen eine Eisenbahn zwischen Dresden und Leipzig anstrebenden kleinbürgerlichen Bedenklichkeiten und Engherzigkeiten fanden auch auf dem Museum ihre Vertreter, und der gute List hatte die unsäglichste Mühe, diese Eisenbahnwidersacher eines Besseren zu belehren, indem er ihnen die Sache so klar wie immer möglich auseinander setzte. Doch stand auch ein nicht unansehnlicher Theil der Stammgäste, namentlich der jüngeren Generation angehörig, auf der Seite List’s, da man die Großartigkeit und den praktischen Nutzen einer solchen Bahn einsah und anerkannte.

Die Hauptsachen, um die es sich vorzüglich handelte, waren natürlich der Kostenpunkt und die Rentabilität einer solchen Bahn. Ja, hieß es, die Engländer können wohl Eisenbahnen bauen, die haben das Geld dazu; wo soll aber solches bei uns armen Deutschen herkommen? Und selbst wenn die enorme Summe beschafft würde, wo ist nur die entfernte Aussicht vorhanden, eine dereinstige Verzinsung zu erlangen? Die Paar mit Post- und Lohnkutschen zwischen Leipzig und Dresden hin und wieder Reisenden sind ja nicht der Rede werth.

Vergebens wies List nach, daß, sobald eine Eisenbahn in’s Leben träte, die Erfahrung hinreichend lehre, wie sich der Personenverkehr um das Fünf- und Sechsfache erhöhe. Er machte ferner auf den so wichtigen Gütertransport aufmerksam; half Alles nichts, immer dasselbe ungläubige Kopfschütteln.

„Wie lange soll denn wohl eine solche Fahrt von Leipzig nach Dresden dauern?“ frug eine Stimme.

„Drei bis vier Stunden,“ antwortete List.

„Gerechter Himmel!“ rief ein Anderer, auf dessen Brust es nicht ganz richtig war; „das geht so rasend schnell, daß man nicht wird Athem holen können!“

Ein neuer Uebelstand, an den bis jetzt noch Niemand gedacht hatte!

„Bei solcher ungeheurer Schnelligkeit,“ bemerkte ein Dritter, „müssen die Achsen glühend werden und in Rauch und Flammen aufgehen!“

„Bei einer Schnelligkeit von fünf Meilen die Stunde gewiß nicht,“ tröstete List.

„Und wie steht’s mit dem Fahrgelde?“ erkundigte sich ein Vierter, der stets mit der Eilpost nach Dresden fuhr und für seinen Platz fünf Thaler bezahlte.

„Je billiger, desto besser für die Rentabilität,“ erwiderte List. „Wenn die Leipzig-Dresdner Eisenbahn,“ fuhr er fort, „das wird, was sie sein soll, muß die Person für einen Thaler hin und zurück befördert werden. Für jeden Handwerksburschen muß es billiger sein, mit der Eisenbahn zu fahren, als zu Fuße zu gehen.“[1]

In drei bis vier Stunden für einen Thaler von Leipzig nach Dresden und zurück, das war ein Gedanke ebenso verlockend wie unglaublich.

„Die vierzigtausend Leipziger,“ ließ sich ein anderweiter Sicherheits-Commissarius vernehmen, „werden sich aber trotz der Billigkeit und Schnelligkeit bald satt gefahren haben.“

„Vierzigtausend Leipziger?“ rief List mit erhobener Stimme. „Sobald sich die Nachbarstaaten anschließen, muß Leipzig von Beendigung der Bahn an in anderthalb Jahrzehnt Achtzigtausend haben.“[2]

Wieder ziemlich allgemeines Kopfschütteln.

Indeß die durch List einmal angeregte und mit allem Aufgebote seiner Kräfte, Ausdauer, Beharrlichkeit und Selbstverleugnung, die alle Bewunderung verdiente, geförderte Idee gewann immer mehr Boden, so daß in nicht zu langer Zeit eine Actiengesellschaft – die Actie mit zwei Thaler Anzahlung – zusammentrat und drei Jahre später, am Morgen des 24. Aprils 1837, der erste Personenzng aus dem Bahnhofe zu Leipzig brauste. Leipzig hat jetzt, wie List vorausgesagt, achtzigtausend Einwohner.

Wann wird auf deutschen Eisenbahnen List’s andere Prophezeiung in Erfüllung gehen? Sollen die Directionen an die Resultate der englischen Briefportoermäßigung fort und fort erinnert werden?

F. St–e.


  1. List’s eigene Worte.
  2. Ebenfalls List’s Worte.


Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das vierte Quartal und der zehnte Jahrgang unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen (elften) Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.




Nachdem wir den jetzigen Jahrgang mit einer Auflage von 120,000 Exemplaren begonnen – das erste Beispiel einer solchen Verbreitung – sind wir heute, nachdem sich der Absatz im Laufe des Jahres auf 138,000 erhoben, in den Stand gesetzt, den neuen Jahrgang mit einer Auflage von

155,000 Exemplaren

zu eröffnen. Es bedarf wohl nicht unserer wiederholten Versicherung, daß wir in dieser einzig dastehenden Sympathie der deutschen Lesewelt nur die bestimmte Aufforderung finden können, unsere bisherigen Bestrebungen und Tendenzen treu weiter zu verfolgen und so die gute Sache und den guten Geschmack auf jede Weise zu fördern.

Außer den trefflichen Beiträgen eines Bock, Carl Vogt, Schulze-Delitzsch, B. Auerbach, Beta, Ad. Stahr, Max Ring, L. Storch, Fr. Oetker, G. Hammer, Otto Müller, Ed. Hoefer etc. etc. kommen im nächsten Quartal zum Abdruck:

Die Tochter des Fälschers. Nach dem Leben, von Carl Heigel (Verfasser der „Marfa“) – Almenrausch und Edelweiß. Erzählung aus dem Hochgebirge, von Hermann Schmid – Die Herzogin von Berry. Historische Erzählung, von Claire v. Glümer – Novellen von Lev. Schücking, Otto Ruppius und Temme – Erinnerungen an Ludwig Uhland, von Prof. Vischer in Zürich – Aus Graubündens Hochalpen, von H. A. Berlepsch. Mit Abbildungen – Am Nordcap. Reise-Erinnerung von Carl Vogt in Genf. Mit Abbildung – Die letzten Tage des deutschen Parlaments, von Mor. Hartmann – Zwei Dichter und ein Dichter-Asyl, von Ludwig Storch. Mit Abbildung – Ein unaufgelöstes Räthsel, von Wallner – Ritt durch Island, von Carl Vogt in Genf – Der Stiefel. Eine beinliche Abhandlung. Mit Abbildung – Die Gründung der preußischen Landwehr, von Ferd. Pflug. Mit Adbilduug – Persische Turner, von Haentzsche. Mit Abbildung – Bilder von der rothen Erde – Wandernde Künstler. Mit Abbildung, von Leutemann – Des Freiherrn von der Trenck letzte Stunden. Mit Abbildung – Körner’s Leyer und Schwert. Ungedruckte Mittheilungen dreier Zeitgenossen Körner’s. Mit Abbildung – Fürst Suwarow, der Freund des Kaisers und des Volkes. Mit Abbildung – Friedrich Rückert in Neuseß, von Fr. Hofmann. Mit Abbildung – Leibnitz und die Stiftung der Berliner Akademie, von Max Ring – Eine Erinnerung an Nicol. Lenau. Mit Abbildung, von Herb. König – Das Frühlingsleben des Meeres, von Ernst Hallier – Die granulöse Augen-Entzündung – Aesthetische Briefe für’s Haus, von Lauckhard – Unterofficier Jahn. Eine Militärskizze – Die Strafrechtspflege Sonst und Jetzt – Die geschichtlichen Helden der deutschen Dichter. Nr. 2. Mit Abbildung – Das Haus zum guten Hirten, von G. Rasch – Der Düsseldorfer Malkasten – Aus dem Norden: Lämminge, von Alfred Brehm.

Auch die

Deutschen Bilder – und – Scenen aus dem Leben deutscher Dichter, mit Illustrationen,

werden fortgesetzt.

Leipzig, im December 1862.

Ernst Keil.



Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 832. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_832.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)