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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)


Klüften wieder. Eine gewaltige Masse verwitterter Felsen hat sich von der Spitze losgelöst und ist theils in den Fjord hinabgestürzt, theils am Wasserrande liegen geblieben.

So gewaltig ist der Eindruck der ganzen Erscheinung, daß selbst unsere Ruderer einen Augenblick inne halten, ihr zu lauschen. Langsam verliert sich die Staubwolke, nachdem sie noch, mit dem erzeugten Luftstrome emporwirbelnd, die ganze Wand bis zu der wenigstens 800 Fuß hohen Spitze eingehüllt hatte. Nun sahen wir auch einen Adler, der in majestätischen Kreisen aus der Wolke sich hebt, eine Zeitlang darüber schwebt und dann aus unseren Blicken hinwegstreicht. Hatte er vielleicht sein Nest, wie sein Verwandter in Skjerroe, unter den überhängenden Klippen angelegt, so daß es mit den halbflüggen Jungen in die bodenlose Tiefe gestürzt und zerschmettert ist unter nachfolgenden Felsen?

Viele tausend Tonnenlasten sind gewiß mit der Lawine von den Felsenspitzen herabgestürzt. Aus einer Entfernung von zwei Stunden Weges in gerader Linie, können wir noch die Trümmerstätte sehen wie ein breites, silbergraues Band, das sich senkrecht von oben nach unten mit stets breiter werdenden Grenzen hinzieht; sehen noch die überhängende Spitze, unter welcher sich die Massen loslösten; sehen noch die steile Böschung, in welcher sich die Felsenblöcke am Fuße angehäuft.

So hatten wir denn zum glücklichen Ende unseres Ausfluges ein lebendiges Bild der Zerstörung, die an diesen verwitterten Felsen nagt. Die Wellen höhlen beständig die steilen Wände am Grunde aus; von oben her dringt das Wasser in die Spalten und Ritzen des Felsgemäuers, das der Ewigkeit trotzen zu können scheint, und wenn der Frost des langen Winters dem Wasser nachdringt in die Erde und das Wasser im Inneren gefriert, treibt es keilförmig die Spalten auseinander durch seine unwiderstehliche Ausdehnung, lockert das Gefüge und sprengt endlich die Blöcke ab, die wuchtig in das Meer fallen. Dort aber erwartet sie eine neue Rolle: auf ihnen setzen sich die Tange und Algen, die Korallen und Polypen an, Muschel- und Krustenthiere heften sich an den neugewonnenen Grund, während weitaus, zu neuen Sand- und Schlammschichten, die zu Staub zermahlenen Trümmer sich unter dem Einflusse der Meeresströmungen ausbreiten.



In der Buoy-Kette an der Themse.


Die unaufhörlich durch London auffluthenden und niederebbenden mächtigen Wassermassen der Themse haben in der Zeit der niedrigsten Ebbe einige Augenblicke, wo sich die schmutzigen Wellen des Wassers etwas glätten und ruhen wie unschlüssig, ob sie noch weiter ebben oder zum Fluthen umkehren sollen. Eine kurze Zeit der Ruhe, des Verschnaubens, während welcher die in tiefer Mitte eingeengte Themse wahrhaft scheußlich aussieht. Auf beiden Seiten steigen steile, breite Ufer hoch empor nach den Rändern, die mit Fahrzeugen aller Art, unfläthigen Kohlenbooten, Kähnen, Schaluppen, Dampfschiffen, mit schief und krumm daliegenden, hülflos und unbeholfen erscheinenden Frachtwagen des Wassers übersät sind, von „Schmutzlerchen“, d. h. überschlammten Jungen, welche Knochen, Eisenstückchen, Nägel und sonstigen Bodensatz des Weltverkehrflusses aufsuchen, durchstöbert werden und von rauchigen, baufälligen, unten halb verfaulten Schuppen, Warenhäusern, Krahnen, Flaschenzügen, Kisten und Kasten, Tonnen und Takelagen, Matrosenkneipen und Marineläden eingerahmt sind. Von dem Spiegel der tiefsten Ebbe bis zu dem der Hochfluth, welche allen diesen bloßgelegten Bodensatz und die Tausende der auf ihm ruhenden Fahrzeug-Kiele alle Tage zweimal wieder mit tobenden, grollend heraufdonnernden Wogen bedeckt, ist’s gute zwei Mann hoch, so daß die Schlote der unter den Brücken hin und herschießenden Dampfboote, die während des höchsten Wasserstandes sich tief beugen müssen, um unter den Bogen hindurchzukommen, auf dem Ebbespiegel keinen jener „Knickse“ zu machen brauchen. Die Themse ist einer der fluth- und ebbereichsten Flüsse, was den unermeßlichen Verkehr auf derselben ungemein erleichtert, da ihre landwärts sich wälzenden Fluthen den Schiffen, den Kohlenflotten, den Seefischern, den Leichtern und Lastkähnen in ihrem westlichen Laufe eben so viele Tausende von Pferdekräften umsonst liefern, wie die seewärts stürzenden Wogen der Ebbe den östlich gelichteten.

Ich glaube, man hat einmal berechnet, daß man mit diesen Pferdekräften der Themsewogen sämmtliche Dampfmaschinen Großbritanniens treiben könnte. Man muß sich eine Vorstellung von diesem dämonischen Gewoge zu machen suchen, wie es alle Tage mehrmals das ungeheuere Bett der Themse, unten eine gute Viertelmeile breit und über zwölf geographische Meilen lang, über zwei Mann hoch füllt und wieder leert, um die folgende Thatsache in allen ihren tragischen Schrecknissen mit zu empfinden.

Es war im Herbst Abends, als die Ebbe sich eben erschöpft hatte und die Wassermassen des Meeres vor der Mündung draußen eben ansetzten, ihren gewaltigen Rücklauf zu beginnen. Die Ebbe hatte also den niedrigsten Stand erreicht, so daß ein Schiff, das eben zwischen den östlichen Theilen Londons aus der Themse vom Weltmeere her angekommen war, in der Mitte ankern mußte. Auf der Südseite gegenüber liegt der schmutzige, niedrige Stadttheil Londons, Rotherhithe. Von dem niedrigen Wasserrande der Themse bis zum Ufer hinauf ist es ziemlich weit und geht es bergan über verschlammtes Gestein und allerhand Bodensatz. Schräg vom Ufer her auf dem jetzt wasserfreien Boden des Flußbettes entlang liegen hier und da eisern festgebannt riesige Ketten mit anderthalb Zoll dicken Gliedern, die „Buoys“ oder Warnungstonnen zu halten, die an gewissen Stellen festgebannt schwimmen, um den Schiffen zu sagen, daß hier Sandbänke oder sonst den Fahrzeugen gefährliche Feinde unten lauern.

Der Skipper oder Capitain des eben angekommenen Schiffes hatte große Eile, an’s Land zu kommen. Kaum hatte der Anker festen Fuß gefaßt, als er an der Schiffsleiter rasch in’s Boot hinunter sprang, in der Eile noch einige Befehle hinaufschickte und sich von zwei Matrosen an den niedrigen Wasserrand rudern ließ. Hier wartete er das Land kaum ab, sondern sprang rasch und rüstig aus dem Boote hinüber und im nebeligen Dunkel im Flußbette aufwärts nach Rotherhithe zu. Er rief nur eben zurück, daß man ihn hier um elf Uhr wieder abholen sollte. Die beiden Ruderer sahen ihrem Skipper nach durch das Dunkel und blickten sich pfiffig zu. Sie wußten, daß er einem liebenden Herzen entgegeneilte – nach zweijähriger Abwesenheit. Um so mehr fiel es ihnen auf, daß er nach einigen freudigen Sätzen aufwärts plötzlich still stand und mit unwilligen Ausrufen sich bückte. So gut sie durch die Dunkelheit sehen konnten, schien er mit etwas am Boden Liegenden zu kämpfen. Er stampfte mit dem einen Fuße, zuckte und zog und zerrte mit dem andern und fluchte herzhaft dazu.

„Verfluchte Kette!“ hörten sie ihn endlich wüthend und zappelnd ausrufen. Er steckte mit dem einen Fuße in dem Gliede einer ungeheueren Buoy-Kette. Aufwärts springend war er mit dem Fuße so tief in das massive Kettenglied hineingerutscht, wie es dem Zwischenraume nach kaum möglich erschien. Der Sprung hatte dem Fuße eine solche Wucht gegeben, daß er wie ein vom schweren Schlage getroffener Keil bis über den Knöchel dicht und fest hineingetrieben worden war, so daß es seinen größten Anstrengungen nicht gelang, den Fuß aus der furchtbaren eisernen Fessel herauszuschütteln.

Die beiden Matrosen eilten herbei. Der Eine unterdrückte ein schadenfrohes Lachen, als er sah, wie eigen und eisern sein gestrenger Herr Skipper in einer Falle gefangen dastand und vergebens zuckte und zerrte, den Fuß zu befreien.

„Komm, Bob, hilf!“ rief der Andere vorwurfsvoll. „Jetzt, Sir, mit dem Fuße tüchtig und tapfer gewackelt und gewichselt. Wir halten die Kette. Jetzt! Wupp!“

Aber es war leichter gesagt, als gethan. Der Skipper zog und zerrte, rang und ruckte mit aller Macht, so daß die Knöchel zwischen dem Eisen knirschten, aber vergebens.

„Jetzt halte Du die Kette,“ rief Bob zu Bill. „Sir, nun sacht, aber derb!“ So wie er sprach, packte er den Fuß mit beiden derben Fäusten und zog und drehte und zuckte und zerrte daß die Steine unter seinen Füßen geräuschvoll nachgaben und der Strumpf an dem gefesselten Beine quer durchriß – Alles vergebens. Der Skipper fluchte auf die Ungeschicklichkeit seines Matrosen und befahl ihm, loszulassen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_024.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)