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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Nachdem der Capitain allein noch einen verzweifelten Versuch gemacht hatte, bat Bob um Erlaubniß, jetzt noch eine große Haupt-Attake zu machen. Der Gefangene, nochmals von der Vergeblichkeit seiner eigenen Anstrengungen überzeugt, ließ es willig geschehen. Bob machte sein Meisterstück: er zog und drehte, als wollte er eine Eiche aus der Erde reißen, so daß der Capitain laut aufschrie und in der größten Pein nach seinem Fuße griff. Er schüttelte sich in Qual und Zorn und schleuderte die Arme umher und fluchte und stampfte mit dem freien Fuße und schüttelte den gefesselten im höchsten Zorne und Schmerze, so daß Bob wie abgeschüttelt auf die schlammigen Steine fiel und sich mit einem Ausruf des Unwillens erhob, um den Capitain mit einem Blick zu bestrafen. Dieser Strafblick ward aber sofort zum herzlichsten Ausdruck des Mitleidens, als er sah, wie sein Capitain den Angstschweiß von dem wettergebräunten und doch blaß gewordenen Gesichte wischte.

Bis jetzt hatten sich nur ein paar Menschen eingefunden, zu sehen, was es hier für eine nächtliche Scene gäbe. Diese sahen darin eben noch einen guten Scherz des Schicksals. Der Rath des einen Zuschauers: „Schneid’t den Stiebel runter!“ ward mit Beifall und Gelächter aufgenommen.

„Stiebel ’runter, ja wohl!“ rief ein Anderer. „Das ist der gesetzliche Weg. Der Fuß ist in Chancery[1] und darf nur mit gänzlicher Ablederung wieder ’raus!“

Der Leidende hatte kein Ohr für den Spaß, und Bob machte der scherzhaften Seite der Sache durch die Bemerkung ein Ende, daß es einem rechtschaffenen Christen und Wassermanne besser anstehen würde, ein Licht zu holen, statt wie ’ne Landratte zuzusehen und Witze zu reißen. Der Mann begriff das auch und lief zum nächsten Publichause, um eine Laterne zu holen. Er kam mit einer solchen und verschiedenen Biergästen des Hauses schnell zurück. Mit Hülfe der Laterne und eines guten Messers schnitt der Skipper, beobachtet von etwa dreißig Augen, den Stiefel selbst soweit entzwei, als die furchtbare Eisenfessel zuließ.

„Nu fest!“ war der allgemeine Ausruf. Aber so riesenkräftig und heldenmüthig der Skipper auch zuckte, zog und zerrte, der Fuß kam nicht heraus. Die Andern halfen, so gut sie konnten. Einige hielten und unterstützten ihn, Andere zogen an dem Fuße, noch Andere hielten und drehten die Kette, und der Capitain stand da mit Schweiß auf der Stirn und zitternd mit den festgekniffenen Lippen, bald zusammenbrechend, bald wieder aufzuckend zu verzweifelten Anstrengungen.

Die Lage erschien nun Jedem sehr bedenklich. Und als der Leidende aufathmete und sich den Schweiß von der Stirn wischte und um sich sah, bemerkte man nur stille, theilnehmende Gesichter in dem spärlichen zitternden Laternenlichte. Selbst als ein Mädchen rasch und ernst ausrief, man möge die Kette zerhauen, lachte Niemand. „Wer holt ’n Stuhl für den Herrn?“ frug eine Frau mit ihrem Kinde auf dem Arm, „wie kann er noch stehen? Ich sehe, daß er ohnmächtig wird.“

Der Stuhl war bald da. Bill hatte seinen Herrn inzwischen fest und wacker unterstützt und gehalten. Der Skipper setzte sich. Vom Public-Hause kam ein Glas Cognac für ihn. Er stürzte es hinunter, sprang auf und erneuerte seine Anstrengungen mit der verzweifelten Riesenkraft, sich zornig, empört über sich selbst, schüttelnd wie ein Löwe in Banden. Auch wieder vergebens. Endlich wieder nachlassend, sah er sich unter der ziemlich groß gewordenen umstehenden Menge um und fragte: „Will nicht Einer ’nen Wundarzt holen?“ „Ich will!“ rief Bill eifrig und eilte davon wie ein Pfeil. Inzwischen lehnte sich der Capitain in seinem Stuhle zurück, kreuzte die Arme und unterdrückte seine Qualen wie ein Mann. Die Menge stand schweigend, starrend umher und sah einander und den Leidenden sorgend, verlegen, mitleidig, erschreckt und mit Grauen an.

So verging beinah eine halbe Stande, ehe Bill mit dem „ersten besten Doctor“ athemlos zurückkam. Es war ein Londoner „Chemist“, ein Verkäufer von Chemikalien ohne medicinische Kenntniß, wie sie in England tausendweise umherquacksalbern. Er preßte und drückte den Fuß und frug, ob das weh thue. „Ob’s weh thut!“ rief der Leidende vorwurfsvoll.

„Aderlassen!“ schrie plötzlich ein Mann aus der Menge.

„Ich dachte eben daran!“ bemerkte der Doctor, „aber auch daran, daß ich meine Lancetten nicht bei mir habe!“

„Ich hole sie!“ rief Bill.

„Danke,“ antwortete er, „aber ich muß selbst gehen. Meine Frau würden meine chirurgischen Instrumente keinem Unbekannten aushändigen.“

Während der Zeit hatte sich das Gerücht von einem sonderbaren Unglück auf dem Themsebette weit durch Rotherhithe verbreitet, und Personen aller Art und jedes Gewissens drängten sich herbei, Einige mit Laternen, Andere auf Booten von der Wasserseite her, so daß diese nächtliche Menge im Dunkeln, seltsam und stückweise von einzelnen Laternen beleuchtet, mit dem stärksten Lichte in der Mitte, um den Gefesselten und Gefangenen herum, zu dem unheimlichsten, malerischen Nachtlebensbilde ward. Der leidende Held der Scene sah erschreckend blaß aus, trotz seiner braunen Haut und der männlichen Ruhe, die er sich abrang, und trotz des Lächelns, das seine Lippen erlogen.

Endlich kam der Doctor mit seinem chirurgischen Besteck zurück. Er trat feierlich auf und öffnete seinen Kasten mit bedeutungsvoller Ceremonie. Mit wichtiger Miene wühlte er eine Lancette aus den blinkenden Messern und sonderbaren Schneide- und Stichinstrumenten heraus, machte die gehörigen Vorbereitungen und schlug eine Ader unter athemlosen Schweigen der Menge und in stärkster Beleuchtung der dicht herangedrängten Laternen. Der Doctor sprach ermuthigend, als er feierlich verkündete, daß er zu seiner Freude venöses und nicht arterielles Blut kommen sehe, und sah mit Wohlgefallen dem stark strömenden Blutflusse so lange zu, bis Jemand aus der Menge unwillig ausrief, man solle doch den Mann nicht todt bluten lassen. Aber der Skipper bestand darauf, noch einen Versuch zu machen, ehe die Wunde verbunden würde. So sprang er noch einmal auf und zog und zerrte und zuckte, renkte und schüttelte den blutüberspritzten Fuß und den ganzen Körper mit einer Wuth und Verzweiflung, die den Weibern und Mädchen umher manchen gellen Schrei mitfühlender Qual auspreßte und alle männliche Hände, die reichen konnten, zur Hülfe heranzog, während sie selbst durch ermuthigende Zurufe den entscheidenden Kampf zu unterstützen suchten.

Vergebens! Wieder vergebens!

Natürlich fing der Fuß zu brennen und zu schwellen an, und der Kampf beschleunigte die Entzündung. Endlich sank er mit einem schweren Gestöhn auf seinen Stuhl und lehnte sich erschöpft zurück.

„Wenn der Fuß,“ sagte der Doctor. „jetzt ein Weilchen Ruhe hätte, würde die Entzündung und Schwellung nachlassen.“

„Ich würd’n reiben mit Flanell und heißem Wasser,“ rief die Frau mit dem Kinde auf dem Arme.

Die Fluth war inzwischen bis etwa auf eine Elle an den Stuhl herangeschwollen. Ein unheimliches Murmeln und Flüstern traf das Ohr des Skippers. „Höchste Zeit! Mein Gott, die Fluth ist schon nahe! Keine Zeit zu verlieren!“ Er sah sich um und sprang auf und starrte eine Weile auf die unheimlich schwappenden, rollenden und rauschenden, dunkel sich wälzenden, auf den Wogenkämmen grell beleuchteten Fluthmassen. Dann wandte er sich wieder und zeigte den Umstehenden ein stieres, geisterbleiches Gesicht. Erneutes Zucken und Zerren, wobei der schlechte Verband der Wunde sprang und den Fuß mit quellendem Blute überzog.

In der Menge tobte ein Chaos von Ausrufen, Vorschlägen, Oppositionen, kreischenden Tönen, heulenden Schrecken. Dies Chaos ward plötzlich verdunkelt. Der Junge, der eine Fackel gehalten hatte, warf sie plötzlich weg und sprang aufwärts. „Die Fluth! die Fluth!“ schrie er und in demselben Augenblicke schwappten und klatschten die Wellen mit Gischträndern gegen den Stuhl und den eisengeketteten Fuß.

„Gott – Gott!“ rief der Capitain wild aufspringend, „kann mir Niemand helfen? Schreit um Hülfe! Ich kann nicht mehr. Gerechter Himmel, wollt Ihr hier stehen und zusehen, wie ein Mann zollweise ersäuft wird?“

„Keine Augst, Sir!“ murmelte ihm Bill besänftigend in’s Ohr. „Keine Bange, wir kriegen’s noch. Hier kommt Flanell und heiß Wasser. Vater Thems’ ist gut, Sir. Er läßt uns noch Zeit, er nimmt Vernunft an!“

„Aber ’s kommt!“ erwiderte der Skipper mit einem Schauder, der ihn schüttelte.

Die Reibungen mit heißem Wasser und Flanell wurden rüstig begonnen.

  1. Chancery- (Kanzlei-) Gericht, berüchtigt, wie man aus Dickens wissen wird, durch langwieriges, kostspieliges Verfahren, das oft nur mit gänzlichem Ruin beider Parteien endet; jetzt ist’s etwas reformirt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_025.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)