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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

betäubt, nicht überzeugt. Der Schrei sagte ihm, daß der Tod unvermeidlich sei.

„Wenn nicht am Knie,“ sagte er schwach, „warum nicht an der Hüfte? Das muß noch gehen!“

„Unmöglich! Nur unnöthige Grausamkeit, den Tod länger wegzulügen!“

Der Skipper hörte jetzt zum ersten Male aus diesen ruhig und entschieden gesprochenen Worten deutlich sein Todesurtheil. Er sah den andern Wundarzt an, der sein Gesicht wegwandte, um es ihn darin nicht noch einmal lesen zu lassen. Er sank in allen Muskeln gelähmt, todtkalt, in seinen Stuhl zurück. – Furchtbares Geschrei: „Schande! Elende Feiglinge! Werft sie in’s Wasser! Bindet sie auch an die Kette!“ u. s. w. verstummte durch ein noch entsetzlicheres Gekreisch. Der Capitain war rücklings in’s Wasser gefallen. Das Wasser hatte den Stuhl hinter ihm hinweggeschwemmt. Indem man ihn rasch emporzog, stieß er den durchdringenden Schrei des Entsetzens aus halb erstickter, sich Luft machender Kehle aus.

„Gott sei mit Ihnen!“ rief Bill, sich die Thränen aus den Augen reibend. „Es ist doch nur der Tod, der mehr als tausend Mal mit uns fuhr.“

„Nicht derselbe Tod, Bill, nein! Nein, nein, Bill! Hier niedergekettet – gemeines Wasser steigend, steigend, steigend! Mein Gott, thu’s vorher!“

Eine Hand berührte jetzt leise seinen Arm, die einer barmherzigen Schwester, welche ihn mit einem blassen, echt weiblich theilnehmenden und deshalb Trost ausstrahlenden Gesicht und Blick ansah, indem sie leise und liebevoll sprach: „Es ist nicht so schrecklich, als es scheint. Mein keiner Bruder lächelte, als er starb, und sagte, daß ihm der Tod gar nicht weh thue. Und Sie sind ein Mann. Nein, nein, fassen Sie sich; es ist wirklich nicht so schlimm, glauben Sie’s mir!“ Das Gesicht des Leidenden wurde weicher, ruhiger, indem er zuhörte.

„Wollen Sie einem Sterbenden noch eine Liebe versprechen?“ frug er leise.

Eine hervorstürzende Thränenfluth, ein krampfhaftes Schluchzen war ihre Antwort. Er bückte sich etwas an ihr Ohr und flüsterte ihr einige Worte zu. Dann zog er ein Taschenbuch hervor, schrieb einige Minuten lang in größter Hast hinein und überreichte es ihr mit den feierlich gesprochenen Worten: „Führen Sie’s gut aus. Gute Vorbereitung und dann erst die volle Wahrheit! Sie ist dann wohl stark genug. Und nun meinen Dank, mein Lebewohl!“

„Ich will, ich will,“ schluchzte die Barmherzige und wollte etwas hinzusetzen, aber sie unterdrückte es mit großer Anstrengung. –

„Was können wir noch für Sie thun?“ frug jetzt einer der Wundärzte.

„Huh, es ist so entsetzlich kalt! Wer schafft mir noch einen guten Schluck Cognac?“

„Ich, Capitain!“ rief Bill mit Energie. „Ich, Capitain, und das gehörig.“ Er sprang aus dem Boote und kam athemlos mit einer ganzen Flasche Cognac zurück, den der nächste Public-Haus-Wirth als die englische Universal-Hausmedicin schon bereit gehalten hatte.

Er gab ihm ein Glas voll und wollte noch mehr eingießen, als ihn der Wundarzt mit der Mahnung unterbrach, den Unglücklichen nicht betrunken vor den Thron des Ewigen zu senden. „Wer würde betrunken vor Victoria’s Thron erscheinen wollen?“ setzte er hinzu, „wie viel weniger vor dem des Ewigen!“

Ein neuer Tumult vom Wasserrande her unterbrach diese Scene. Die chirurgischen Instrumente waren angekommen. Die Fluth war weit über die Kniee des Niedergefesselten gestiegen und schlug sich wälzend und hinrollend in flüssigen Hügeln bis an die Hüften heran. Die Volksmenge, noch immer an dem Glauben festhaltend, daß die Amputation möglich und Pflicht sei, brach in neue Wuth aus, als die Wundärzte keine Anstalt machten, die Instrumente zu gebrauchen. Bill, der einsah, daß alle Hoffnung für seinen Capitain aufgegeben werden müsse und die in ihrem Leben gefährdeten Wundärzte nicht auch noch geopfert sehen wollte, gab flüsternd den Rath, sie im Boote nach der Mitte des Flusses hin unvermerkt in Sicherheit zu bringen. Dies geschah denn auch mit möglichster Eile, nachdem beide Aerzte ihrem Patienten still die zitternde Hand gedrückt hatten. Ihr Boot ward von dem bestochenen Ruderer still und ohne Aufsehen aus dem Wirrwarr der ringsum sich drängenden Fahrzeuge in die dunkele Mitte des Flusses hinübergeschoben.

Die Volksmenge auf dem Wasser und am Lande war unabsehbar groß geworden. Man schrie, stritt, jammerte, fluchte, kreischte in den verschiedensten Tonarten und Beleuchtungen, die hier und da immer noch vorübergehendes, unsicheres Licht auf verschiedene Rettungspläne zu werfen schienen, auf lange Taue, Pferdegetrappel am Ufer, blasse, großäugige, schreckenentstellte weibliche Gesichter, dunkele, derbe Männer in Booten und am Lande. –

Inzwischen schwoll und schwankte in immer breiterem, massenhafterem Gewoge der Fluthmasse, Zoll für Zoll, unbarmherzig, kalt und unerbittlich wie ein Fatum, der unvermeidliche Tod immer höher zum Herzen des unerlöslich Niedergefesselten hinan. Wer hielte es aus, solch einen heranschwellenden Tod zu schildern? Die Wogen umschlugen ihn bald über den Hüften, dann schwappten sie hinauf bis zu den Schultern, sie schlängelten sich in kalten, erstickenden Cirkeln um seinen Hals, sie gurgelten und trieben Blasen um seine Lippen, obgleich der Hals sich krampfhaft emporstreckte, noch einige Athemzüge des qualvollsten Lebens zu retten – ein so dämonisch-allmächtiges, unermeßliches Gut ist dieses oft verwünschte Leben noch in seiner unerhörtesten Qual! – So verschlangen ihn die entsetzlichen Wogen Zoll für Zoll, Glied für Glied inmitten einer unabsehbaren, rettungskräftigen – ohnmächtigen Menschenmenge. Endlich ein furchtbarer, ein einziger Schrei aus der Brust des Unglückseligen – sein letzter. Die Wasser schlossen sich über seinem Munde, sie drangen in die Nase – noch ein Kampf unter den Wogen mit heraufgeschwungenen Händen, dann dumpfes Donnern und Wälzen darüber hin – weithin verschallendes Stöhnen und Aechzen durch die nächtliche Menge.

Aus ihr schießt ein Boot mit zwei weiblichen Gestalten, beleuchtet von Fackeln, hervor nach der Stelle, wo eben noch die Arme des Verschlungenen sich emporstreckten. Die eine weibliche Gestalt ist jung, schön, kräftig. So steht sie im Boote, halb nackt, nur mit Hemd und Unterrock bekleidet. Sie stürzt sich in die Fluth und verschwindet. Die andere weibliche Gestalt biegt sich über den Rand des Bootes halb hinunter, gehalten von Männern. Man sieht Taue sich schlängeln, auf den Wogen hintanzen. Ringsum ist die Menschenmasse todtenstill. Endlich tauchen die beiden Frauengestalten wieder empor. Die junge erhebt sich triefend und schreit mit fester, klarer, durchdringender Stimme einen Befehl nach dem Ufer, einen andern nach Booten in ihrer Nähe, dann ein schrilles „Now!“ Die Boote rudern, Taue spannen sich. Am Ufer Pferdegetrappel. Sie ziehen. Ein Tau spannt sich bis hinüber. Ein Ruck – und der von Wogen Verschlungene wird, auf der Oberfläche hingezogen, sichtbar.

„Halt!“

Er wird in das Boot gehoben. – Er lebt!

Dämonisches Freudengeschrei. Im nächsten Hause am Ufer wird der Fuß untersucht. Er ist zerquetscht und zerschunden, aber heilbar. Der Capitain blickt zuerst mit Bewußtsein in die Augen seiner Braut. Sie – und die Barmherzige, in deren Händen sie sein Taschentuch erkannt hatte, – zwei Mädchen – haben ihn gerettet. Erstere – die Schöpferin und Leiterin des Planes – war hinuntergestiegen, um das Tau für zwei Pferde unter seinem Kniee zu befestigen, Letztere, ein anderes um Brust und Arme, für die Leute in den Booten, zu schlingen. Es war das einzige und letzte Mittel noch. Im Wasser hatte sich die Geschwulst etwas gesetzt; der kräftige Anzug der beiden Pferde, das Heben und Ziehen der Bootsleute thaten das Uebrige – der Capitain war gerettet.

Ein einfaches Mädchen hatte erdacht und vollbracht, was den Hunderten der Umstehenden unmöglich erschienen war.

H. B.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_027.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)