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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Scybylski athmete tief auf. „Ganz richtig,“ sagte er; „ganz richtig, das Testament.“

„O,“ fuhr sie mit lauter Stimme fort und behielt den Verlegenen im Auge; „das vermuthet die Menge, aber Klügere vermuthen Anderes. Kluge Leute lassen sich nicht täuschen. In des Rendanten Verhältnissen ist ein Testament sehr überflüssig!“

„Erlauben Sie mir, Frau Superintendentin, ein Testament –“

„Keine juristischen Flausen, lieber Scybylski! Es handelt sich um kein Testament! Können Sie mir frei in’s Auge blicken und behaupten, daß es diese Angelegenheit betraf?“

„Welche andere denn?“ preßte der Gefolterte mit neuer Bestürzung heraus.

„Es könnte sich ja auch …“ sagte die Superintendentin mit stockender Stimme, und plötzlich blitzte ihr ein Gedanke auf, „es könnte sich ja auch um Unterschlagung handeln!“

„Wer sagte Ihnen!?“ rief der erblaßte Schreiber und sprang empor, daß hinter ihm der Stuhl zur Erde fiel.

„Also doch – Unterschlagung! Der Gedanke, der wahnsinnige Gedanke ist richtig? Rendant Günther – der Ehrenmann – ein Schurke!“

„Um Himmelswillen! Nein! Gnädige Frau, ich beschwöre – ich bitte, sprechen Sie nicht so laut!“

„Verhüllen, verleugnen Sie mir nichts mehr! Amanda, das leichtsinnige, thörichte Mädchen ist schuld, daß ich es entdecken mußte. Doch nein – Gott hat gewollt, daß ich das Unheil erfahre. Sagen Sie mir Alles! Ich, die künftige Schwiegermutter, habe ein Recht, es zu wissen. Ihr müßt mir’s sagen, oder ich schreie meine Vermuthung in alle Welt hinaus.“

Scybylski schlug stöhnend die Hände über sein Gesicht zusammen. „Ich dachte mir’s wohl,“ bebte er, „daß es nicht verborgen bleiben könne, daß sich die Schuld rächen werde. O, wenn Sie wüßten, welche Qualen ich unter der Last dieses Geheimnisses litt! Ihnen ist es bekannt, wie ich den Rendanten verehrte, wie ich ihn liebte. Ein Sohn konnte nicht felsenfester auf ihn vertrauen. Wir Alle haben auf ihn vertraut, der Gerichtsrath, der Kreisrichter; wir Alle wurden von ihm getäuscht. Wer mir vor vier Wochen gesagt hätte: der Rendant betrügt! dem hätte ich in’s Gesicht geschlagen, als einem niedrigen, verleumderischen Schurken. Ich nannte mich selbst einen verworrenen Dummkopf, einen leichtfertigen Lügner, als ich nach seiner Erkrankung Günther’s Geschäfte übernahm, seine Bücher revidirte und die Bücher gefälscht fand. Eine ganze Nacht saß ich darüber. Ich zweifelte, ob 5 und 2 sieben sei oder 7 von 22 nur 5 bleiben. Ich nahm sieben Stücke Geld und zählte sie; die vier Species schienen mir keine Wahrheit mehr! … Noch am Morgen wollte ich mich überreden, daß ein Fieber mir die Klarheit geraubt und meine Sinne verwirrt hätte. Ohne ein Wort zu äußern, legte ich die Bücher dem Gerichtsrath vor und erst, als auch er erblaßte, erst da gestand ich mir’s: Hier hat ein Mann das ihm anvertraute Gut und tausend Arme bestohlen. – O, was sind wir Menschen! Dieser Mann, liebenswürdig, gebildet, gutmüthig, kein Verschwender, kein Spieler, kein Müßiggänger: dieser Mann übt sieben Jahre hindurch mit sicherer Hand und raffinirter Schlauheit Betrug! Sieben Jahre hindurch nimmt er das Geld von den Armen und der Gemeinde und giebt es nicht in die Casse; nimmt er aus der Casse Geld und giebt es nicht der Gemeinde, nicht den Armen. Das rücksichtslose Vertrauen seines Vorgesetzten, der aus Herzensgüte und Menschenzuversicht die Strenge seines Amtes umgeht und den Rendanten allein und ohne Aufsicht walten läßt, täuscht er; sieben Jahre lang war Günther ein Fälscher und Dieb, und ohne seine Miene zu ändern, nahm er das Lob und die Achtung einer ganzen Stadt hin!“

Scybylski schwieg, denn der Schmerz überkam ihn zu mächtig. Dann erhob er sich. „Wir haben,“ sagte er, „trotzdem mit dem Manne Mitleiden fühlen müssen, schon um seines Kindes willen. Der Gerichtsrath und Kreisrichter wollen die fehlende Summe, die sich auf mehrere Tausend Thaler beläuft, theils vom benachbarten Fürsten, theils von der Loge, deren Bruder Günther ist, erheben und das Deficit decken. Niemand soll es erfahren. Günther kann seine Krankheit zum Vorwand nehmen, um seinen Abschied zu erlangen. Gestern theilten wir ihm unsere traurige Entdeckung mit, die er natürlich nicht zu leugnen vermochte. Wir richteten den Verzweiflungsvollen durch das Gelöbniß auf, sein Verbrechen Niemand zu verrathen. Zu unserer eigenen Beruhigung und Sicherstellung unserer Amtsehre ließen wir ihn ein Document unterzeichnen, worin er seine Schuld bekennt. Amanda unterbrach uns, als er eben die Feder ansetzte … das arme, ahnungslose Kind! – Frau Superintendenten, es war meine unselige Schwäche, die Folge meiner Aufregung, daß Sie Mitwisserin wurden! Sie werden aus Barmherzigkeit mit dem Kinde, Sie werden um Ihres eigenen Sohnes willen das Geheimniß gegen Alle, selbst gegen Herrn Reinhold, verschweigen und als ein Geheimniß in’s Grab nehmen!“ –

Er ging; sie erhob sich nicht bei seinem Weggehen, sondern starrte nach immer auf die Stelle, wo er gesessen und ihr die grausame Wahrheit mitgetheilt hatte. Dann plötzlich fuhr sie empor, eilte zum Crucifix und warf sich auf dem Betpult ihres Sohnes nieder. „Heiliger, gerechter Gott!“ rief sie, die Hände emporstreckend, „Du hast mein Haupt vor Entehrung, hast die Familie, welche Dir treu diente, vor unauslöschlicher Schande bewahrt. Du hast die Entdeckung gewollt, Du hast mich gewarnt – ich darf nicht schweigen! – Ich kann meinen Sohn nicht zum Bruch seines Versprechens zwingen, ohne ihm die Wahrheit zu sagen; er kann sich von seinem Schwur nicht lösen, ohne der Welt die Wahrheit zu sagen. Du willst nicht, Herr, daß Deiner Gerechten Einer um einen Schurken leide. Ich muß den Menschen die Augen öffnen über den Betrug, der an ihnen verübt wurde und noch wird.“ Damit erhob sie sich, fest und mit gereiftem Entschluß. –

Reinhold aber schritt in behaglicher Gemächlichkeit auf dem Weg nach Hause. Die Fürstin hatte ihm viel Verbindliches über seine Predigt gesagt. Er war in gehobener, freudiger Stimmung. Wie ruhevoll und stattlich lag hinter den Lindenbäumen das Pfarrhaus! Der junge Priester konnte nicht umhin, vor seinem Eintritt einen dankbaren Blick zum Himmel auszusenden, der ihn mit seltenem Glück überschüttet hat, denn es ward ihm bei äußerem Wohlstand ein heiliger Beruf, dem er mit Begeisterung anhängt, eine schöne, geliebte Braut, und als Zeugin seines Glücks lebt ihm noch in voller Gesundheit die Mutter.

„Glauben Sie,“ sprach er zu dieser, als Beide wenige Minuten nach Reinhold’s Heimkehr beim Mittagsmahl saßen. „daß ich der Vorbereitung zu meinen Predigten kaum bedürfte. Sobald ich die Kanzel betrete und mein Auge auf Sie, auf Amanda fällt, bin ich von der Güte und Liebe Gottes so durchdrungen, daß die Worte sich von selbst fügen, ja, daß mir die Stunde nicht genügt, meiner Gemeinde das zu sagen, was mich im Innersten so schön bewegt. Wohl glaube ich vom Himmel mehr als Viele begünstigt zu sein, aber auch nirgends finde ich unglückliche Verhältnisse, ohne die Spur eines ursprünglich weisen Planes, der zum Glück führte, wenn nicht die Menschen ihn durch eigene Schuld verwirrten!“

Die Mutter schwieg. Hatte sie vorher die traurige Mittheilung beabsichtigt, so wagte sie jetzt doch nicht, eine gottselige Stimmung durch den entsetzlichen Mißton zu entweihen. „Ich kann nicht!“ rief das Muttergefühl in ihr, „ich kann es nicht über die Lippen bringen; mag er das Unheil von Andern erfahren!“

Nach der Mahlzeit verabschiedete sie sich daher vom Sohn, um einige Freundinnen zu besuchen. Sie kannte die Welt und kannte die Macht der Fama.


Kaum zwei Stunden waren vergangen, so wußte vom Verbrechen des Rendanten der reichste und ärmste Bürger. In allen Kreisen tönte die Kunde: Günther hat seine Casse bestohlen! und wer sie hörte, ward erschüttert. In den Sälen des benachbarten Schlosses, in Wirthsstuben, Küchen und Ställen der Stadt flüstert man, ringt man die Hände. Auf den Straßen hält man sich an und raunt sich’s zu, zweifelt eine Secunde, um dann desto fester zu glauben. Vieler Jahre hat es bedurft, den Ruf Günther’s so stolz und in Aller Herzen zu begründen, eine Stunde genügt, ihn zu stürzen. Das ist ein schwerer Schlag für gute und ehrliche Gemüther, das ist ein Fest für die bösen Zungen! – –

In der Gesellschaftsstube des Gerichtsrathes sitzt ein Kreis von älteren Damen und Herren um den Kaffeetisch. Die junge Welt schäkert und plaudert in traulichen Ecken und Fensternischen. Da wird die Thür aufgerissen; mit hochrothem Antlitz stürzt die fürstliche Räthin, eine geschworene Feindin der königlichen Rathsgattin, in’s Zimmer. „Wissen Sie das Neueste?“ ruft sie. „Der Rendant Günther hat in sieben Jahren die Summe von achttausend Thalern unterschlagen.“

Alles fährt empor.

„Um Gottes willen, schweigen Sie!“ bebt der Herr des Hauses, ein würdiger, edel gesinnter Mann. Aber es ist zu spät.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_034.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)